»Die Milch, die sie abends trank? Sie stammte von der Nachmittagslieferung, Sir. Der Junge stellte sie um vier Uhr vor die Tur. Aber dafur lege ich meine Hand ins Feuer, da? die Milch nicht verdorben oder mit einem Gift vermischt war, denn ich habe heute fruh einen Schu? in meinen Tee geschuttet. Und au?erdem sagte der Doktor ausdrucklich, da? Miss Adams das gefahrliche Zeug selbst eingenommen habe.«
»Ich will mich mit dem Doktor in Verbindung setzen, Miss Bennett. Vielleicht befinde ich mich auf einer falschen Fahrte. Aber sehen Sie, Miss Adams hatte Feinde. In Amerika liegen die Dinge anders als bei uns ...«
Er zogerte, doch die gute Alice bi? eiligst an dem hingeworfenen Koder an.
»Oh, das wei? ich, Sir. Von Chicago und der dortigen Verbrecherwelt habe ich gelesen. Es mu? ein gottloses Land sein und die dortige Polizei keinen Pfifferling wert. Nicht zu vergleichen mit der unsrigen!«
Poirot widersprach diesem Werturteil nicht, da er sich sagte, da? Alice Bennetts insularer Stolz ihn der Sorge weiterer Erklarungen enthob. Sein Blick fiel auf ein kleines Stadt-kofferchen, das auf einem Stuhl lag.
»Hatte Miss Adams es bei sich, als sie gestern abend fortging?«
»Morgens nahm sie es mit, Sir. Zum Nachmittagstee kam sie ohne den Koffer zuruck, aber nachts brachte sie ihn wieder mit.«
»Gestatten Sie, da? ich ihn offne?«
Alles wurde Alice Bennett gestattet haben. Wie die meisten vorsichtigen und argwohnischen Frauen war sie weiches Wachs, sobald sich ihr Mi?trauen gelegt hatte.
Das Kofferchen war nicht verschlossen. Neugierig ging ich naher heran und spahte uber Poirots Schulter.
»Sehen Sie, Hastings?« murmelte er, fast heiser vor Erregung.
Der Inhalt freilich rechtfertigte sie.
Da drinnen lag eine Schachtel mit Schminkmaterial, ferner zwei seltsame Gegenstande, die ich als Schuheinlagen erkannte, bestimmt, den Wuchs ihres Tragers um einen Zoll oder mehr zu erhohen. Da lagen ein Paar graue Handschuhe und - in Seidenpapier eingehullt - eine hervorragend gearbeitete goldhaarige Perucke, in demselben Goldton wie Jane Wilkinsons Haar und genau wie dieses in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu Lockchen geordnet.
»Zweifeln Sie noch, Hastings?«
Nein, ich zweifelte nicht langer .
Poirot schlo? den Deckel und wandte sich an die Frau.
»Wissen Sie, mit wem Miss Adams gestern abend speiste?«
»Nein, Sir.«
»Oder mit wem sie den Lunch einnahm?«
»Ich glaube mit Miss Driver.«
»Miss Driver?«
»Ja, ihre beste Freundin. Sie hat einen Hutsalon in Moffat Street, die von Bond Street abzweigt. Genevieve ist der Firmenname.«
Mein Freund vermerkte die Adresse in seinem Notizbuch, gleich unter dem Namen und der Wohnung des Arztes.
»Nun noch eins, Miss Bennett, und ich flehe Sie an, gut nachzudenken: Erinnern Sie sich an irgend etwas - was es auch sei -, das Miss Adams bei ihrer Heimkehr um sechs sagte oder tat und das von ihren gewohnlichen Gepflogenheiten abwich?«
Die Frau dachte angestrengt nach.
»Nein, Sir«, erwiderte sie endlich. »Als sie heimkehrte, setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb Briefe.«
»Briefe, eh .? Wissen Sie, an wen?«
»Ja, Sir. Es war nur ein einziger Brief - an ihre Schwester in Washington, der sie regelma?ig zweimal wochentlich schrieb. Miss Adams nahm ihn mit sich, damit er den Dampfer noch erreichen sollte, aber sie verga?, ihn zu befordern.«
»Dann ist er noch hier?«
»Nein, Sir. Gerade als sie gestern nacht ins Bett schlupfte, erinnerte sie sich seiner. Ich erbot mich, mit ihm hinunterzulaufen und ihn zum Postamt zu bringen.«
»Ah . liegt das weit fort?«
»Im Gegenteil, ganz nah. Nur um die Ecke herum.«
»Hatten Sie die Wohnungstur hinter sich abgeschlossen?«
Alice Bennett sah meinen Freund verblufft an.
»Abgeschlossen? Fur den kurzen Sprung zur Post? Aber nein, Sir! Ich schlie?e niemals ab, wenn ich zur Post laufe.«
Poirot schien noch etwas fragen zu wollen, doch dann zahmte er seine Wi?begier.
»Wollen die Herren sie nicht ansehen?« schlug die Frau weinend vor. »Sie sieht so schon, so friedlich aus.«
Wir folgten ihr bereitwillig ins Schlafzimmer.
Der Tod hatte Carlotta Adams um Jahre verjungt; sie glich eher einem muden Kind, das vom Schlaf uberrascht worden ist, als jener Frau, der wir im Savoy begegnet waren.
Ein feierlicher Ernst breitete sich uber Poirots Gesicht, als er auf die leblose Gestalt hinabschaute, und ich gewahrte, wie er das Kreuzzeichen schlug.
»Ich habe ein Gelubde getan, Hastings«, sagte er, wahrend wir die Treppen hinabstiegen. Und ein paar Minuten spater fugte er hinzu: »Von einer Last ist mein Gewissen wenigstens befreit worden: Ich hatte sie nicht retten konnen. Zu der Stunde, als ich die Kunde von Lord Edgwares Ermordung erhielt, war sie bereits tot. Das trostet mich. Ja, das trostet mich sogar sehr.«
Unser nachster Gang galt dem Arzt, dessen Adresse uns Miss Bennett gegeben hatte.
Es trat uns ein geschaftiger alterer Mann entgegen, der Hercule Poirot dem Namen nach kannte und seinem lebhaften Vergnugen Ausdruck verlieh, ihn in Fleisch und Blut vor sich zu sehen.
»Und womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur Poirot?« erkundigte er sich nach dieser schmeichelhaften Einleitung.
»Sie wurden heute morgen zu Miss Carlotta Adams gerufen.«
»Ah, ja. Das arme Kind! Und eine begabte Kunstlerin au?erdem. Ich habe zwei ihrer Vorstellungen besucht und mu? sagen, da? es ein Jammer ist, wie sie endete. Warum diese Madels immer auf irgendwelche Gifte verfallen, ist mir unverstandlich.«
»Sie meinen also, da? sie dem Rauschgiftlaster huldigte?«
»Tja, Monsieur Poirot, das ist eine Gewissensfrage. Als Fachmann kann ich Ihnen das eine versichern, da? sie keine Spritze gebrauchte, denn trotz genauester Untersuchung fand ich am ganzen Korper nicht einen einzigen Einstichpunkt. Doch sie mag sich die Gifte ja immer durch den Mund zugefuhrt haben. Die Frau sagte mir zwar, da? Miss Adams von Natur aus einen gesunden Schlaf habe, aber darf man auf die Aussage von Angestellten bauen ...? Ich selbst bin allerdings auch nicht der Ansicht, da? sie jede Nacht Veronal nahm, wenngleich sie es offenbar geraume Zeit genommen hat.«
»Woraus schlie?en Sie das?«
»Hieraus . verdammt, wo habe ich das Ding hingetan?« Er wuhlte in einem kleinen Kasten, der wahrscheinlich arztliche Instrumente enthielt, und forderte endlich ein Handtaschchen aus schwarzem Saffianleder ans Tageslicht.
»Da ich vermutete, da? eine Untersuchung eingeleitet werden wird, nahm ich es an mich, damit die Angestellte es nicht mit vorwitzigen Fingern durchkramt.«
Wahrend dieser Erklarung holte er aus dem Taschchen eine zierliche Golddose hervor, die in Rubin die Initialen C. A. trug. Ein kostbares Luxusstuck! Der Doktor lie? den Deckel aufspringen, so da? der Inhalt sichtbar wurde.
»Veronal«, erlauterte er kurz, auf das wei?e Pulver weisend. »Nun lesen Sie, was hier geschrieben steht.«
Und auf der Innenseite des Deckels war eingraviert: