C. A. von D. Paris, 10. November. Su?e Traume

»10. November«, wiederholte Poirot nachdenklich.

»Jawohl, und jetzt schreiben wir Juni. Das deutet darauf hin, da? sie sechs Monate dies schauderhafte Zeug geschluckt hat, und da die Jahreszahl fehlt, konnen es gut und gern auch achtzehn Monate oder zwei und ein halbes Jahr oder noch mehr gewesen sein.«

»Paris . D«, murmelte mein Freund.

»Ja. Sagt Ihnen das was? Ubrigens habe ich Sie gar nicht gefragt, welches Interesse Sie an dem Fall nehmen, Monsieur Poirot. Mochten Sie wissen, ob Selbstmord vorliegt ...? Nun, ich vermag es Ihnen nicht zu verraten. Niemand vermag es. Wenn wir der Frau Glauben schenken, so war Miss Adams gestern sehr lustig aufgelegt. Das la?t auf einen Unfall schlie?en. Und nach meiner personlichen Uberzeugung ist es auch ein Unfall gewesen. Veronal ist ein hochst unzuverlassiges Mittel. Sie konnen einen Haufen davon verspeisen, ohne da? es Sie totet, und andererseits wieder genugt eine winzige Menge, damit Sie zu Ihren Vatern versammelt werden. Darin liegt eben auch seine besondere Gefahrlichkeit .«

»Darf ich mir das Taschchen Mademoiselles naher ansehen?«

»Gewi?, gewi?.«

Poirot schuttete den Inhalt auf die Tischplatte: ein feines Leinentaschentuch mit den Buchstaben C. M. A. in einer Ecke, eine Puderquaste, ein Lippenstift, eine Pfundnote und etwas Wechselgeld, dazu ein Kneifer.

Diesem letzteren widmete Hercule Poirot besondere Sorgfalt.

Mit seiner goldenen Fassung und dem hohen geschwungenen Goldbugel wirkte er ein wenig altmodisch.

»Seltsam! Ich wu?te nicht, da? Miss Adams ein Augenglas trug«, wunderte sich mein Freund. »Vielleicht nur zum Lesen?«

Der Doktor nahm ihm den Kneifer aus der Hand.

»Nein, die Glaser sind im Gegenteil fur drau?en bestimmt, und ziemlich scharf sind sie obendrein. Die Person, der sie gehoren, mu? sehr kurzsichtig sein.«

»Ist Ihnen bekannt, ob Miss Adams .«

»Ich habe sie nie vorher behandelt, Monsieur Poirot; nur einmal wurde ich wegen eines Fingergeschwurs der Angestellten gerufen. Bei dieser Gelegenheit bekam ich Miss Adams kurz zu Gesicht, und ich erinnere mich, da? sie damals kein Augenglas trug.«

Poirot dankte dem Doktor, und wir brachen auf.

Ich sah, wie mein Freund nervos an seiner Unterlippe nagte.

»Sollte ich mich also geirrt haben?« murmelte er.

»In bezug auf den Verkleidungsbetrug?«

»Non, non, mon cher. Den mussen wir als bewiesen betrachten. Ich meinte in bezug auf ihren Tod. Jetzt, da ich wei?, da? sie uber Veronal verfugte, darf ich nicht die Moglichkeit bestreiten, da? sie gestern abend nervos und ubermudet war und Sehnsucht verspurte, den starkenden Schlaf sicher und schnell herbeizuzaubern.«

Dann blieb er plotzlich wie angewurzelt stehen - zur gro?en Uberraschung der Vorubergehenden - und schlug heftig mit der einen Hand auf die andere.

»Nein, nein und abermals nein! Warum sollte sich dieser Unfall zu solch gelegener Stunde ereignen? Es war kein Unfall. Und es war auch kein Selbstmord. Nein, als sie ihre Rolle spielte, unterzeichnete sie gleichzeitig ihr Todesurteil. Dem Veronal hat man einfach deshalb den Vorzug gegeben, weil bekannt war, da? sie es gelegentlich nahm und da? sie jene Golddose besa?. Aber dann mu? der Morder uber ihre Gewohnheiten sehr unterrichtet gewesen sein. Wer ist D., Hastings? Sagen Sie mir, wer ist D.?«

»Poirot«, mahnte ich, als er noch immer wie eine Bildsaule auf demselben Fleck verharrte, »wollen wir nicht lieber weitergehen? Uberall starren schon neugierige Augen.«

»Eh? Ach so, weitergehen - nun meinetwegen, obwohl es mich nicht im mindesten belastigt, wenn die Leute starren. Es beeintrachtigt auch meine Gedankenarbeit nicht.«

»Poirot, man beginnt schon zu lacheln.«

»Was tut's?«

Ich stimmte hierin nicht mit ihm uberein. Von jeher habe ich einen Abscheu davor gehabt aufzufallen. Aber das einzige, was Poirot aus dem Gleichgewicht wirft, ist die Moglichkeit, da? sein beruhmter Schnurrbart leiden konne.

»Wir wollen ein Taxi nehmen«, raffte mein Freund sich endlich auf. Und gleich darauf gab er einem Chauffeur Anweisung, uns in die Moffat Street zu fahren.

Der Hutsalon Genevieve gehorte zu jenen gewerblichen Unternehmungen, bei denen ein Glaskasten neben der Haustur einen unauffalligen Hut und einen Schal zeigt, wahrend der eigentliche Betrieb im ersten Stock liegt, zu dem man auf einer muffigen Treppe emporklimmt.

Als auch wir die ausgetretenen Stufen hochgestiegen waren, befanden wir uns vor einer Tur mit der Aufschrift »Genevieve« und der Aufforderung »Herein, ohne anzuklopfen«, welche Weisung wir befolgten. Hierauf standen wir in einem mit Huten gefullten kleinen Raum, bis ein stattliches blondes Geschopf uns nach unserem Begehr fragte.

»Miss Driver?«

»Ich wei? nicht, ob Madame Sie empfangen kann. Worum handelt es sich bitte?«

»Sagen Sie Miss Driver, da? ein Freund von Miss Adams sie sprechen mochte.«

Aber die blonde Schonheit brauchte diesen Auftrag nicht auszufuhren, weil ein schwarzer Samtvorhang in heftige Schwingungen geriet und eine quecksilbrige Dame mit flammendrotem Haar hinter ihm hervorscho?.

»Was hore ich da?«

»Habe ich die Ehre, Miss Driver vor mir zu sehen?«

»Ja. Was ist mit Carlotta?«

»Sie wissen von dem traurigen Vorfall noch nichts?«

»Trauriger Vorfall? Nun sprechen Sie doch endlich!«

»Miss Adams schlief infolge einer Uberdosis Veronal gestern nacht fur immer ein.«

»Wie ...?« Das junge Madchen ri? entsetzt die Augen auf. »Tot? Carlotta tot, die noch gestern abend so voller Leben war?«

»Es schmerzt mich, da? ich der Uberbringer einer solchen Schreckensbotschaft sein mu?, Mademoiselle«, entgegnete Poirot. »Sehen Sie, es ist gerade ein Uhr. Wollen Sie mir und meinem Freund das Vergnugen bereiten, mit uns zu lunchen? Ich mochte Ihnen namlich verschiedene Fragen vorlegen.«

Die junge Dame betrachtete ihn prufend vom Scheitel bis zu Sohle. Sie war sicher ein kampflustiges kleines Wesen, und irgendwie erinnerte sie mich an einen aufgeweckten Foxterrier.

»Wer sind Sie denn eigentlich?« fragte sie unverblumt.

»Mein Name ist Hercule Poirot, und dies ist mein Freund Hauptmann Hastings.«

Ich verbeugte mich.

Ihre Blicke wanderten zwischen uns beiden hin und her.

»Ich habe von Ihnen gehort. Gut, ich werde mitkommen.« Dann rief sie der Blonden zu: »Dorothy, Mrs. Lester beabsichtigt, wegen des Rose-Descartes-Modellhutes, den wir fur sie arbeiten, vorzusprechen. Bitte, probieren Sie die verschiedenen Federn aus. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen. Ich bleibe nicht allzulange fort.«

Sie ri? einen kleinen schwarzen Hut vom Stander, druckte ihn sich schief auf das eine Ohr, puderte wutend ihre Nase und blickte dann Poirot an.

»Fertig!«

Funf Minuten spater sa?en wir in einem ruhigen Restaurant in Dover Street, und jeder von uns hatte einen Cocktail vor sich.

»So, und nun heraus mit der Sprache«, sagte Jenny Driver. »Worin hat sich Carlotta verwickeln lassen?«

»Sie hat sich also in etwas verwickeln lassen, Mademoiselle?«

»Wer fragt hier nun eigentlich, Sie oder ich, Monsieur Poirot?«

»Wenn es Ihnen recht ist - ich, Mademoiselle«, gab mein Freund lachelnd zur Antwort. »Nicht wahr, es verband Sie mit Miss Adams eine enge Freundschaft?«

»Richtig.«

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