Abermals lenkten wir unsere Schritte zum Savoy, wo wir die Kunstlerin umgeben von Schachteln und Kartons und Seidenpapier vorfanden, wahrend uber der Lehne jedes Sessels, jedes Stuhls sich kostbare schwarze Gewander ausbreiteten. Jane probierte mit einem wichtigen, verzuckten Ausdruck gerade einen anderen schwarzen Hut vor dem Spiegel an.
»Oh, Monsieur Poirot ...? Nehmen Sie Platz. Das hei?t, wenn Sie einen freien Platz finden! Ellis, rasch, mach bitte mal zwei Stuhle leer.«
»Madame, Sie sehen bezaubernd aus!«
Jane betrachtete ausgiebig ihr Spiegelbild.
»Ich will nicht richtig den Heuchler spielen, Monsieur Poirot, jedoch man mu? einen gewissen Anschein wahren, nicht . ?
Ubrigens habe ich das reizendste, entzuckendste Telegramm vom Herzog erhalten.«
»Aus Paris?«
»Ja, aus Paris. Naturlich mit der notigen Vorsicht abgefa?t, so da? es fur Fremde wie Beileidsworte klingt, immerhin aber so gehalten, da? ich zwischen den Zeilen lesen kann.«
»Meine ergebenen Gluckwunsche, Madame.«
»Monsieur Poirot.« Sie faltete die Hande, dampfte die Stimme. Wie ein Engel, der im Begriff steht, Gedanken hehrster Heiligkeit zu verkunden, sah sie aus. »Je mehr ich nachdenke, desto mehr erscheint mir das Ganze wie ein Wunder. Hier stehe ich, erlost von allen Sorgen. Keine langweilige, unangenehme Scheidung. Keine Scherereien. Glatt und eben liegt mein Weg vor mir. Wissen Sie, es durchstromt mich beinahe ein Gefuhl frommer Dankbarkeit.«
Ich hielt vor Staunen und Entsetzen den Atem an, und Poirot betrachtete die schone Sprecherin, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. »Die Sachlage behagt Ihnen, wie, Madame?«
»Ja, es hat sich alles trefflich fur mich gefugt«, wisperte Jane mit scheuer Ehrfurcht. »In letzter Zeit habe ich so haufig gedacht: wenn Edgware doch nur sturbe! . Und eins, zwei, drei, ist er tot! Man konnte beinahe meinen, es sei eine Antwort auf mein Gebet.«
Poirot mu?te seine Kehle durch ein Rauspern frei machen, ehe er sagte: »Leider kann ich nicht behaupten, da? ich die Dinge im gleichen Licht sehe, Madame. Irgend jemand totete Ihren Gatten.«
»Naturlich«, gab sie unumwunden zu.
»Haben Sie noch nicht einmal daruber nachgedacht, wer wohl der Morder gewesen ist?«
Ihre blauen Augen ruhten in heller Verwunderung auf Poirots Gesicht.
»Was geht das mich an .? In vier oder funf Monaten konnen der Herzog und ich getraut werden .«
Mit Muhe nur bewahrte mein Freund seine Selbstbeherrschung.
»Das wei? ich, Madame. Aber davon abgesehen: Haben Sie sich nie die Frage vorgelegt, durch wessen Hand Ihr Gatte starb?«
»Nein.« Sie blickte nachdenklich auf den Hut in ihrer Hand, ganz uberrascht durch Poirots Zumutung. »Nein, wirklich nicht.«
»Interessiert es Sie denn nicht, es zu erfahren?«
»Ehrlich gestanden, nicht allzusehr. Vermutlich wird die Polizei den Tater uber kurz oder lang erwischen; sie soll ja sehr findig sein.«
»Auch ich werde meinen Ehrgeiz daran setzen, findig zu sein, Madame.«
»Sie auch? Wie drollig!«
»Warum drollig?«
»Gott ... ich wei? eigentlich nicht.« Ihre Augen wanderten zu den Kleidern zuruck. Dann griff sie nach einem seidenen Mantel, streifte ihn uber und musterte sich im Spiegel.
»Sie haben doch nichts dagegen, eh?« fragte Poirot, und seine Augen zwinkerten neckend.
»Bewahre, Monsieur Poirot. Ich wurde mich sogar freuen, wenn Sie Ihre englischen Kollegen an Findigkeit ubertrumpfen. Ich wunsche Ihnen jeden Erfolg.«
»Madame, ich brauche mehr als Ihre Wunsche. Ich brauche Ihre Meinung.«
»Meinung?« plapperte Jane, die zur Begutachtung des Mantelruckens den Kopf weit uber die Schulter reckte, ihm zerstreut nach. »Woruber?« »Wen halten Sie fur den mutma?lichen Morder Lord Edgwares?«
»Keine Ahnung.«
Jetzt nahm sie auch noch den Handspiegel zu Hilfe und bewegte probeweise die Schultern.
»Madame!« rief Poirot mit erhobener Stimme. »Wen halten Sie fur den Morder Ihres Gatten?«
Und infolge dieses lauten Tones lie? sie einen Augenblick von ihren Kleidern ab.
»Wen? Geraldine«, meinte sie.
»Wer ist Geraldine?«
Aber die Aufmerksamkeit von Lord Edgwares Witwe hatte sich bereits wieder verfluchtigt.
»Ellis, heb den Mantel an der rechten Schulter ein wenig. So. Wie, Monsieur Poirot? Geraldine ist seine Tochter . Nein, Ellis, die rechte Schulter. Ja, ja, so wird es besser. Oh, mussen Sie schon gehen, Monsieur Poirot? Ich bin Ihnen unendlich dankbar fur alles - ich meine fur die Scheidung, selbst wenn sie sich nach den letzten Ereignissen erubrigt hat. Nie werde ich den Dienst, den Sie mir geleistet haben, vergessen.«
Nur zweimal noch sah ich Jane Wilkinson wieder. Einmal auf der Buhne, und einmal, als ich ihr bei einer Einladung zum Lunch gegenubersa?. Aber wenn ich an sie denke, erscheint vor meinen Augen immer jene Frau aus dem Savoy, die - mit Herz und Seele bei den Kleidern, mit dem Verstand ungeschmalert bei ihrer eigenen Person - nachlassig Worte hinwarf, die Poirots weitere Handlungen bestimmten.
»Epatant!« sagte mein Freund mit staunendem Respekt, als wir aus dem Hotelportal traten.
Als wir unser Wohnzimmer betraten, leuchtete auf der polierten Tischplatte das wei?e Viereck eines Briefes. Poirot nahm ihn, schlitzte ihn mit der ihm eigenen Sorgfalt auf und lachte. »Wenn man vom Teufel spricht ... Sehen Sie, Hastings.« Der Brief war in einer uberaus steilen charakteristischen Handschrift geschrieben, die den Eindruck erweckte, als sei sie sehr leicht leserlich, und sich merkwurdigerweise als ziemlich unleserlich erwies.
Sehr geehrter Herr!
Ich horte, da? Sie heute morgen mit dem Inspektor im Hause weilten, und bedauere au?erordentlich, Sie nicht gesprochen zu haben. Wenn Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch genommen ist, schenken Sie mir bitte heute nachmittag ein paar Minuten.
Ergebenst
Geraldine Marsh
»Sonderbar, da? sie eine Unterredung mit Ihnen wunscht!« meinte ich.
»So? Sie finden das sonderbar? Nun, allzu hoflich sind Sie gerade nicht, mon ami.«
Hercule Poirot hat die aufreizende Angewohnheit, immer zur unrechten Stunde zu scherzen.
»Wir werden uns sofort auf die Beine machen, Hastings«, befahl er und stulpte, nachdem er zartlich ein eingebildetes Staubkornchen von dem Filz entfernt hatte, seinen Hut auf den Kopf. Jane Wilkinsons leichtfertige Mutma?ung, da? Geraldine ihren Vater getotet haben konne, dunkte mich ebenso abgeschmackt wie widersinnig. Lediglich ein vollkommen hirnloser Mensch vermochte sie zu au?ern. Doch als ich meine Ansicht Poirot anvertraute, fertigte er mich unwirsch ab.
»Hirn, Hirn. Was versteht man darunter wirklich? In Ihrer Sprache, mein guter Hastings, besagt es, da? Jane Wilkinson das Hirn eines Kaninchens hat. Das ist eine Formel der Herabsetzung, der Verachtung. Doch betrachten Sie sich einmal das Kaninchen. Es lebt und vermehrt sich, was in der Natur geistige Uberlegenheit bedeutet. Die entzuckende Lady Edgware wei? sicher weder in der Geschichte noch in der Geographie oder in den Klassikern Bescheid. Hinter dem Namen Lao Tse wurde sie ein preisgekrontes Pekinghundchen vermuten, hinter dem Namen Moliere ein Pariser Modellhaus. Aber wenn es sich darum handelt, geschmackvolle Kleider auszuwahlen, reiche und vorteilhafte Heiraten zu machen und sich durchzusetzen -dann ist ihr Erfolg phanomenal. Sans doute, phenomenal! Eines Philosophen Ansicht daruber, wer Lord Edgware ermordete, wurde ich fur wertlos erachten; doch Jane Wilkinsons unuberlegte Meinung konnte mir allenfalls Nutzen bringen, weil ihr Standpunkt materialistisch ist und auf einer Kenntnis der schlimmsten Seite der menschlichen Natur beruht.«
»Vielleicht liegt in Ihren Ausfuhrungen ein Kornchen Wahrheit«, gestand ich zu.
»Nous voici«, sagte Hercule Poirot. »Ich bin neugierig, warum die junge Dame mich so dringend zu sehen begehrt.«