»Es ist ein sehr naturlicher Wunsch«, erwiderte ich, den Spie? umdrehend. »Wenigstens behaupteten Sie dies vor einer Viertelstunde. Der naturliche Wunsch, eine einzigartige Personlichkeit aus nachster Nahe zu beaugen.«

»Pah, mein Freund! Vielleicht sind Sie es gewesen, der bei unserem allerersten Besuch in diesem Haus einen solch unausloschlichen Eindruck auf sie gemacht hat!« hanselte mein Freund und druckte gleichzeitig energisch auf den Klingelknopf.

Ich rief mir das besturzte Gesicht des Madchens ins Gedachtnis zuruck, das auf der Turschwelle erschienen war. Noch immer sah ich die brennenden dunklen Augen in dem wei?en Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie mich nachhaltiger beeindruckt als ich sie.

Der schone Griechengott fuhrte uns die Treppe hinauf in ein geraumiges Wohnzimmer, und zwei Minuten spater gesellte sich Geraldine Marsh zu uns. Sie war sehr gefa?t - in Anbetracht ihrer Jugend sogar erstaunlich gefa?t.

»Wie liebenswurdig von Ihnen, so schnell meine Bitte zu erfullen, Monsieur Poirot«, sagte sie. »Es tut mir leid, da? ich Sie heute morgen verfehlte.«

»Sie hatten sich niedergelegt?«

»Ja. Auf Drangen Miss Carrolls, der Sekretarin meines Vaters. Sie war meinetwegen unnotig besorgt.« Fast klang dies wie ein grollender Vorwurf.

»In welcher Art kann ich dienlich sein, Mademoiselle?«

Sie zauderte.

»Nicht wahr, am Tage, bevor mein Vater ermordet wurde, haben Sie ihn besucht?«

»Jawohl.«

»Weshalb? Bat er Sie zu sich?«

Poirot antwortete nicht sofort. Er schien zu uberlegen. Heute glaube ich allerdings, da? es von seiner Seite ein klug berechneter Zug war, um Geraldine, deren hitziges, ungeduldiges Temperament er erkannt haben mochte, zum Weiterreden anzustacheln.

»Befurchtete er irgend etwas? Sagen Sie es mir, sagen Sie es. Ich mu? es wissen. Wen furchtete er? Was teilte er Ihnen mit? Oh, weshalb sprechen Sie denn nicht?«

Ah, wie rasch war diese zur Schau getragene Fassung zusammengebrochen! Jetzt sa? Geraldine Marsh geduckt vornubergebeugt, und ihre Hande wanden und drehten sich nervos auf ihrem Scho?.

»Ich verhandelte mit Lord Edgware uber eine vertrauliche Angelegenheit«, entgegnete Poirot gedehnt.

»Dann ist es wegen . Ich meine, dann mu? es mit der Familie zu tun gehabt haben. Oh, warum bereiten Sie mir solche Folterqualen, Monsieur? Warum sind Sie so verschlossen? Es ist eine unbedingte Notwendigkeit fur mich, da? ich es erfahre. Jawohl, unbedingte Notwendigkeit!«

Ganz langsam schuttelte mein Freund den Kopf. Erstaunen, Verneinung, Abwehr . auf vielerlei Art konnte man dies Schutteln deuten.

»Monsieur Poirot .« Sie stutzte sich auf die Armlehnen und schob sich an der Sessellehne hoch. »Ich bin seine Tochter; ich habe das Recht, zu erfahren, was mein Vater am letzten Tag seines Lebens befurchtete. Ich finde es unbillig, mich im dunkeln tappen zu lassen. Es ist auch keine anstandige Handlungsweise gegen den Toten.«

»Waren Sie Ihrem Vater denn so zugetan, Mademoiselle?«

Sie zuckte zuruck, wie von einer Wespe gestochen.

»Zugetan? Ihm zugetan?« wisperte sie. »Ich . ich .«

Und jah zerstob der letzte Rest von Selbstbeherrschung. Ein perlendes Gelachter brach von ihren Lippen. In ihrem Sessel zuruckgelehnt, lachte sie und lachte.

»Es ist so spa?ig, da? einem eine solche Frage gestellt wird«, keuchte sie.

Jenes hysterische Gelachter hatten auch andere Ohren als die unsrigen vernommen. Die Tur offnete sich, und Miss Carroll trat ins Zimmer, nuchtern und fest.

»Na, na, Geraldine, das geht doch nicht. Nein, nein ... Schlu? damit. Ich verlange es. Sofort horst du mit Lachen auf!«

Ihre entschiedene Art wirkte - Geraldines unsinniges Gelachter wurde schwacher. Sie trocknete ihre Augen und richtete sich auf.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte sie leise. »Es ist das erstemal, da? mir derartiges passiert.«

Miss Carroll betrachtete sie noch immer voll geheimer Angst und Sorge.

»Keine Sorge, meine Liebe, ich bin wieder ganz vernunftig. Mein Gott, wie konnte ich mich so verruckt benehmen!«

Dann krauselten sich ihre Lippen zu einem bitteren Lacheln: »Er hat mich gefragt, ob ich meinem Vater zugetan war.«

Die Sekretarin gab ein unbestimmbares Glucksen von sich, das wohl Unentschlossenheit bezeichnete. Inzwischen fuhr Geraldine mit heller, hohnender Stimme fort:

»Ich mochte wissen, ob es besser ist, sich an die Wahrheit zu halten oder mit Lugen aufzuwarten? Die Wahrheit, denke ich. Wohlan denn: Ich war meinem Vater keineswegs zugetan, ich ha?te ihn.«

»Geraldine . Kind!«

»Warum schwindeln? Sie ha?ten ihn nicht, weil er Ihnen nichts Anhaben konnte; Sie sahen in ihm nur den Arbeitgeber, der Sie reichlich bezahlte. Sein Toben, seine Wutausbruche, seine Schrullen kummerten Sie nicht - Sie gingen daruber hinweg. Ich kann mir vorstellen, wie Sie, Miss Carroll, die Sie eine sehr starke Frau sind, sich achselzuckend vorhielten: Na, wenn schon, irgendeinen Haken hat jedes Ding - und hierauf Ihren Dienst munter weiter versahen. Und schlie?lich stand es Ihnen ja jeden Augenblick frei, das Haus zu verlassen. Ich aber konnte das nicht - ich gehorte dazu.«

»Wirklich, Geraldine, mir scheint es uberflussig, da? du alles dies ans Licht zerrst. Vater und Tochter vertragen sich haufig nicht. Aber je weniger Worte man daruber verliert, desto besser, habe ich immer gefunden.«

Die Tochter des Ermordeten wandte der alteren kurzerhand den Rucken.

»Monsieur Poirot, ich ha?te meinen Vater und bin froh, da? er tot ist. Es bedeutet Freiheit fur mich - Freiheit und Unabhangigkeit. Mich drangt es durchaus nicht, den Morder auszukundschaften; er mag Grunde, reichliche Grunde, gehabt haben, die seine Tat rechtfertigen.«

»Mademoiselle, Sie machen sich eine gefahrliche Lehre zu eigen.«

»Gibt die Verurteilung des Morders Vater das Leben zuruck?«

»Nein«, erwiderte Hercule Poirot kalt. »Indes bewahrt sie moglicherweise andere unschuldige Leute vor dem Schicksal, gleichfalls ermordet zu werden.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ein Mensch, der einmal totete, totet fast stets ein zweites Mal - meist auch noch ofter. Sehen Sie mich nicht so unglaubig an. Mademoiselle, es verhalt sich so. Vielleicht nach schrecklichen Gewissenskampfen ist das eine Leben ausgeloscht worden, und wenn dann Gefahr droht, so geht der zweite Mord moralisch viel leichter vonstatten. Bei dem kleinsten Aufzucken von Argwohn folgt der dritte. Und nach und nach erwacht ein kunstlerischer Stolz - das Toten ist zu einem Beruf geworden und wird beinahe mit Vergnugen ausgeubt!«

Das junge Madchen schlug die Hande vors Gesicht.

»Grauenhaft! Grauenhaft. Nein, das ist nicht wahr.«

»Und wenn ich Ihnen nun sage, da? es sich bereits ereignet hat? Da? der Morder, um sich selbst zu retten, sich an einem zweiten Opfer vergriff.«

»Wie?« rief Miss Carroll dazwischen. »Ein anderer Mord? Wo? Wer?«

Mein Freund blickte sie lachelnd an.

»Verzeihung, Mademoiselle. Ich erlaube mir nur, ein kleines Beispiel zu nennen.« »Ah . ! Einen Augenblick glaubte ich wirklich . Nun, Geraldine, hast du jetzt genug Unsinn geredet?«

»Mademoiselle Carroll, Sie stehen, wie ich bemerke, auf meiner Seite«, meinte Poirot mit einer leichten Verneigung.

»Ich halte nicht viel von der Todesstrafe«, entgegnete Miss Carroll kurz. »Sonst aber stehe ich naturlich auf Ihrer Seite. Die Allgemeinheit mu? geschutzt werden.«

Geraldine strich mit einer muden Bewegung das Haar zuruck.

»Weigern Sie sich noch immer, mir zu erzahlen, weshalb mein Vater Sie hineinzog?«

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