»Ich sollte meinen, die Ungelegenheiten mit zwei Frauen waren hinreichend gewesen«, versetzte Miss Carroll grimmig.
»Mithin sind Sie uberzeugt, da? die Frage einer dritten Heirat niemals angeschnitten wurde? Niemals, Mademoiselle? Denken Sie gut nach!«
Der Sekretarin scho? das Blut in die Wangen.
»Sie haben eine seltsame Art, Fragen zu stellen, Monsieur Poirot. Naturlich war niemals von einer dritten Heirat die Rede.«
»Warum fragten Sie Miss Carroll so hartnackig nach der Moglichkeit einer Wiederverheiratung Lord Edgwares, Poirot?«
Wir sa?en nebeneinander im Auto und fuhren unserer Wohnung entgegen.
»Warum, mon ami? Weil ich mir seinen plotzlichen Gesinnungsumschwung zu erklaren suche. Jahrelang setzt er dem Drangen seiner Frau und dem Drangen von Rechtsanwalten aller Art eisernen Widerstand entgegen, erklart, da? er nie in die Scheidung willigen wurde. Und dann gibt er eines guten Tages jahlings nach!«
»Oder er behauptet es«, erinnerte ich ihn, »Sehr wahr, Hastings. Er behauptet es; aber wir haben keinerlei Beweise, da? jener Brief tatsachlich geschrieben wurde. Wenn er ihn jedoch geschrieben hat, so ist ein Grund vorhanden gewesen. Und der nachstliegende, der sich einem ohne weiteres aufzwingt, ist, da? Lord Edgware eine dritte Ehe zu schlie?en beabsichtigte.«
»Was Miss Carroll mit aller Entschiedenheit in Abrede stellt«, fugte ich hinzu.
»Ja ... Miss Carroll ...«
Poirot ist ein Meister darin, Zweifel durch den Ton seiner Stimme anzudeuten.
»Sie halten sie fur eine Lugnerin? Warum denn, mein Lieber? Haben Sie nicht den Eindruck eines aufrechten, geraden Menschen von ihr gewonnen?«
»Bisweilen la?t sich vorsatzliche Falschheit sehr schwer von uneigennutziger, nachlassiger Ungenauigkeit unterscheiden, mon ami.«
»Wie?«
»Vorsatzlich tauschen - das ist eine Sache. Aber ihrer Tatsachen, ihrer Ideen nebst ihrer wesentlichen Wahrheit so sicher zu sein, da? die Einzelheiten keine Rolle spielen - das, mein guter Hastings, ist ein kennzeichnendes Merkmal fur besonders ehrliche Personen. Bedenken Sie auch, da? sie uns schon eine Luge erzahlt hat. Sie sagte, da? sie Jane Wilkinsons Gesicht gesehen habe, was sich als unmoglich herausstellte. Wie kommt sie nun zu einer derartigen Aussage? Auf folgende Weise, Hastings: Sie schaut uber das Gelander und erblickt Jane Wilkinson in der Halle. Kein Zweifel steigt in ihr auf, ob es wirklich Jane Wilkinson ist. Sie wei? es. Sie erklart, das Gesicht deutlich gesehen zu haben, weil - von der Tatsache fest uberzeugt - genaue Einzelheiten sie nicht kummern. Nachher wird ihr nachgewiesen, da? sie das Gesicht gar nicht gesehen haben kann. >So ...? Pah, was tut das, ob ich ihr Gesicht sah oder nicht - es war Jane Wilkinson!< Und so geht's mit jeder anderen Frage. Sie wei?. Infolgedessen gibt sie ihre Antworten in der Uberzeugung ihres Wissens, aber nicht aufgrund erinnerter Tatsachen. Die positive Zeugin sollte man immer mit Argwohn behandeln, mein Freund. Die unsichere Zeugin, die sich nicht entsinnt, wird eine Minute nachdenken . ah ja, so verhielt es sich! Und man darf sich auf ihre Aussage unendlich mehr verlassen.«
»Mein lieber Poirot, Sie schmei?en ja alle meine Vorstellungen von Zeugen uber den Haufen!«
»Auf meine Frage uber Lord Edgwares Wiederverheiratung belachelt sie den Gedanken einfach deshalb, weil er ihr niemals aufgestiegen ist. Sie nimmt sich nicht die Muhe zu uberlegen, ob nicht doch irgendwelche geringfugigen Anzeichen in diese Richtung deuten. Und deshalb stehen wir am selben Fleck wie zuvor. Wohlverstanden, Hastings, ich halte sie nicht fur eine vorsatzliche Lugnerin, sofern . Bei Gott, das ist eine Idee!« unterbrach er sich plotzlich.
»Was denn? Was, Poirot?« drangte ich neugierig.
Aber er schuttelte bereits den Kopf. »Nein - das ist zu unmoglich.« Und er weigerte sich, mehr zu sagen.
»Sie scheint das junge Madchen sehr lieb zu haben«, brachte ich das Gesprach wieder in Gang.
»Ja. Welchen Eindruck hinterlie? Miss Geraldine Marsh bei Ihnen, Hastings?«
»Sie tat mir leid - ganz entsetzlich leid.«
»Ich wei?, Sie haben immer ein zartliches Herz. Schonheit im Zustand der Betrubnis hat Sie noch jedesmal mitgenommen. Aber« - er wurde plotzlich ernst - »da? sie ein sehr ungluckliches Dasein gefuhrt hat, steht klar und deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben.«
»Jedenfalls werden Sie jetzt eingesehen haben, wie verkehrt Jane Wilkinsons Mutma?ung war, Geraldine konne mit dem Verbrechen etwas zu tun haben.«
»Fraglos ist ihr Alibi befriedigend - indes hat Japp es mir bisher noch nicht mitgeteilt.«
»Aber mein lieber Poirot! Sie wollen doch damit nicht andeuten, da? Sie, nachdem Sie sie gesehen und gesprochen haben, noch ein Alibi verlangen?«
»Eh bien, mein Freund, welches Ergebnis hat das Sehen und Sprechen gehabt? Wir erfahren, da? viel Leid und Kummer hinter ihr liegen; sie selbst gesteht, da? sie ihren Vater geha?t hat und froh uber seinen Tod ist. Fernerhin zeigt sich einem scharfen Beobachter, da? sie in Unruhe daruber ist, was ihr Vater gestern morgen mit uns besprochen hat. Und nach all diesem erkuhnen Sie sich zu sagen: Ein Alibi ist unnotig!«
»Ihre Freimutigkeit beweist ihre Unschuld«, verteidigte ich sie warm.
»Freimutigkeit scheint der hervorstechendste Charakterzug dieser Familie zu sein. Der neue Lord Edgware zum Beispiel -mit welcher freimutigen Geste breitete er seine Karten vor uns auf den Tisch!«
»Ja, das tat er wirklich!« erwiderte ich und lachelte unwillkurlich bei der Erinnerung. »Eine ziemlich selbstandige Methode.« Poirot stimmte mir durch ein Nicken bei.
»Er grabt - wie ihr Englander sagt - einem den Boden vor den Fu?en weg.«
»Unter den Fu?en«, verbesserte ich. »Ja, wir beide mussen ziemlich dumm ausgesehen haben.«
»Welch ein Einfall! Ich fuhlte mich durchaus nicht dumm und werde deshalb auch schwerlich so ausgesehen haben, Hastings. Im Gegenteil, ich raubte ihm sogar die Fassung.«
»Wieso?«
»Ach, Hastings, Ihnen fehlt jede Beobachtungsgabe . !« bedauerte mich mein Freund. »Haben Sie nicht bemerkt, wie ich ihm lauschte und lauschte, bis ich schlie?lich mit einer ganz fernliegenden Frage dazwischenfuhr? Und das hat unseren guten Monsieur au?erordentlich unangenehm beruhrt.«
»Ich meine, sein Entsetzen und Erstaunen bei der Kunde von Carlottas Tod seien echt gewesen.«
»Vielleicht - vielleicht auch nicht. Indes schienen sie echt zu sein.«
»Und aus welchem Grund hat er Ihrer Meinung nach mit solchen zynischen Worten alle diese Einzelheiten vor uns ausgekramt? Blo? zu seinem Vergnugen?«
»Unmoglich ist es nicht. Der englische Humor au?ert sich bisweilen auf die ungewohnlichste Art. Es kann aber auch List gewesen sein. Verheimlichte Tatsachen nehmen leicht eine verdachtige Wichtigkeit an, wohingegen man Tatsachen, die offenherzig enthullt werden, meist geringfugiger wertet, als sie wirklich sind.«
»Der Streit mit dem Onkel an dessen Todestag zum Beispiel?« »Richtig. Er wei?, da? sein Besuch bekannt werden wird -mithin holt er zu einem Gegenzug aus.«
»Dann ist er gar nicht so toricht, wie er aussieht.«
»Ronald Marsh toricht . ? Mein lieber Hastings, er hat eine ganze Menge Verstand, wenn es ihm darauf ankommt, sich seiner zu bedienen. Im ubrigen aber meine ich, da? uns ein Imbi? guttun wurde. Une petite omelette, n'estcepas? Und hinterher, etwa um neun Uhr, mochte ich noch einen anderen Besuch mit Ihnen machen.«
»Bei wem?«
»Erst den Hunger stillen, mon cher. Und bis wir unseren Kaffee trinken, werden wir den Fall nicht weiter erortern. Wahrend der Mahlzeit sollte das Hirn stets der Diener des Magens sein.«
Wir befahlen dem Chauffeur, uns nach einem kleinen Restaurant in Soho zu fahren, wo man uns kannte und ein zartes Omelette, eine Seezunge, ein Hahnchen und einen Rumpudding servierte, den Poirot mit wollustigem Behagen verzehrte. Als wir den ersten Schluck Kaffee nippten, lachelte er mich gutig an.
»Mein alter Freund«, sagte er, »ich bin mehr von Ihnen abhangig, als Sie ahnen.«
Diese unerwarteten Worte verwirrten und erfreuten mich. Noch nie hatte er eine derartige Bemerkung fallen lassen; eher schien er bislang darauf auszugehen, meine geistigen Fahigkeiten herabzusetzen, was mich im stillen