schon haufig gewurmt hatte.

»Ja«, sagte er vertraumt. »Sie mogen nicht begreifen, warum es so ist - aber Sie weisen mir oft und oft den Weg.«

Ich wagte meinen eigenen Ohren nicht zu trauen.

»Wirklich, Poirot ...«, stammelte ich geruhrt. »Das freut mich unsagbar. Ich vermute, da? ich eine Unmenge von Ihnen gelernt habe .«

Heftig schuttelte er den Kopf.

»Mais non, ce n'est pas 9a. Sie haben nichts gelernt.«

»Oh!« Mir war, als hatte ich eine eisige Dusche erhalten.

»So mu? es auch sein«, belehrte er mich. »Kein menschliches Wesen sollte von einem anderen lernen. Jedes Individuum sollte seine eigenen Fahigkeiten bis zur hochsten Vollendung entwickeln, aber nicht versuchen, jene eines anderen nachzuahmen. Ich will nicht, da? Sie ein zweiter und minderwertiger Poirot werden; ich will, da? Sie der erhabenste, gro?te Hastings sind. Und das sind Sie, mon cher. In Ihnen finde ich den normalen Verstand beinahe vollkommen verkorpert. Sie befinden sich im schonsten Gleichgewicht, Sie sind ein Urbild der Gesundheit. Wissen Sie nicht, was das fur mich bedeutet ...? Wenn der Verbrecher sich zu einem Verbrechen anschickt, so ist sein erstes Bestreben zu tauschen. Wen sucht er zu tauschen? Das Bild, das sich seinem Hirn aufdrangt, ist das des normalen Menschen. Da? es diesen in hundertprozentiger Vollkommenheit gar nicht gibt, da? er nur ein Ding mathematischer Berechnung ist, steht auf einem anderen Blatt. Sie, Hastings, kommen diesem hundertprozentig normalen Menschen jedenfalls so nahe wie moglich. Sie haben glanzende Momente, in denen Sie sich uber den Durchschnitt erheben, und wiederum solche, in denen Sie - ich hoffe, Sie verzeihen mir! - in merkwurdige Tiefen der Stumpfheit und Blodheit hinabsteigen; doch alles in allem sind Sie erstaunlich normal. Eh bien, wie kommt mir dies zugute? Hochst einfach! Wie in einem Spiegel sehe ich in Ihrem Hirn sich genau das widerspiegeln, was der Verbrecher mir weismachen mochte. Und das ist fur mich unbeschreiblich nutzlich und anregend.«

Obwohl ich das Gesagte nicht ganz verstand, dunkte es mich doch wenig geschmeichelt fur meine Person. Poirot belehrte mich rasch eines Besseren.

»Ich habe mich stumperhaft ausgedruckt« erklarte er. »Sie, Hastings, haben einen Einblick in das Verbrecherhirn, der mir leider abgeht; Sie zeigen mir, wie ich - nach Wunsch des Verbrechers - die Dinge sehen soll. Das ist eine unschatzbare Gabe, mon ami.«

»Einblick . «, wiederholte ich nachdenklich. »Einsicht . Nun, vielleicht habe ich die letztere bekommen.«

Ich betrachtete ihn quer uber den wei?gedeckten Tisch hinuber. Er rauchte eine seiner dunnen Zigaretten, und sein Blick umfa?te mich mit gro?er Herzlichkeit.

»Ce cher Hastings«, murmelte er. »Bei Gott, ich habe Sie sehr in mein Herz geschlossen.«

»Los«, befahl ich, um die weiche Stimmung abzuschutteln. »Beschaftigen wir uns wieder mit dem Fall Edgware.«

»Eh bien.« Hercule Poirot warf den Kopf zuruck, seine Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, und langsam paffte er eine Rauchwolke nach der anderen aus. »Je me pose des questions.«

»Ja?« fragte ich eifrig.

»Sie doch zweifellos auch?«

»Gewi?«, versicherte ich. Und dann lehnte ich mich gleichfalls zuruck, kniff wie er die Augen zusammen und stie? hervor: »Wer totete Lord Edgware?«

Mit einem Ruck sa? Poirot aufrecht.

»Nein, nein«, wehrte er heftig. »Ist das etwa eine Frage? Sie erinnern mich an den Leser einer Detektivgeschichte, der ohne Sinn und Verstand samtliche Personen der Reihe nach durchrat. Einst bin ich selbst so vorgegangen, aber das war ein au?ergewohnlicher Fall, bei dem ich Au?ergewohnliches leistete und den ich Ihnen deshalb eines Tages mal erzahlen werde. Doch wovon sprachen wir jetzt?«

»Von den Fragen, die Sie sich selbst vorlegten«, gab ich spottisch zuruck. Es schwebte mir die Bemerkung auf der Zunge, da? mein wirklicher Nutzen fur Poirot darin bestande, ihn mit einem Gefahrten zu versorgen, dem gegenuber er prahlen und sich ruhmen konnte ... Aber ich schluckte die scharfen Worte herunter. Wenn ihm das Belehren Spa? machte, warum ihm diesen rauben?

»Also bitte, lassen Sie sie horen«, sagte ich.

Mehr brauchte die Eitelkeit dieses Mannes nicht. Er nahm seine fruhere Stellung wieder ein und begann:

»Uber die erste Frage haben wir uns bereits unterhalten: Warum wurde Lord Edgware uber die Scheidung anderen Sinnes?

Die zweite Frage, die ich mir vorlegte, lautet: Was geschah mit jenem Brief? Wer hatte Interesse daran, da? Lord Edgware und seine Gattin die lastig gewordenen Ehefesseln noch weiterschleppten?

Frage Nummer drei: Was bedeutete das wutverzerrte Gesicht des Lords, dessen Sie gestern vormittag beim Verlassen der Bibliothek zufallig gewahr wurden .? Vermogen Sie mir eine Antwort darauf zu geben, Hastings?«

Ich verneinte.

»Sind Sie wenigstens sicher, da? Ihre Einbildung nicht mit Ihnen durchging, mon cher? Bisweilen haben Sie eine reichlich lebhafte Phantasie.«

»Nein, nein.« Ein energisches Kopfschutteln unterstrich meine Verwahrung. »Ich bin sicher, da? ich mich nicht tauschte.«

»Bien. Dann ist es eine Tatsache, die der Erklarung bedarf. Meine vierte Frage gilt dem Kneifer. Weder Jane Wilkinson noch Carlotta Adams tragen Augenglaser. Was haben also die Glaser in Carlottas Handtaschchen zu suchen?

Und meine funfte Frage: Weshalb telefonierte jemand nach Chiswick, um herauszufinden, ob sich Jane Wilkinson unter den Gasten befand; und wer ist es gewesen?

Mit diesen Fragen schlage ich mich herum, mon ami. Wenn ich sie beantworten konnte, wurde mein Kopf leicht und frei werden. Und wenn ich auch lediglich eine Theorie entwickeln konnte, die sie einigerma?en zufriedenstellend erklart, wurde meine Eigenliebe nicht so leiden.«

»Es sind nicht die einzigen Fragen, Poirot«, wandte ich ein.

»So? Haben Sie noch mehr?«

»Wer spornte Carlotta Adams zu diesem verhangnisvollen Mummenschanz an? Wo hielt sie sich an dem Mordabend vor und nach zehn Uhr auf? Wer ist D., der ihr die goldene Dose schenkte?«

Er verurteilte mich mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. »Mein lieber Hastings, das sind doch plumpe, derbe Fragen nach Tatsachen, uber die wir jede Minute Aufschlu? erhalten konnen. Meine Fragen hingegen bewegen sich auf dem Gebiete der Psychologie. Die kleinen grauen Zellen ...«

»Poirot«, flehte ich verzweifelt. Ich fuhlte, da? ich ihn - koste es, was es wolle - am Weiterreden hindern musse, da ich nicht imstande war, die bis zum Uberdru? bekannten Satze wieder einmal zuhoren. »Sie erwahnten, da? Sie heute noch einen Besuch zu machen beabsichtigen?«

»Richtig. Ich werde telefonieren, um zu sehen, ob es pa?t.« Er lie? mich allein und kehrte nach etlichen Minuten vergnugt wieder. »Alles in Ordnung. Kommen Sie!«

»Wohin gehen wir?« erlaubte ich mir zu fragen.

»Nach Chiswick, zu Sir Montague Corner. Ich mochte gern ein wenig mehr uber jenen Telefonanruf erfahren.«

15

Es schlug zehn Uhr, als wir Sir Montagues am Flu? gelegenes Besitztum erreichten.

Man fuhrte uns in eine Halle, die mit edelsten Holzern getafelt war. Rechts gestattete eine offene Tur einen Blick in das Speisezimmer, von Kerzen erhellt, deren bewegliches Licht auf dem langen polierten Tisch sein Spiel trieb.

»Ich bitte die Herren, mir nach oben zu folgen.« Und die breite Treppe emporsteigend, gelangten wir in ein Zimmer im ersten Stock, das auf die Themse hinausging.

»Monsieur Hercule Poirot«, meldete der Butler.

In einer Ecke des Raumes, dem zahlreiche Lampenschirme ein wohltuend gedampftes Licht vermittelten, stand unweit des offenen Fensters ein Bridgetisch. Vier Spieler sa?en an ihm. Bei unserem Eintritt erhob sich einer von den vieren und kam auf uns zu.

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