ihn erreicht und war mit Warme und einem der wenigen Rechner, die noch funktionierten, belohnt worden.

Ihr Gro?vater hatte die Richtigkeit der Riemannschen Hypothesen bewiesen und wurde damit zum bekanntesten Mathematiker und vielleicht zum bekanntesten menschlichen Wesen, das jemals von Himmels Gurtel kam; dann war der Krieg ausgebrochen und hatte aus ihm einen unter zahllosen Fluchtlingen gemacht. Als der Krieg begann, hatte er gerade Ferien in den diskanischen Ringen gemacht, und seine Loyalitat war fragwurdig. Doch sein mathematisches Konnen war unbestreitbar — und nun, zwei Generationen spater, hatte das Erbe seines Genies seine Enkel in einem anderen Regime auf dieselben Pfade gefuhrt.

„Nur durch Gehorsam erwerben wir uns das Recht zu befehlen…“ Raul lie? den Computerraum und seine Jugend hinter sich; die standig gleich klingenden moralisierenden Ermahnungen der unsichtbaren Wandlautsprecher drangen wieder in sein Bewu?tsein, zusammen mit der Kalte. Er fragte sich, wie lange es dauern wurde, bis die Nachricht von dem fremden Raumschiff sich einen Weg ins Netz des offentlichen Rundfunks gebahnt haben wurde, zwischen den Gedanken des Herzens und den Vortragen uber die Dekadenz des Demarchy plaziert, und welche Form sie bis dahin wohl hatte. Er machte sich nichts aus der standigen Einmischung in sein Leben. Er war daran gewohnt. Es war so sehr Teil des Lebens, das er kannte, wie die Kalte. Er erkannte auch, da? ein bestimmtes Ziel in der Medienberichterstattung lag, namlich, die Leute abzulenken von der Kalte und dem endlosen Einerlei ihrer taglichen Arbeit, ihres taglichen Lebens, ihr Gefuhl fur die Einheit und die Zugehorigkeit zur Gemeinschaft zu starken.

Doch er fuhlte keinen Groll gegen die Rundfunkanstalten, noch nahm er sie weiterhin ernst. Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, da? sie ebenso Propaganda waren wie die grellen und unharmonischen Vorfuhrungen des Demarchy… Des Demarchy, das noch immer in Warme und Komfort lebte, dank den Destillen der Gro?en Harmonie, das jedoch verhinderte, da? die Gro?e Harmonie an diesem Komfort teilhatte. Sie lehnten es ab, die Kernspaltungsbatterien zu verkaufen, die immer noch die Hauptenergiequelle des Demarchy fur Warme, fur Licht, fur den Schiffverkehr, fur die neuen Fabriken, die immer noch arbeiteten, bildeten. Keine der noch existierenden Fabriken arbeitete in der Gro?en Harmonie mit mehr als einem Prozent Effizienz — ausgenommen die Destillen —, und die einzige Quelle fur Licht und Warme war das ineffiziente Verbrennen von Methan (da die Ringe einen Uberschu? an organischen Stoffen hatten, was aber auch alles war, woruber sie verfugten).

Raul schob den Gedanken beiseite, wie er auch den Gedanken beiseite schob, da? alle Menschen seines Volkes, alle Menschen von Himmels Gurtel, dem Untergang geweiht waren. Bedauern war nutzlos. Ha? war vergeblich. Raul sah der Wahrheit ins Antlitz — und tiefer. Er konnte die Stra?e deutlich vor sich sehen, sah, wie das Vorwartskommen schwieriger und anstrengender wurde, bis es schlie?lich unmoglich wurde. Doch er bewegte sich vorwarts, wenn auch nur von Zeit zu Zeit, schrittweise, gestarkt durch das Wissen, alles menschenmogliche getan zu haben.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er jedes Wort der Medien absorbiert und jedes Wort geglaubt. Da hatte er das Demarchy mit dem blinden Eifer der Jugend geha?t, und da er jung und kompetent und entbehrlich war, hatte man ihn mit einem Sabotageauftrag in das Hoheitsgebiet des Demarchy geschickt. Er war gescheitert. Doch zu seiner grenzenlosen Demutigung hatte die Perversion der medienregierten demarchistischen Pobelherrschaft einen Helden aus ihm gemacht, der sich die leidenschaftliche letzte Denunziation ihrer eigenen Aggression zu Herzen nahm… und das Demarchy hatte ihn nach Hause geschickt, einen beschamten Botschafter des guten Willens, damit er Verhandlungen uber die Konstruktion einer Destille eroffnete, die sich sowohl fur das Demarchy als auch fur die Gro?e Harmonie auszahlen wurde.

Doch die Beziehungen zwischen dem Demarchy und der Gro?en Harmonie waren nie uber diesen Akt der Kooperation hinausgegangen, dessen einziger Zweck in gemeinsamen Notwendigkeiten lag. Unabhangige Demarchy-Gesellschaften verletzten immer noch diskanisches Hoheitsgebiet, und nur ihre allgemeine okonomische Schwache verhinderte ein ungesetzliches Ausbeuten der Ressourcen der Gro?en Harmonie ihrerseits. Die Gro?e Harmonie selbst denunzierte das Demarchy unaufhorlich und beschuldigte es wegen der eigenen karglichen Existenz.

Doch aufgrund seiner Erfahrungen im Demarchy hatte er den Glauben fur immer verloren, Gut und Bose seien einfach schwarz und wei? gezeichnet und jede Frage habe eine simple Antwort. Und nachdem er erkannt hatte, da? das Demarchy nicht durch und durch bose war, hatte er auch erkannt, da? man es nicht allein verantwortlich machen konnte fur das elende Leben der Harmonie. Er hatte jenes gro?ere, indifferente und unvermeidbare Schicksal gesehen, das die Gro?e Harmonie ebenso wie auch das Demarchy die Stra?e ohne Ruckkehr hinabzog.

Und als er zu der Erkenntnis gelangte, da? es kein Zuruck gab, keinen Ausweg, war er von der Verteidigungs- zur Handelsmarine ubergewechselt, um dort zu arbeiten, weil er glaubte, dort am effektivsten arbeiten zu konnen und somit der Gro?en Harmonie ihren Weg auf der Stra?e des Untergangs so leicht wie moglich zu machen.

Endlich erreichte Raul die Nabe des Regierungskomplexes, fuhlte, wie die Finger alter Macht nach ihm griffen, als er plotzlich in die Unmittelbarkeit des offenen Raumes hinaustrat. Uber ihm war die Decke amorph und dunkel, doch er wu?te, die Oberflache bestand aus durchsichtigem Kunststoff, nicht aus solidem Stein. Einst hatte sie sich zu den Sternen und zu der Majestat von Diskus geoffnet — als die Ringe von Diskus noch die Lebensquelle fur den gesamten Gurtel gebildet hatten. Doch nun war der durchsichtige Dom mit einer undurchsichtigen Schneedecke bedeckt; die Kuppel hatte zuviel Warme entweichen lassen.

Er bahnte sich einen Weg durch die Vielzahl anderer schwebender Regierungsarbeiter, die meisten von ihnen Marineangehorige wie er selbst. Automatisch beantwortete er den Salut ihrer erhobenen Hande, sein Verstand eilte ihm voraus in den Verhandlungssaal, wo die anderen Hande auf den Beginn der Konferenz mit dem Herzen warteten.

Raul setzte sich still in seinen Stuhl und wartete, bis die Teilnehmer des Treffens zur Ordnung gerufen werden wurden. Er sa? als jungster Offizier, der den Rang einer Hand der Harmonie erreicht hatte, am Ende des Tisches, der vom Herzen am weitesten entfernten Position. Er nickte Lobaschewski zu seiner Rechten zu, wonach er die Reihen der Offiziere und Offiziersanwarter eingehend musterte. Ohne Uberraschung nahm er zur Kenntnis, da? sie sich wie ublich in zwei verschiedene Fraktionen gespalten hatten — die Verteidigungsfraktion auf der einen, die Handelsfraktion auf der anderen Seite. Wie immer hatte er sich zur Handelsfraktion gesetzt. Als er das Ende der Tafel sah, die Spitze des Tisches, die eine Art Niemandsland zwischen beiden Parteien bildete, lachelte er unmerklich.

Ein einziges Wort unterbrach die geflusterten Mutma?ungen; Raul wandte seine Aufmerksamkeit dem Kopf des Tisches zu, erhob sich mit dem Rest, um der Ankunft des Herzens Tribut zu zollen — dem Triumvirat, welches das Auf und Ab der Macht in der Gro?en Harmonie kontrollierte. Chatichai, Khurama und Gulamhusein, wie ein vielfacettiger Hindugott, ununterscheidbar untereinander oder inmitten ihres Stabs in der schlichten Gemeinsamkeit ihrer Kleidung, aber unverwechselbar getrennt durch eine undefinierbare Selbstzufriedenheit — und jenen nicht harmonierenden Ambitionen, die sie an die Spitze gebracht hatten und sie nun um ihre Position kampfen lie?en. Raul kannte die Arten von Stre?, die an ihnen nagten, und war dankbar, sich bereits uber den Pegel seiner eigenen Ambitionen erhoben zu haben.

Die drei Manner am Kopf des Tisches setzten sich langsam auf ihre Stuhle, ein Zeichen fur die Offiziere, dies ebenfalls zu tun.

„Ich nehme an, Sie alle haben die Mitteilungen gelesen, auf Grund derer Sie hier sind…“ — Chatichai sprach, wie immer ergriff er die Initiative — „… und so nehme ich auch an, Sie wissen alle, da? unsere Streitkrafte vor funfzig Kilosekunden ein Schiff entdeckt haben, das mit nichts vergleichbar ist, was noch in diesem System existiert…“ Er machte eine Pause und senkte den Blick; Raul erkannte ein Bandaufzeichnungsgerat auf dem Tisch vor ihm. „Dies ist ein Report von Kapitan Smith, der den Oberbefehl uber die Patrouillenflotte hatte, die das Schiff entdeckte.“ Er druckte einen Knopf.

Raul driftete gegen den Tisch; er lauschte gespannt, der Ausdruck der Gesichter entlang des Tisches wechselte schlagartig. Man hatte den Eindringling als ein Fusionsschiff des Demarchy angesehen, das diskanisches Hoheitsgebiet verletzte. Dann, als man sich naherte und die Stimme einer Frau auf die Anfrage antwortete, hatte man erkannt, etwas vollkommen Unerwartetes entdeckt zu haben. Das Schiff war vor ihnen geflohen, es beschleunigte mit dem unvorstellbaren Wert von zehn Metern pro Sekundenquadrat. Es hatte eine der eigenen Einheiten, die sich naherten, allein mit der todlichen Abstrahlung der Schubdusen fast muhelos zerstort. Doch sie hatten das Feuer auf das fliehende Schiff eroffnet und eine kleine, expandierende Trummerwolke gesehen…

Ein unterschwelliges Gefuhl von Arger und Freude machte sich am Tisch breit. „Warum, zum Teufel, gab Smith der Frau keine Hafenkoordinaten, als sie ihn darum bat?“ fragte Lobaschewski neben ihm murmelnd.

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