zu kontrollieren, keine ehrlichen Bande von Freundschaft oder Verwandtschaft, nur Selbstsucht und Gier nach Wohlstand des Individuums… Und dann ihre Frauen. Nutzlos, frivol, verschwenderisch. Die gro?te Verschwendung in einer Gesellschaft, die doch so sehr auf ihre Ressourcen angewiesen war — auch auf die menschlichen.
Bruchstucke einer Unterhaltung formten sich in ihrem Verstand zu einem Ganzen — und plotzlich erinnerte sich Bertha daran, was Clewell uber die verkruppelte Bird Alyn gesagt hatte. Vielleicht waren sie in gewisser Weise eine Ressource, die man beschutzen mu?te: gesunde und fruchtbare Frauen, in einer Gesellschaft, wo der Strahlungspegel immer uberdurchschnittlich hoch war. Frauen, die aus diesem Schutz eine Lebensart gemacht hatten, die so kunstlich war wie alles in ihrer Welt… Vielleicht lag die Gefahr genetischer Schaden direkt an der Wurzel all der unverstandlichen Gebrauche ihrer sexuellen Moral. Verzweifelte Menschen vollbrachten Verzweiflungstaten. Das hatte man zu Beginn sogar bei den Menschen von Morningside gesehen…
Sie drehte sich etwas in ihrem Sessel, um den schlafenden Shadow Jack zu betrachten, der friedlich traumend auf dem Boden lag, neben sich ein aufgeschlagenes Buch mit Bildern von Morningside. Wenn man die Lage schon fur das Demarchy als verzweifelt ansehen mu?te, uberlegte sie, was mu?te dann erst uber Lansing gesagt werden? Mit einer Hand spielte sie liebkosend mit den Ringen an ihren Fingern, als Wadie Abdhiamal eintrat.
„Kapitan.“ Er machte seine ubliche Verbeugung. Sie nickte erwidernd und sah ihm zu, wie er heruberkam: der ordentliche Demarchos, ubertrieben geschniegelt und ubertrieben freundlich. Und so ungeschickt wie ein Kind, das seine ersten Gehversuche macht. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, man sah ihm deutlich die Folgen von Stre? und Flussigkeitsverlust an. Sie erinnerte sich daran, da? er auf der
Er setzte sich. „Ja… etwas. Ich wei? nicht, was.“ Bei der Erinnerung sah er plotzlich merkwurdig kranklich aus. „Ich furchte, Fleisch bekommt mir nicht besonders.“
„Wie… fuhlen Sie sich?“
„Heimweh.“ Er lachte selbstanklagend, als sei es eine Luge. Dann betrachtete er den blanken Schirm. Rusty sprang auf sein Knie, kuschelte sich in seinen Scho?, ihr Schwanz kitzelte ihre eigene Nase. Er streichelte ihr mit seiner dunklen Hand den Rucken. Bertha bemerkte den massiven Silberring mit den eingelegten Rubinen an seinem Finger.
„Tut mir leid.“ Sie holte die Pfeife aus der Hufttasche ihrer Jeans, deren vertraute Form ihre Hande beruhigten.
„Keine Ursache.“ Er bewegte sich, worauf Rusty anklagend murrte und sich rakelte. „Denn Sie hatten recht, Kapitan, und ich habe die richtige Entscheidung getroffen, mit Ihnen zu kommen. Das Demarchy darf Ihr Schiff nicht bekommen — niemand in Himmels Gurtel darf das… Ich sage das nicht wegen der Dinge, die mir widerfahren sind…“ Aber etwas in seiner Stimme verriet ihr, da? das nur die halbe Wahrheit war. „Schon als ich das erste Mal von diesem Schiff horte, wu?te ich, zu viele Leute wurden damit Gott spielen wollen.“ Er sah auf. „Auch wenn es nicht recht von mir ist, ich wurde Ihr Schiff immer noch dem Demarchy ubergeben, wenn ich die Gelegenheit dazu hatte — weil ich es damit vielleicht retten konnte. Aber das konnte ich wahrscheinlich nicht. Die Regierung ist zu schwach, sie konnte gegenwartig ihre Position keinesfalls halten.“ Seine Finger gruben sich in das nachgiebige Polster des Sessels, sein Gesicht war ausdruckslos. „Darum sage ich Ihnen das. Ich werde Ihnen helfen, von hier zu verschwinden, wo immer ich kann. Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen. Als meine letzte Tat fur das Demarchy, um den Menschen dort einen letzten, kleinen Zeitvorsprung zu verschaffen — und um sie vor sich selbst zu retten.“ Seine Augen glitten zu Diskus, der auf dem Schirm zu sehen war. „Wenn ich schon ein Verrater sein soll, dann werde ich auch ein guter Verrater sein. Ich will stolz auf meine Arbeit sein konnen.“
Sie ri? sich gewaltsam davon los, jeder seiner Bewegungen zu folgen. Ihr Gesicht war hei?. „Wenn Sie das wirklich ernst meinen, Abdhiamal, dann… nehme ich Ihre Hilfe an, welchen personlichen Motiven sie auch immer entspringen mag. Ich mu? alles wissen, was Sie mir uber die Ringbewohner — die Ringer — erzahlen konnen, ganz besonders benotige ich Anzahl und Standort ihrer Destillen. Egal wie primitiv sie sind, wenn wir ihnen mit einem unbewaffneten Schiff etwas stehlen wollen, mussen wir es sorgfaltig planen… Und wie Sie schon sagten, bisher war ich bei der Durchsetzung meiner Wunsche nicht sehr erfolgreich. Strategie war schon immer Erics Sache — nie meine.“
„Ganz im Gegenteil. Auf Mekka haben Sie uns alle ubertrumpft.“ Er bedachte sie mit einem ironischen, beifalligen Lacheln. „Ich glaube, ich kann Ihnen ausreichend genaue Koordinaten geben. Vor etwa zweihundertfunfzig Megasekunden habe ich lange Zeit in den Ringen verbracht, als ich ihnen half, ihre Hauptdestille zu vergro?ern. Tatsache ist, ich habe…“ Plotzlich brach er ab. „Erzahlen Sie mir von Morningside, Kapitan. Erzahlen Sie mir von Ihrem Volk und wie man dort die Dinge angeht. Unser Weg scheint Ihnen nicht besonders zuzusagen.“
Sie uberdachte die Worte, um hinter den Sinn dieses unerwarteten Themenwechsels zu kommen. Doch sie war sich nur sicher, da? er nicht wirklich eine Antwort haben wollte, sondern nur eine Ablenkung suchte.
Die einzige formale soziale Struktur uber dem Klan ist das, was wir als ,Halbheit’ bezeichnen…“ Sie verlor sich im Klang ihrer eigenen Stimme, verga? sogar Abdhiamals Anwesenheit. Die lebende Erinnerung ihrer Erklarung erfullte den Raum zwischen ihnen mit Bildern und Reminiszenzen… Die Borealis-Halbheit: eine unabhangige okonomische Einheit zur Verteilung von Gutern und Dienstleistungen. Die Borealis-Halbheit: ihre Heimat, ihre Arbeit, ihre Familie, ihre Welt… ein lachendes Kind — ihre Tochter, oder sie selbst — lie? sich zuruckfallen, um auf einer Schneewehe ungelenke, staksige Spuren zu hinterlassen…
„Unsere Industrie wird unabhangig geleitet, wie Ihre auch — aber ich nehme an, Sie wurden sie trotzdem als ‚monopolistisch’ bezeichnen. Man arbeitet zusammen, aber nicht aus Profitgier, sondern weil man dazu gezwungen wird, sonst geht man unter. Das funktioniert, weil wir niemals von etwas zuviel haben — und das gilt besonders fur Menschen. Meine Elternfamilie und viele meiner nachsten Verwandten betreiben eine Baumfarm in der Borealis-Halbheit… auch meine Frau Claire arbeitete dort. Manche Familien spezialisieren sich auf den Handel, aber Clewell und ich und unsere anderen Angehorigen waren von allem etwas…“ Sie erinnerte sich an das Ende des Tages in der endlosen Dammerung, die Familie sa? gemeinsam um den langen, dunklen Holztisch herum, wahrend die Kinder ihnen das Essen brachten. Die behagliche Warme des Feuers, die versinkende Sonne, die nie ganz vom Himmel verschwand, das belanglose Gerede uber die kleinen Triumphe des Tages, die angenehme Schlafrigkeit… das herzliche Willkommen fur einen Anverwandten, den seine Aufgabe Stunden oder Tage von zu Hause ferngehalten hatte. Eric, der von einer langen Unterredung mit der Halbheit zuruckkehrte…
Sie sah Wadie Abdhiamal, der im Kontrollraum der
Hor auf damit.
„Dann seid ihr in gewisser Weise wie wir“, sagte Abdhiamal, „ohne starke, zentralisierte Regierung, Liebe zu Freiheit und Unabhangigkeit…“
„Nein!“ Sie schuttelte den Kopf, eine Geste, mit der sie mehr als nur die Worte verneinte. „Wir sind wie eine