Ranger (Im Transit, Diskus nach Lansing)
+ 130 Kilosekunden
Schlie?lich verlie? Bertha das hydroponische Labor doch und stieg in der hohlen Stille des Schiffes die zentrale Treppe hoch. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft sie diese Stufen in den beiden vergangenen Tagen schon emporgeklettert war; die Pflichten einer siebenkopfigen Mannschaft wurden fur eine zweikopfige Mannschaft zu einer endlosen Arbeitslawine. Sie ging weiter, bis sie ihre Schlafquartiere im dritten erreichte. Ein Stockwerk hoher, uber dem Schacht, wurden ihre Augen von dem roten Licht uber der verschlossenen Tur des Tagraums gefangen. Sie blieb stehen, ihre Mudigkeit wurde von einem neuen Stich des Kummers verdrangt.
Rasch betrat sie den Korridor, der den Treppenschacht im dritten Stock umrundete und Zugang zu den privaten Kabinen verschaffte, sieben an der Zahl… und allem, was an funf menschliche Wesen erinnerte, die nun fur immer fur sie verloren waren. Laras Zimmer zu ihrer Rechten, alles noch an seinem Platz, was die Prazision von Laras Verstand widerspiegelte… Bertha erinnerte sich an die sprode Direktheit ihrer Stimme, ihr ergrauendes Haar, das warme Mitgefuhl in ihren grauen Augen, das ihren klinischen Abstand verleugnete. Ein gepolsterter Stuhl stand in Laras Zimmer, aus der Wirbelsaule eines Zetoiden hergestellt; ein
Durch die offene Tur direkt vor ihr konnte Bertha einen Wirrwarr an elektronischer Ausrustung sehen, Nikolais Balalaika lag auf dem Schlafsack seines Bettes. Sie stellte sich seine Gestalt vor, kahl, bartig, nachdenklich… Ein geduldiger, geschickter Lehrer, ein Elektronikexperte, zu Hause ein Monteur, der die gesamte Borealis-Halfte betreute. Sie erinnerte sich an sein Lachen als er dem Schuh auswich, den sie nach Sean geworfen hatte, weil er ihre
Sie wandte sich nach links, bewegte sich an der gewundenen Korridorwand entlang, wobei sie gegen die Erinnerung ankampfte wie eine Frau, die im Wasser watet… Sie erinnerte sich an Claire, mondgesichtig, mit lockigem Haar, plump, eine Farmerstochter, an Sean, den Rotschopf unter ihnen, erst vierundzwanzig…
Bertha zogerte, als sie vor ihrer eigenen Tur ankam. Sie warf einen Blick hinein, auf den unordentlichen Schreibtisch, das zerwuhlte Bett. Verzweifelt ging sie weiter, als wollte sie sich selbst Schmerzen zufugen, zum nachsten Zimmer… zu Eric. Eric van Helsing, Soziologe, ihr Ombudsmann und Wortfuhrer…
Die Worte des Liedes kamen ihr ungewollt in den Sinn, mit der Wucht des Wustenwindes von Morningside; die Passion der ersten Liebe:
Unwillkurlich rang sie die Hande, sechs goldene Ringe rieben sich aneinander, vier an der linken Hand, zwei an der rechten.
Sie sank gegen den holzernen Turrahmen und schlo? die Augen, pre?te ihr Gesicht gegen die kuhle Oberflache, gestutzt durch deren unnachgiebige Starke. Er war verschwunden; sie alle waren verschwunden, ihre Mannschaft, ihre Familie… ihre Ehemanner und ihre Frauen. Die Kraft, die Kraft, die aus der Gemeinsamkeit resultierte, war dahin mit ihnen, hinabgeglitten in die grundlose See. Wie wurde es weitergehen? Der Verlust war eine zu schwere Burde, das Leben war eine zu schwere Burde, um es allein zu tragen…
Etwas streifte ihre Knochel, sie offnete die Augen und sah hinunter. Die Katze rakelte sich zwischen ihren Fu?en und miaute verloren. „Rusty…“ Sie kauerte sich nieder, um die Katze aufzuheben, sah den Tag ihrer Abreise von Morningside, das zappelnde, wimmernde Katzchen, das die Handchen ihrer Tochter ihr entgegenstreckten, wie auch alle anderen Kinder stolz die ausgewahlten Geschenke fur alle Eltern vorzeigten. Ein Dutzend Gro?eltern hatte zugesehen, ebenso wie die Geschwister, Cousins, Nichten und Neffen, ihre stolzen, hoffnungsvollen Gesichter ubergossen vom rotlichen Licht des ewigen Zwielichts der Grenze zur Nachtseite.
Alle warteten sie — alle waren sie ein Teil von ihr. Die Kinder warteten; sie war nicht allein. Aber sie waren alle au?erhalb ihrer Reichweite, zuviel Raum und Zeit trennte sie; und es war ihre heilige Pflicht, dieses Schiff zu ihnen zuruckzubringen…
Sie horte ein Gerausch in der Halle, wich von dem Rahmen zuruck und straffte sich, Rusty immer noch in den Armen. Sie sah Clewell, nur mit kurzen Hosen bekleidet, der im Turrahmen seiner eigenen Kabine stand und sie beobachtete.
„Bertha — alles in Ordnung?“
„Ja… ja, ich bin nur mude, Pappy.“
Er nickte. „Bitte. Ich kann allein einfach nicht einschlafen.“
Sie folgte ihm in sein Zimmer, knopfte in der Dunkelheit ihr schlichtes Baumwollhemd auf und schlupfte aus ihren Schuhen und Jeans. Sie kroch neben ihn in den Doppelschlafsack und umschlang ihn dankbar mit den Armen, eine Geste langer Vertrautheit. Er war nicht ihr erster Ehemann gewesen, aber schon so lange Zeit ihr Freund, da? sie sich kaum mehr an etwas anderes erinnern konnte. In dem Jahr, als sie geboren wurde, war er siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, einer der vielen Onkel; doch seit der Kindheit war er ihr unter all den vielen Mitgliedern ihrer Familie der liebste gewesen. Er war Astronom gewesen, bevor er Navigator an Bord der
Mit funfzehn war sie zu ihrer ersten technischen Schulung gegangen, danach zu ihrer ersten Arbeit als Maschinistin in einem Kraftwerk, am Rand der subsolaren Hitzezone. Sie hatte sich in Eric verliebt, ihn geheiratet, und nach einer gewissen Zeit waren sie in die Borealis-Halbheit zuruckgekehrt. Als eine erwachsene Frau war sie wieder in Clewells Leben getreten, und man hatte sie und Eric eingeladen, seiner Familie beizutreten.
Die Gesellschaft Morningsides fu?te auf dieser multiplen Heirat einer Familie; die Bande der Verwandtschaft waren ihre Starke und zugleich ihre Sicherheit. Heiraten unter den Mitgliedern eines Klans — ein Elternteil, die elterliche Familie, deren Kinder oder eigene Kinder — waren ein soziales Tabu; au?erhalb des zentralen Klans jedoch heirateten Cousins, Tanten, Nichten und Neffen frei untereinander, allein deren gro?e Zahl gewahrleistete eine kulturelle und biologische Kontrolle. Eine Heirat konnte zwischen einem einzelnen Paar oder einer gro?eren Gruppe erfolgen, und jede Familie bestimmte die Regeln selbst, nach denen sie leben wollte. Spezielle