»Meinen Sie ja nicht, liebe Frau,« bemerkte leise der Doktor zu Frau Georges, »da? man es hier mit blo?en Hirngespinsten eines Geisteskranken zu tun habe! O nein! Der Mann diskutiert sehr oft uber die verwickeltsten Fragen der Geometrie und Astronomie, zudem mit einem Scharfsinne, der dem hervorragendsten Gelehrten nur Ehre machen wurde ... Der Schatz von Kenntnissen, uber den er gebietet, ist geradezu unerme?lich. So spricht er alle lebenden Sprachen. Er gehort zu den Martyrern der Menschheit, die von dem Drange beseelt sind, alles Wissen zu beherrschen, und lebt in dem Wahne, da? es kein Gebiet gebe, in das der menschliche Geist sich nicht einarbeiten konne, und da? man ihn hier nur eingesperrt halte, weil er imstande sei, die Leuchte der Wissenschaft uberall auf dem Erdballe zu entzunden! Da das aber von der Polizei nicht erlaubt werden konne, werde er hier in Gewahrsam gehalten, denn die Polizei musse im Interesse des Staatslebens dafur Sorge tragen, da? die Menschheit wieder in die Finsternis tiefster Unwissenheit zurucksinke.«
Hierauf richtete der Doktor das Wort an den Irren, der mit respektvoller Gespanntheit auf eine Antwort aus seinem Munde zu warten schien...
»Mein lieber Herr Charles, Ihre Forderung erscheint mir durchaus gerechtfertigt, und was ich tun kann, sie zu erfullen, soll gern und gewi? geschehen.. Der arme Blinde, der, glaube ich, wohl stumm, nicht aber taub ist, fande sicher gro?es Vergnugen an der Unterhaltung mit einem Manne von Ihrer Gelehrsamkeit. Wie gesagt, ich werde nicht vergessen, Ihnen, wo ich irgend kann, gerecht zu werden.«
Worauf der Irre wieder sagte: »Sie stehen nach wie vor aber auf dem Standpunkte, der Welt dadurch, da? Sie mich hier festhalten, alle humanitaren Kenntnisse zu entziehen, die ich mir angeeignet, mit meinem ganzen Sein und Wesen verschmolzen habe.« Dabei sah man, wie er immer warmer wurde, und wie er immer heftiger zu gestikulieren anfing..
»Keine kunstliche Aufregung, mein lieber Herr Charles,« erwiderte der Doktor Herbin, »die Welt hat zum Gluck noch nicht bemerkt, was ihr fehlt, aber sobald sie ihre Forderungen stellt, werden wir uns sogleich an die Befriedigung derselben machen. Ein Mann von Ihrem Wissen und Ihren Fahigkeiten kann jederzeit gro?e Dienste leisten...« »Ich bin aber,« rief er zahneknirschend, »fur die Wissenschaft, was fur die physische Welt die Arche Noahs war,« – und nach diesen Worten ma? er den Doktor mit grimmigem Blicke. – »Das wei? ich wohl, mein lieber Freund,« sagte der Doktor. – »Sie wollen das Licht unter den Scheffel stellen!« rief er, die Fauste ballend; »aber ich will Sie zermalmen wie Glas!« Und sein Gesicht wurde puterrot, und die Adern schwollen ihm wie Stricke an.
Der Doktor blickte den Irren ruhig, scharf und unverwandt an; er gab seiner Stimme jenen schmeichelnden Klang, von dem schon weiter oben die Rede war, und sagte: »O, mein lieber Herr Charles, wir wissen doch alle, da? Sie der gro?te Gelehrte der Zeit, der vergangenen, wie der gegenwartigen sind.« – »Und werde es auch bleiben fur alle kommenden Zeiten,« rief stolz der Irre. – Der Doktor trat nun zu ihm und klopfte ihm kordial auf die Achsel.. »Ach, er bleibt doch immer der liebenswurdige Schwatzer, der einen nie ausreden la?t.. sollte man nicht glauben, ich kennte die Bewunderung nicht, die Sie einflo?en und verdienen?.. Kommen Sie, kommen Sie, mein lieber Charles, wir wollen den Blinden aufsuchen!«
»Doktor, Sie sind ein Kapitalsmensch,« rief der Irre, ihn unter den Arm fassend, »Sie sollen sehen, was man ihn anhoren la?t, wahrend ich ihm so schone Dinge sagen konnte!« Und vollkommen beruhigt, ging er zufrieden vor dem Doktor her. – »Nun, das mu? man sagen,« bemerkte Germain, naher zu seiner Mutter und Frau tretend, denen er Angst anzusehen gemeint hatte, als der Irre gar so heftig sprach und gestikulierte, »ich hatte selbst Bange, da? den Irren ein Anfall heimsuchen mochte...«
»Fruher wurden bei dem ersten heftigen Wort,« sagte der Doktor, »der ersten zornigen Gebarde solches Kranken die Aufseher uber ihn hergefallen sein, ihn gebunden, geschlagen, mit Wasser uberschuttet haben – eine der grausamsten Qualen, die man erdenken kann. Stellen Sie sich die Wirkung solcher Behandlung auf einen kraftigen und reizbaren Menschen vor! Er ware in einen der schlimmsten Wutanfalle geraten, die den starksten Zwangsmitteln spotten, immer heftiger und endlich unheilbar werden, wahrend, wie Sie sehen, wenn man dieses momentane Aufbrausen nicht gleich unterdruckt, wenn man ihm mittels der au?erordentlichen Beweglichkeit des Geistes, die man bei vielen Geisteskranken bemerkt, eine andere Richtung gibt, das augenblickliche Aufwallen so schnell verschwindet, wie es eintritt.«
»Und wer ist der Blinde, von dem er spricht? Ist er auch nur ein Wahnbild seines Geistes?« fragte Frau Georges.
»Nein, im Gegenteil, mit diesem Menschen verhalt es sich hochst eigentumlich,« berichtete Doktor Herbin, »man hat ihn in einer Diebshohle auf den Elysaischen Feldern aufgefunden, als man dort eine Bande von Spitzbuben und Mordern aufgriff. Er lag in einem Keller neben einem abscheulichen Weibe, das bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet war, an einer Kette ...«
»Aber das sind ja ganz gra?liche Dinge!« rief Frau Georges.
»Der Mann selbst ist ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und zwar durch Vitriol, mit dem er sich das Gesicht verbrannt haben mu?. Seit er in der Anstalt ist, hat er noch kein einziges Wort gesprochen. Ob er wirklich stumm ist oder sich nur stumm stellt, habe ich noch nicht ermitteln konnen. Seltsamerweise ist er von Krampfen – er leidet daran – immer nur nachts, oder wenn ich abwesend war, heimgesucht worden. Auf keine Frage, die an ihn gestellt wird, gibt er Antwort; darum ist es nicht moglich, uber seine Lage etwas zu erfahren. Es scheint, als resultieren die Anfalle, unter denen er leidet, aus irgend einer Anwandlung von Wut, deren Ursachen sich indessen nicht feststellen lassen, da er eben auf nichts antwortet ... Die anderen Geisteskranken erweisen ihm alle erdenkliche Aufmerksamkeit, fuhren ihn spazieren und unterhalten ihn, soweit sie es eben konnen.« Eben wollte der Doktor in einen Nebengang biegen, als der Mann, von dem er sprach, ihm gegenubertrat. Alle Anwesenden wichen unwillkurlich vor dem schrecklichen Anblicke, den der Mann bot, zuruck.
Der Mann war nicht wahnsinnig, simulierte aber Wahnsinn und Stummheit. Denn er hatte die Eule durchaus nicht in einem Anfalle von Wahnsinn umgebracht, sondern nur unter dem Einflu? eines jener hitzigen Fieber, von denen er zeitweilig, wie einmal auch in Bouqueval, befallen wurde.
In dem Diebsnest in den Elysaischen Feldern war er mit festgenommen worden, aber aus seinem Fieberanfalle erst in der Polizeiwachtstube, wohin man ihn einstweilen gebracht hatte, erwacht, und als er die Leute um sich her reden horte, er sei ein von Tobsucht befallener Narr, zu dem Entschlusse gelangt, diese Rolle weiter zu spielen und sich stumm zu stellen, um nicht in die Gefahr zu geraten, sich durch Reden zu gefahrden, falls an seinem Wahnsinne gezweifelt werden sollte ...
Die List war ihm gelungen. Man hatte ihn nach Bicetre gebracht. Dort simulierte er von Zeit zu Zeit Wutanfalle, aber um sich der Kontrolle des Oberarztes zu entziehen, fast immer nur nachts, und wu?te es gemeinhin auch so einzurichten, da? die Unfalle niemals so lange dauerten, bis der in der Anstalt anwesende Arzt seine Zelle erreicht haben konnte. Seine Genossen hatten, auch wenn ihnen bekannt gewesen ware, wo er sich aufhielte – was indessen nicht der Fall war – keinen Vorteil daraus gezogen, wenn sie ihn verraten hatten. Es war mithin schwer, den Nachweis seiner Identitat zu fuhren, zumal er uberhaupt in Paris nur eine sehr geringe Zahl von Genossen hatte – und so trug er sich mit der Hoffnung, in Bicetre vorlaufig nicht gestort zu werden.
Seit seine korperliche Unfahigkeit seinen schlimmen Gelusten einen Hemmschuh anlegte, hatte die Freiheit fur ihn kaum noch Reiz. Wahrend des gezwungenen Aufenthalts in Rotarms Keller hatte ubrigens die Reue bereits den Weg zu dem Herzen dieses Verbrechers gefunden, und oft waren ihm in seiner Einsamkeit und Abgeschiedenheit die Gespenster der von ihm ermordeten Menschen erschienen.
Dem Rauber, der noch in der Vollkraft des Mannesalters stand und ohne Zweifel noch viele Jahre vor sich hatte, der korperlich ein Riese war und auch seinen Verstand noch ungetrubt besa?, blieb also, wenn er sich vor Entdeckung schutzen wollte, die ihn aufs Blutgerust bringen mu?te, nichts anderes ubrig, als Wahnsinn und Stummheit weiter zu simulieren, denn nur dann war ihm die Moglichkeit, in Bicetre zu bleiben, gesichert. Aber es fiel ihm au?erordentlich schwer, seine Rolle weiter zu spielen, denn gegen die Wildheit seines Temperaments war er gar oft ohnmachtig.
Jetzt sa? er auf einer Bank, mit den Ellenbogen auf die Knie gestutzt. Seinen ha?lichen gro?en Kopf bedeckte ein Wald von grauem Haar. Dem Gesichte fehlten die Augen, aber schrecklicher noch wirkten die beiden Locher, die die vollig zerfressene Nase ersetzten, und die beiden schmalen Linien, die statt der Lippen den Mund