abzeichneten..

»O, Mutter, Mutter, sieh doch!« sagte Germain zu Frau Georges, »dieser Mensch mu? doch entsetzlich elend sein!« – »Ja, mein lieber Sohn,« antwortete Frau Georges, »ein solcher Anblick mu? einem das Herz zusammenschnuren.«

Aber kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als Bakel bis in sein innerstes Mark erbebte. Sein zerfressenes Gesicht erbleichte unter den Narben. Rasch erhob er sich und drehte das Gesicht nach der Seite, wo Germains Mutter stand, so da? diese einen Aufschrei nicht unterdrucken konnte, obgleich sie keine Ahnung davon hatte, wer dieser Ungluckliche sein mochte. Bakel hatte die Stimme seiner Frau erkannt, und die Worte, die eben aus ihrem Munde gefallen waren, hatten ihm verraten, da? sie mit ihrem Sohne sprach!

»Mutter,« fragte Germain, »was ist dir denn auf einmal?« »Nichts, nichts, mein Sohn,« antwortete sie, »mich hat blo? die jahe Bewegung erschreckt, die dieser Mann auf der Bank dort machte ... Und dann ist's auch der grausame Ausdruck in seinem Gesicht, der mich angstigt ... Ach, Herr, Doktor,« wandte sie sich zum Doktor Herbin, »verzeihen Sie mir diese plotzliche Schwache! Es tut mir fast leid, der Anwandlung von Neugierde nachgegeben zu haben... Ich hatte meinen Sohn lieber nicht begleiten sollen.«

»Aber, Mutter, wie kann es dich alterieren, was ein dir vollig fremder Mensch hier treibt?«

»Aber, Germain,« sagte jetzt seine Frau, unsere liebe Freundin Lachtaube, »zum zweiten Male setzen wir keinen Fu? wieder hierher, nicht wahr?« –

»O, du bist auch ein so kleiner Hasenfu?!« sagte Germain zu ihr, »nicht so, Herr Doktor?«

»Nun, mein lieber Herr,« antwortete der Doktor, »ich mu? bekennen, da? es mich auch erschreckt hat, das Gesicht dieses Mannes, als ich es zum ersten Male sah ... Und ich habe doch schon manches Elend gesehen!« – Darauf wandte er sich zu Bakel: »Nun, lieber Mann, wie geht es Ihnen denn heute?«

Bakel blieb stumm. – der Doktor klopfte ihm leicht auf die Achsel ... »O, Mann, horen Sie mich denn wirklich nicht?« fragte er. – Bakel gab wiederum keine Antwort, sondern lie? den Kopf sinken. Nach einer Weile perlte aus seinen Augen eine dicke Trane.

»Sehen Sie,« sagte der Doktor zu seinen Begleitern, »der Mann weint ...«

»Der arme Mensch!« rief Germain mitleidig aus.

Bakel uberrieselte es kalt. Jetzt hatte er deutlich die Stimme seines Sohnes gehort ... und sein Sohn hatte Mitleid mit ihm! Sein Sohn beklagte ihn!

»Was ist Ihnen, lieber Mann?« fragte der Doktor wieder; »bedruckt Sie irgend ein Kummer?« – Aber auch jetzt gab Bakel keine Antwort, sondern verhullte nur das Gesicht mit beiden Handen. – »Wir werden schwerlich etwas von ihm erfahren,« sagte der Doktor. –

»O, dringen Sie nicht weiter in ihn,« bat Germain. »Lassen Sie den Schleier uber seinem Jammer.«

Den Schulmeister uberlief ein Schauder, denn wieder vernahm er die Stimme seines Sohnes, wieder horte er, da? sein Sohn seinem Mitleid uber ihn Ausdruck gab.

Der Arzt fragte ihn, was mit ihm sei, was ihn denn schmerze; aber Bakel gab keine Antwort, sondern schlug beide Hande vor das Gesicht. Der peinliche Eindruck, den die Szene auf Frau Georges machte, entging dem Arzte nicht. Er wandte sich zu ihr mit den Worten: »Recht gut, da? wir nun zu Morel, dem Steinschneider, kommen. Trugt mich nicht alle Hoffnung, so werden Sie sich dort erleichtert fuhlen. Morels Anblick wird Ihnen wohltun, der seiner ehrsamen Frau und seiner wirklich sehr hubschen Tochter nicht minder.«

Darauf entfernte sich der Arzt mit den in seiner Begleitung befindlichen Personen, und Bakel blieb mit sich allein ... Mit tiefer Verzweiflung erfullte ihn die Gewi?heit, da? er von nun ab weder die Stimme seiner Frau, noch die seines Sohnes wieder horen werde; wohl hatte ihn einen Moment die Lust beschlichen, sich zu erkennen zu geben, da er aber recht wohl wu?te, da? er beiden nur gerechten Abscheu einflo?en konnte, da? es uber beide nur Schimpf und Schande brachte, wenn sein wirklicher Name bekannt wurde, hatte er lieber tausendfaltigen Tod erlitten, als sich offenbaren mogen, und unwillkurlich gedachte er der Worte, die Rudolf zu ihm gesprochen hatte, bevor er die grausige Strafe an ihm vollzog:

»Jedes Wort, das du sprachst, ist eine Gotteslasterung – hinfort aber soll kein anderes Wort uber deine Lippen kommen als Gebet ... Weil du dich stark gefuhlt, bist du kuhn und grausam gewesen; hinfort wirst du sanft und demutig sein, aber der Tag wird kommen, da du deine Opfer beweinen wirst. Den Verstand, den dir Gott gegeben, hast du gemi?braucht, du hast ihn erniedrigt zu einem verbrecherischen Instinkt, aus einem Geschopfe Gottes hast du dich zur Bestie gemacht; und doch hast du nicht einmal geachtet, was Bestien achten, weder dein Weibchen, noch dein Junges! Aber nach langer Bu?e fur dein Verbrechen wirst du Gott anflehen in deinem letzten Gebete, dir ein letztes Gluck, eine letzte Gnade zu gewahren: den Tod zwischen deinem Weibe und deinem Sohne!«

Mit einem wilden Aufschrei brach der Ungluckliche zusammen.

Zweites Kapitel.

Morel, der Steinschneider.

So schmerzlich sie der Anblick des Irrenspitales betroffen hatte, so blieb Frau Georges doch unwillkurlich vor einem vergitterten Hofe stehen, in welchem sich die unheilbaren Kranken dieser Gattung befanden ... jene armseligen Geschopfe, die oft nicht einmal den Instinkt des Tieres besitzen, von denen manche nicht einmal wissen, woher sie stammen, welcher Eltern Kinder sie sind! Die allen, ja sich selbst unbekannt, aller Empfindung bar, alles Denkvermogens beraubt, durch das Leben schleichen und nur die niedrigsten tierischen Bedurfnisse haben. Gemeinhin wird von diesem grausen Geschicke nur die armste Klasse der Gesellschaft betroffen, denn es pflegt nur im Scho?e der Armut zu hausen, nur in jenen widerwartigen stinkenden Hohlen des Elends, wo Mangel am Allernotwendigsten herrscht, wo der Mensch sich nicht als Mensch, sondern als Bestie zeigt.

Doktor Herbin brauchte Frau Georges nicht auf den Ausdruck von Vertierung und rohester Gefuhllosigkeit aufmerksam zu machen, der dem Gesichte solcher Unglucklichen unter den Menschen ein zugleich ha?liches und widerwartiges Aussehen gibt. Sie gingen fast samtlich in schmutzigen, zerrissenen Sachen, denn selbst die scharfste Wachsamkeit vermag diese der Vernunft beraubten Wesen nicht zu hindern, da? sie alles, was sie auf dem Leibe tragen, zerfetzen und besudeln, kriechen sie doch sogar fast immer wie die Tiere auf der Erde herum, oder hocken sich in irgend einen dunkeln Winkel des Schuppens, der sie vor den Unbilden der Witterung schutzen soll, oft ubereinander gekauert, wie Raubtiere in ihren Hohlen, oft knurrend, rochelnd, brullend wie diese, oft sich einander bei?end, wenn nicht gar zerrei?end, wie diese!

Auf einem Holzschemel, stumm und in die Sonne gaffend, hockte ein unheimlich feister Greis, mit der Gierigkeit eines Raubtieres sein Essen verschlingend, das ihm in einem holzernen Napfe gebracht worden war. Wild stierte er jeden an, der sich ihm naherte, und wehe dem, der die Hand nach seinem Napfe ausgestreckt hatte! Ein anderer rannte wie ein Lowe in seinem Zwinger in einem fort an den vier Wanden des Schuppens herum. Noch andere kauerten an der Erde, den Oberleib in einem fort hin und her wiegend, bald vor-, bald ruckwarts, die einformige Bewegung blo? unterbrechend, um einmal laut aufzuschreien oder ein blodes Lachen horen zu lassen. Die Vertiertesten aber waren jene, die in ganzlicher Stumpfheit die Augen nur wahrend der Essenszeit aufschlugen, die ganze andere Zeit aber wie leblos auf der Erde herumlagen, blind und taub gegen alles, was um sie her vorging, die keinen menschlichen Laut mehr von sich geben, die kaum noch den Mann erkannten, der ihnen als Warter zugeteilt war.

»O, diese armen, armen Menschen!« rief Frau Georges, von tiefem Mitleid fur diese Unglucklichen erfullt, die dem Leben ganzlich abgestorben sind, »es ist doch ein gar schmerzliches Bewu?tsein, da? es gegen solche Krankheit kein anderes Heilmittel gibt als den Tod.«

»Ja, gnadige Frau,« erwiderte der Doktor. »Gegen diese Krankheit kennen wir noch kein wirksames Heilmittel. Ganz ohnmachtig sind wir gegen sie, wenn sie erst nach den Pubertatsjahren auftritt. Solange der Mensch noch Kind ist, la?t sich wenigstens durch eine gewisse Erziehung das Atom von Verstand, das noch in seinem Geiste vorhanden, wenn auch immerhin nur in einem ma?igen Grade, zur Entwickelung bringen. Freilich gehort ebensoviel Scharfsinn wie Ausdauer dazu, einigerma?en befriedigende Resultate zu erlangen. Durch gleichzeitige Hebung der leiblichen wie der geistigen Krafte kann man es dahin bringen, da? Irrsinnige die Buchstaben und Zahlen verstehen, auch die Farben unterscheiden lernen, ja man hat einzelne soweit gedrillt, da? sie eine Art Chorgesang uben, wenn auch dabei gesagt werden mu?, da? es recht trubselig wirkt, ihre klaglichen, oft auch recht schmerzlichen Stimmen in einem Liede sich vereinigen zu horen, fur dessen Worte kein einziger

Вы читаете Die Geheimnisse von Paris
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату