gekommen, Ihnen wieder einmal recht herzlich guten Tag zu sagen!«
»O, sehe ich denn recht?« rief jetzt Morel, die Hande uber den Kopf schlagend, »das ist doch das liebe Fraulein Lachtaube! Und der junge Mann dort ist doch kein anderer als Herr Germain!« Auf seinem Gesichte pragte sich aber ein solches Staunen aus, da? alle fast wieder erschrocken waren. Nur der Doktor winkte beruhigend, er wu?te, da? Morels Verstand jetzt unversehrt bleiben werde, nachdem die schwere Krisis uberwunden war.
»Ach, und uns durfen Sie doch nicht vergessen!« sagte jetzt Anastasia, die nun mit Alfred hinzutrat, »uns alte Bekannte aus der Pfortnerstube werden Sie doch sicher noch nicht vergessen haben! Pipelet und seine Frau? Wie? Wir sind und bleiben Freunde auf Leben und Tod,« setzte sie lachend hinzu, »sagen Sie kein Wort, mein lieber Morel, sondern freuen Sie sich mit uns uber den schonen Tag, den uns der liebe Herrgott alle mitsammen erleben la?t!«
»Pipelet? Alfred und seine Frau bei mir?« stammelte Morel, noch immer nicht ganz Herr seiner Stimme, »soviel Menschen hier beisammen, um mich zu begru?en? Das ist mir aber doch nicht mehr passiert, seit ich denken kann! – Aber, aber – du bist es doch, Luise? Bists doch wirklich?«
»Jawohl, mein armer Vater, ich bins,« erwiderte Luise, »und da ist auch die Mutter, und dort deine guten alten Bekannten – und von uns allen wird keiner dich mehr im Stiche lassen, sondern wir wollen alle, alle recht glucklich und frohlich zusammen sein.«
»Glucklich?« wiederholte Morel, »aber wartet! Da mu? ich mich erst besinnen ... Ist es mir doch, als hatte man dich ins Stockhaus abfuhren wollen? Luise – wie verhalt es sich damit?«
»Du hast recht, Vater,« antwortete Luise, »man hatte mich ins Gefangnis abgefuhrt, und das hatte dir so schrecklich, schrecklich leid getan! Aber, Vater, man hat mich freisprechen mussen, und so bin ich wieder freigelassen worden, und niemand, niemand kann deiner Luise etwas nachreden.«
»O, ich besinne mich jetzt weiter,« sagte Morel wieder, »es war doch noch ein Mann dabei im Spiele ... Ja, richtig, ein Advokat, ein Notar, Ferrand hie? er, jetzt wei? ich es – was ist mit ihm?«
»Vater, der bose Mensch ist von seinem Schicksal ereilt worden: er ist tot, schon seit Wochen tot.«
»Der tot?« fragte Morel, »ist's auch wahr, Kind? O, wenns wahr ist, dann – dann konnen wir glucklich sein, oder zum wenigsten noch einmal glucklich werden – er war ein gar boser, boser Mensch!« – Dann schwieg er eine Weile. Dann rief er plotzlich: »Aber wo stecke ich denn eigentlich? Das ist doch die Wohnung nicht, in der ich mit euch zusammen gehaust habe?«
»Nein, freilich ist's nicht Ihre Wohnung,« entgegnete der Arzt, nun wieder das Wort nehmend, »aber Sie waren gefahrlich krank geworden, und da war es notwendig, Ihnen einen Aufenthalt auf dem Lande vorzuschreiben ... Darum sind Sie hier! Sie litten an einem hitzigen Fieber und redeten irre.«
»Richtig! Auf das letztere besinne ich mich?« antwortete Morel, »das war jedoch vor meiner Krankheit. Ich redete gerade mit meiner Tochter ... und ... wer war es denn noch? Es war doch noch jemand da ... wer war das gleich? ... O, jetzt fallts mir ein: ein sehr edler Herr wars, ein Herr namens Rudolf ... der verhinderte, da? man mich verhaftete ... Was aber von da ab vorgegangen, wei? ich nicht mehr ... Nein, auf alles Weitere kann ich mich nicht mehr besinnen.«
»Das erklart sich leicht,« antwortete der Doktor, »es war Ihnen eben das Gedachtnis geschwunden, aber der Anblick Ihrer Tochter, Ihrer Frau und Ihrer alten Bekannten hat Ihnen die Besinnung wiedergegeben.«
»Aber bei wem bin ich denn jetzt? Wem gehort denn dieses Haus, worin ich mich jetzt befinde?«
»Sie wohnen bei einem guten Freunde des Herrn Rudolf, von dem Sie eben sprachen,« erwiderte Germain schnell; »in der Annahme, da? Ihnen eine Luftveranderung gut tun werde, hat man Sie hierher gebracht.«
Da? er irrsinnig gewesen, darauf besann sich – wie das ja vielfach bei Geisteskranken der Fall ist – Morel nicht im geringsten ... Was soll ich nun weiter noch berichten? Nur kurze Zeit noch wahrte es, dann stieg Morel, gefuhrt von seiner Frau und seiner Tochter, in Begleitung eines Assistenzarztes, den Doktor Herbin aus Fursorge mit nach Paris schickte, in einen Fiaker und verlie? Bicetre, ohne die geringste Ahnung davon, da? er wochenlang in der Abteilung fur Geisteskranke zugebracht hatte ...
Viertes Kapitel.
Doktor Herbin.
»Sie halten den Kranken fur vollstandig geheilt?« fragte Frau Georges den Arzt, der sie bis zum Haupttor von Bicetre begleitet hatte.
»Ja, liebe Frau,« versetzte Herbin, »ich lasse ihn mit gutem Vorbedacht mit seinen Angehorigen zusammen, denn ich rechne, da? diese Wiedervereinigung von gutem Einflusse sein wird. Um alles in der Welt nicht hatte ich ihn jetzt von ihr trennen mogen. Zudem wird einer meiner besten Assistenten so lange noch bei ihm bleiben, bis alle Gefahr einer Wiederkehr der schlimmen Anfalle fur ausgeschlossen gelten darf. Er wird auch bestimmte Weisungen uber das Verhalten bei den Angehorigen hinterlassen, das dem Rekonvaleszenten gegenuber beobachtet werden mu?. Solange wie ich nicht die vollstandige Zuversicht von seiner Genesung besitze, werde ich ihm selbst taglich meinen Besuch machen. Ich nehme ja nicht blo? personlich innigen Anteil an seinem weiteren Schicksale, sondern bin von dem Geschaftstrager des Herrn Gro?herzogs von Gerolstein, Konigliche Hoheit, beauftragt worden, dem Kranken alle personliche Sorgfalt zuteil werden zu lassen, die mir Amt und Neigung gestatten.«
Germain sah seine Mutter bedeutungsvoll an, und die Mutter erwiderte den Blick des Sohnes. – »Verbindlichsten Dank, Herr Doktor,« sagte Frau Georges, an der Au?enpforte angelangt, »fur all Ihre Gute. Es war mir eine Freude, all die Fortschritte zu beobachten, die Ihre Wissenschaft auf diesem Gebiete errungen hat.« –
»Und ich, liebe Frau, fuhle mich doppelt begluckt uber den Erfolg, der einen so wackeren Menschen den Seinen wieder in die Arme gefuhrt hat.« –
Kurz nachher hatte Frau Georges mit ihren Kindern, Germain und Lachtaube, die Anstalt fur Geisteskranke verlassen, zusammen mit ihnen auch Herr und Frau Pipelet. Gerade als Doktor Herbin wieder in den Hof trat, kam ihm ein hoherer Anstaltsbeamter entgegen ... »Lieber Herr Doktor,« sprach dieser ihn an, »Sie haben keine Ahnung davon, welchem Auftritte ich beigewohnt habe ... Fur einen Beobachter wie Sie gabe das eine unerschopfliche Quelle fur Ermittelungen.« –
»Was fur ein Auftritt ist's denn gewesen?« fragte Herbin.
»Nun, es ist Ihnen doch bekannt, da? zwei Weibsbilder in unserm Zuchthause sitzen, Mutter und Tochter, die morgen hingerichtet werden sollen.«
»Ja, das wei? ich allerdings.«
»Nun, solches Ueberma? von Frechheit und Kaltblutigkeit, wie diese Mutter besitzt, ist mir mein Lebtag noch nicht vorgekommen.«
»Sie sprechen doch von niemand anderm als jener Witwe Martial, die sich bereits in der Gerichtsverhandlung so merkwurdig frech und roh benahm? O, das ist ein verteufeltes Weib.«
»Ganz recht!« antwortete der Beamte, »aber lassen Sie sich erzahlen, was sich dieses Weib herausgenommen hat! Sie suchte darum nach, mit ihrer Tochter bis zur Hinrichtung die gleiche Zelle zu teilen. Das wurde ihr zugestanden. Die Tochter ist weit weniger verstockt als die Mutter. Je naher ihr letztes Stundlein heranruckt, desto angstlicher und beklommener wird sie, wahrend die Alte immer rabiater wird. Eben war der Gefangnisgeistliche bei den beiden Weibern, um ihnen die letzten Trostungen der Religion zu bringen. Die Tochter wollte dem Geistlichen zu Willen sein, die Mutter aber, keinen Moment ihre eiskalte Ruhe verlierend, ubergo? ihre Tochter mitsamt dem Geistlichen mit solch ma?losem Spott und Hohn, da? letzterer sich gezwungen sah, die Zelle zu verlassen, waren doch all seine Bemuhungen, die rabiate Person zur Vernunft zu bringen, absolut vergeblich.«
»So etwas am Tage vor einer Hinrichtung ist mir allerdings auch noch nicht vor die Augen gekommen.«
»Die Martials sind Leute, die gewisserma?en von einem uralten Fatum verfolgt werden. Der Vater ist auf dem Schafott gestorben, ein Sohn im Zuchthause, ein anderer, ebenfalls zum Tode verurteilt, ist vor ein paar Wochen im Verein mit einigen anderen aus Bicetre ausgebrochen. Nur der alteste Sohn und zwei jungere Kinder sind brav geblieben. Und doch hat dieses bose Weib ihren altesten Sohn, wenngleich er der einzige ehrliche Mensch ist von den Erwachsenen der ganzen Familie, auf morgen zu sich beschieden, um ihm ihren letzten Willen mitzuteilen.«