»Das wird ein schones Wiedersehen geben!« meinte Doktor Herbin.

»Hatten Sie keine Lust, ihm beizuwohnen?« fragte der Beamte den Arzt.

»Offen gestanden, nein!« antwortete dieser; »Sie kennen meine Ansichten uber die Todesstrafe, und mich darin zu bestarken, suche ich nicht nach Gelegenheiten, am wenigsten nach Hinrichtungen. Behalt dieses Weib ihren unbandigen Charakter bis aufs Schafott bei, dann beklage ich das ha?liche Schauspiel, das dem Volke wiederum gegeben werden wird.«

»Bei dieser Doppel-Hinrichtung beruhrt mich ein Umstand noch besonders unangenehm, der Tag namlich, den man dafur festgesetzt hat.«

»Mittfasten meinen Sie?« – »Jawohl, denn da die Hinrichtung fruh um sieben stattfindet, la?t sich noch rechnen, da? Scharen von Masken, die sich die Nacht uber auf allen moglichen Ballen und Tanzmusiken herumgetrieben haben, dem Delinquentenwagen in den Weg kommen werden.«

»Allerdings, und einen ha?licheren Kontrast wird man sich schwerlich denken konnen.«

Am andern Morgen, in der funften Stunde, besetzten verschiedene Militar-Abteilungen, teils Infanterie, teils Kavallerie, die Zugange von Bicetre.

Funftes Kapitel.

Die letzten Stunden der Delinquenten: Mutter und Tochter.

Ein dunkler Gang, nur von wenigen Fenstern sparlich erleuchtet, fuhrt in Bicetre zu dem Kerker hinunter, in welchem die zum Tode verurteilten Verbrecher ihre letzten Stunden verleben.

Sein Licht erhielt die Zelle durch eine einzige Oeffnung im obern Teile der Tur, die auf den eben erwahnten, ebenfalls ziemlich dunklen Gang hinunter fuhrte. In diesem Kerker mit niedriger Decke, mit feuchten und grunlichen Wanden und kalten steinernen Fliesen liegt Frau Martial mit ihrer Tochter in Ketten. Ihr Gesicht erscheint hart, starr und bleich wie ein Marmorbild in dem hier herrschenden Halbdunkel.

Ueber das schwarze Kleid, das sie an hat, hat man ihr die Zwangsjacke gezogen: eine Art Kutte aus grobem grauen Zeuge, die auf dem Rucken zusammengeschnurt wird und deren Aermel wie Sacke vorn zugebunden werden. Da sie infolgedessen die Hande nicht gebrauchen kann, hat sie sich die Haube, die ihr bei der druckenden Warme lastig wurde, abnehmen lassen. Graues Haar fallt ihr auf die Achseln nieder. So sitzt sie auf ihrem Bett, halt die Fu?e auf den steinernen Boden gestutzt und starrt unverwandt ihre Tochter an, die am entgegengesetzten Ende des Kerkers kauert.

Auch ihr ist die Zwangsjacke ubergeschnallt worden. Sie lehnt sich in halb liegender Stellung gegen die Wand. Der Kopf ist ihr auf die Brust gesunken, ihr Atem geht kurz und schwer, ihre Augen blicken starr vor sich hin. Von Zeit zu Zeit werden ihre Kinnladen von heftigem Zittern befallen: ihr Gesicht hat aber, trotz der bleichen Farbe, die es uberzieht, einen ziemlich ruhigen Ausdruck.

Neben der Tur, am andern Ende des Kerkers, sitzt ein mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmuckter Invalide auf einem Holzschemel. Sein Gesicht ist rauh und verbrannt von der Sonne; ein langer grauer Schnurrbart ziert es. Sein Scheitel ist kahl. Er ist den beiden Delinquenten als Wachter gesetzt.

»Hundekalt ist's hier,« sagte die Tochter nach einer Weile, »und doch brennen mir die Augen, doch qualt mich ein ma?loser Durst.« – Sie wendet sich zu dem Invaliden und bittet ihn um Wasser. Der greise Invalide erhebt sich, nimmt von der Bank einen Zinnkrug, gie?t ein Glas daraus voll, tritt zu dem Madchen und la?t sie langsam trinken. Da die Zwangsjacke sie am Gebrauch der Hande hindert, mu? er ihr den Krug an den Mund halten. Als sie ihren Durst geloscht hat, dankt sie dem Soldaten, der sich mit der Frage, ob auch sie trinken wolle, an die Mutter wendet.

Die Alte aber macht ein verneinendes Zeichen.

Darauf setzt sich der Invalide wieder.

Eine lange Pause tritt ein. Dann fragt die Tochter, wieviel die Uhr sei.

»Bald halb funf,« antwortet der Invalide.

»Also noch drei Stunden!« ruft das Madchen. Um ihre Lippen spielt ein gra?liches Lachen ... »In drei Stunden also!« wiederholt sie. Dann schweigt sie. Es ist ihr nicht moglich, ein weiteres Wort zu sagen.

Die Mutter zuckt die Achseln ... »Mutter,« sagt die Tochter, ihre Gedanken erratend, »du bist mutiger als ich. Ich glaube, dich wandelt nie Schwache an?«

»Schwache?« wiederholt die Mutter; »da? ich nicht wu?te ... Hab das Ding nie gekannt, so alt ich bin.«

»Das seh' ich dir auch jetzt an, Mutter,« spricht die Tochter, »dein Gesicht ist so ruhig, wie wenn du meintest, am Kuchenherde zu hocken oder bei deiner Flickarbeit ... O, die gute Zeit, da wir auf der Insel zusammen sa?en, ist vorbei – vorbei fur immer!«

»Schwatz doch kein Blech!« rief knurrend die Alte.

»Soll man dasitzen und stieren?« fragte die Tochter, »da ist schwatzen doch noch besser!«

»Weils dich betaubt, feige Memme!«

»O, wenns blo? das ware, Mutter!« erwiderte die Tochter, »aber wer ist denn so couragiert wie du, Mutter? Ich habe ja mein moglichstes getan, um dir nicht nachzustehen, habe, weil du es nicht leiden mochtest, nicht auf den Geistlichen gehort ... vielleicht war es aber doch nicht recht von mir, denn« – die Delinquentin uberrieselte es kalt – »was wird nachher kommen? Was – wird – nachher – kommen?« wiederholte sie mit schauerlicher Betonung.

»In drei Stunden – wirst du es – wissen!« antwortete die Mutter, den schauerlichen Tonfall der Tochter nachahmend.

»Wie kaltblutig du das aussprichst!« erwiderte die Tochter. »Mutter, Mutter! Du bist nicht krank, ich auch nicht – und doch sollen wir beide – in drei Stunden – zu leben – aufhoren!«

»Ja doch,« versetzte die Mutter, »in drei Stunden wirds aus sein, wirst du vom Leben zum Tode gebracht worden sein wie eine echte Martial! Schwarz wird's dir vor den Augen werden, das ist das einzige! Sonst wirst du weiter nichts erleben – sonst weiter nichts!«

Mit langsamer, tiefer Stimme mahnte der Invalide zur Stille ... »Da? Sie so zu Ihrem Kinde sprechen, alte Frau,« sagte er, »ist eine Sunde – eine schwere Sunde! Besser, weit besser hatten Sie getan, wenn Sie dem Geistlichen erlaubt hatten, mit ihr zu reden!«

Von neuem zuckte die Witwe die Achseln, und ohne dem greisen Soldaten einen Blick zuzuwenden, nur die Achseln verachtlich zuckend, sagte sie:

»Zeige dem Volke, das sich zu dem letzten Akte einfinden wird, Tochter,« – und sie versuchte die Hande wie mahnend aufzuheben – »zeige dem Volke, mein Kind, da? wir Weiber mehr Herz im Leibe haben als all dies Mannerpack mitsamt ihren Pfaffen und ihren Soldaten! Memmen sind's, Memmen!«

Der Invalide fa?te sie zornig ins Auge ... »Kommandant Lebleu war der tapferste Offizier des dritten Jagerbataillons. In der Bresche zu Saragossa sank er, von Wunden bedeckt, nieder. Ich habe gesehen, wie er sich bekreuzte, bevor er die Augen auf ewig schlo?.«

»Sie waren doch nicht etwa sein – Sakristan?« fragte hohnisch die Witwe. –

»Ich war sein Korporal,« erwiderte stolz der Invalide, »und wenn ich Ihnen von seinem Tode erzahlte, geschah es nur zu dem Zwecke, um Ihnen zu zeigen, da? man im Sterben auch den Weg zum Gebet finden kann, ohne feige zu erscheinen.«

Die Tochter musterte den Invaliden, einen echten Soldatentypus aus der gro?en Zeit des Kaiserreiches, mit gespanntem Blicke. Ueber das sonnenverbrannte Gesicht zog sich eine tiefe Narbe, die sich an der linken Wange in dem grauen Schnurrbarte verlor. Seine schlichten Worte machten auf die Tochter einen tiefen Eindruck. Er war sicher einer der Tapfersten unter dem gro?en Kaiser gewesen: au?er der Wunde im Gesicht verkundete es das rote Band im Knopfloche.

Das Madchen hatte die Trostungen des Geistlichen weniger aus Verstocktheit als aus falscher Scham und aus Furcht vor dem Hohne ihrer Mutter zuruckgewiesen. Jetzt wirkten die Worte des greisen Soldaten im entgegengesetzten Sinne auf sie. Jetzt meinte sie, frei von der Furcht, feige zu erscheinen, ihrer religiosen Empfindung nachgeben zu durfen, sagte sie sich doch, da? ihr als einem Weibe es schlecht anstehen mochte, hinter Mannern zuruckstehen zu wollen ...

»Und wenn es nur eins genutzt hatte,« schlo? sie ihren Gedankengang, »wenn es mich blo? betaubt hatte – denn – was wird – nachher sein?« fragte sie wieder, von kaltem Schauder geschuttelt ... »Nachher – wer

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