dieser Sanger Verstandnis hat ... Aber wir sind jetzt in der Abteilung angelangt, die den Steinschneider Morel beherbergt. Ich habe empfohlen,« sagte der Irrenarzt, »ihn heut morgen absolut nicht zu storen, ihn mit gar nichts zu behelligen, damit er dem Eindruck, den ich auf ihn hervorzubringen hoffe, vollig unbeeintrachtigt, vollig uninteressiert fur anderes, sich hingeben konne.«
»Wie zeigt sich denn bei ihm die Krankheit?« fragte Frau Georges den Arzt, jedoch leise, da? Luise sie nicht horen konnte.
»Er steht unter dem Wahne, die Summe von 1300 Franks aufbringen zu mussen, die er einem gewissen Ferrand schuldig sei, weil, wenn er dazu nicht imstande sei, seine Tochter Luise dann ihr Haupt unter das Fallbeil legen musse.«
»Ach, Herr Doktor,« erwiderte Frau Georges, »dieser Ferrand ist ein sehr boser Mensch gewesen! Ein Gluck fur die Menschheit, da? der Tod sie von ihm erlost hat! Luise Morel und ihr armer Vater sind nicht die einzigen Opfer, die seine Schlechtigkeit vernichtet hat! Auch meinen Sohn hat er mit dem ma?losesten Hasse verfolgt.«
»Fraulein Luise Morel,« antwortete der Arzt, »hat mir alles erzahlt. Ja, Sie haben recht, liebe Frau, es ist ein Gluck fur die Menschheit, da? der Tod sie von ihm erlost hat. Doch gedulden Sie sich, bitte, eine Weile! Ich will in die Zelle des armen Mannes gehen und erst einmal sehen, wie es um sein Befinden steht.« – Ehe er aber fortging, winkte er Luisen zu sich heran und sagte leise zu ihr: »Mein liebes Kind, geben Sie, bitte, recht genau acht auf jedes Wort, jeden Wink von mir! Sobald ich Herein rufe, mussen Sie kommen. Aber allein, ganz allein, verstehen Sie? – Und erst, wenn ich zum zweiten Male Herein rufe, durfen die anderen sich zeigen.«
»Ach, lieber Herr Doktor,« antwortete das Madchen, sich die Tranen aus den Augen wischend, »mir ist das Herz so beklommen! Was sollte blo? mit meinem armen Vater werden, wenn auch dieser Versuch zu seiner Heilung scheitern sollte.«
»Hoffentlich,« sagte der Arzt, »wird das Gegenteil der Fall sein, hoffentlich wird das Experiment ihn retten. Darauf vorbereitet habe ich ihn schon lange. Beruhigen Sie sich also und denken Sie nur daran, was ich Ihnen eben ans Herz gelegt habe.«
Nach diesen Worten trat der Arzt in eine Zelle, deren vergitterte Fenster in den Garten hinaus fuhrten. Morels Aussehen hatte sich gegen fruher erheblich gebessert. Durch die Ruhe, die gesunde Kost und die angemessene Pflege war die leichenhafte Blasse von seinem Gesichte gewichen und hatte einer leichten Rote das Feld geraumt. Er war auch nicht mehr so schrecklich mager wie vorher. Aber ein trubsinniges Lacheln und ein stierer Ausdruck in seinem Blicke verrieten, da? sein Verstand noch immer nicht vollig zuruckgekehrt war.
Er sa?, als der Arzt eintrat, in gebuckter Haltung vor einem Tische und bewegte den rechten Arm, als sei er mit seiner gewohnlichen Arbeit beschaftigt... »Dreizehnhundert Franks,« murmelte er vor sich hin, »dreizehnhundert Franks mu? ich heut noch zusammenbringen, denn ich bin sie ja Ferrand schuldig, und wenn ich sie dem Bosewicht nicht bezahle, dann bringt er meine arme Tochter, meine kleine Luise, aufs Schafott; ganz sicher, denn in dem Herzen dieses Menschen wohnt kein Mitleid, keine Spur von Mitleid!« Und schneller hantierte er, schneller fuchtelte er mit dem Arme in der Luft hin und her ... »Arbeiten, arbeiten mu?t du, Morel, denn du bist kein reicher Mann, du kannst das Geld nur schaffen, wenn du tuchtig arbeitest, und dreizehnhundert Franks sind keine Kleinigkeit – bis die beisammen sind, brauchts Zeit! brauchts Zeit!«
Diese Gedanken hatten seinen Wahnsinn erzeugt, und uber sie war er auch noch nie hinausgekommen, seit er erkrankt war ... Aber die Anfalle hatten sich in den letzten Wochen immer seltener gezeigt. Deshalb war es dem Doktor Herbin recht schmerzlich, da? dieser Anfall gerade heute hatte wiederkehren mussen, wo er das entscheidende Experiment mit ihm vorhatte. Aber er nahm sich vor, diesen Umstand fur sein Vorhaben auszunutzen. Er schuttete aus seiner Borse 65 Louisdor in die Hand und trat ohne weiteres, mit dem Gelde klimpernd, zu Morel heran, der, in seine Hantierung vertieft, den Eintritt des Doktors noch nicht bemerkt hatte.
Drittes Kapitel.
Das Experiment.
»Lieber Morel,« redete der Arzt ihn nun an, »ich dachte, Sie hatten nun genug gearbeitet! Wie lange solls denn noch dauern, bis Sie das Geld beisammen haben wollen? ... Sie vergessen ja ganz, zu rechnen! In acht Wochen haben Sie ja oft genug soviel Geld zusammengebracht. Nicht wahr? Na, sehen Sie, diesmal hat es sich auch wieder gemacht. Da haben Sie die dreizehnhundert Franks, die Sie brauchen, um Ihre Tochter Luise zu retten ... Der Juwelier hat sie eben hergeschickt und la?t Ihnen dabei sagen, Sie mochten nun einmal acht Tage Rast machen, denn so flei?ig wie Sie konnte kein Mensch, ohne seiner Gesundheit zu schaden, arbeiten!«
Der Arzt zahlte Morel die dreizehnhundert Franks auf den Tisch.
»O, dann ist mein Kind gerettet!« rief Morel, gierig das Geld einstreichend, »aber nun mu? ich auf der Stelle zu dem Notar rennen, damit ich mit dem Gelde nicht etwa zu spat komme, denn der Mann hat nie Rucksicht, nie Schonung gekannt.« Er sprang auf und rannte auf die Tur zu ...
Da rief der Doktor laut: »Herein!« Er war in der gespanntesten Erwartung, da von dem ersten Eindrucke, den der Steinschneider hatte, dessen Heilung abhangig sein konnte ... Kaum war das Wort uber seine Lippen, als auch die Tur aufging, zu der Morel hinausrennen wollte, und Luise auf die Schwelle trat.
Ganz verblufft fuhr Morel zuruck und lie? das Geld aus den Handen auf die Dielen rollen. Ein paar Sekunden gaffte er Luisen an, denn er hatte sie noch immer nicht erkannt, schien sich aber zu bemuhen, Licht in sein Gedachtnis zu bringen. Langsam trat er ihr dann naher, betrachtete sie aber noch immer mit Scheu und offenkundiger Unruhe, wahrend Luise, zitternd vor Erregung, kaum die Tranen zuruckhalten konnte. Der Arzt, aufmerksam alle Bewegungen im Gesichte des Kranken verfolgend, winkte ihr, sich noch ruhig zu verhalten.
Da beugte sich Morel zu seiner Tochter, fing an, bleich zu werden, fuhr sich mit beiden Handen uber die von Schwei? triefende Stirn und machte einen Versuch, sie anzusprechen. Aber die Stimme erstarb ihm auf den Lippen, seine Blasse nahm zu, er gaffte sie wie versteinert an, dann blickte er sich scheu um, wie aus einem Traume erwachend ...
»Gut so, gut!« sagte der Arzt leise zu Luisen, »das ist ein recht gutes Zeichen! Wenn ich nun wieder Herein sage, dann sinken Sie ihm in die Arme und nennen Sie ihn Vater!«
Morel legte die Hande wieder uber der Brust zusammen, begaffte sich von Kopf bis zu Fu?en, wie wenn er sich uberzeugen wollte, da? er es auch wirklich noch sei, auf sein Gesicht trat eine peinvolle Unsicherheit, statt die Augen auf seine Tochter zu richten, schien er sich ihren Blicken vielmehr entziehen zu wollen, endlich aber hub er mit leiser Stimme zu sagen an:
»Nein! Nein! Kein Traum! Oder doch ein Traum? Wo bin ich? – Nicht moglich! – Es ist doch ein Traum! Denn sie – sie ist es nicht!« – Und als seine Blicke auf die uber die Dielen rollenden Geldstucke fielen, fuhr er fort: »Und dieses Gold – ich besinne mich nicht – Aber – bin ich wach oder nicht? – Mir geht alles im Kreise herum – ich getraue mich nicht, hinzusehen – Ich schame mich – das ist doch meine Luise nicht!«
Da rief der Doktor zum andern Male Herein! – Und Luise sagte, tief ergriffen, wahrend ihr die Tranen uber die Wangen rannen, und dem Vater in die Arme sinkend, als eben ihre Mutter, Lachtaube, Frau Georges, Germain und Herr und Frau Pipelet hereintraten: »Aber, Vater, so erkenne mich doch! Ich bin ja deine Luise, deine Tochter!«
»Herrgott!« rief Morel, wahrend Luise ihn mit den Armen umschlungen hielt, »wo bin ich denn eigentlich? Was will man von mir? Was ist vorgegangen? Das kann ja kein Mensch fur moglich halten! Das kann ich unmoglich glauben!«
Nach einer Pause nahm er Luisens Kopf zwischen die Hande und blickte sie unverwandt an. Dann rief er, wahrend seine Brust sich hoher und hoher hob: »Luise!« – Der Doktor aber sagte mit zuversichtlicher Betonung: »Er ist gerettet! Er ist gerettet!« –
Jetzt trat auch Morels Frau vor ihn hin und redete ihn an: »Mein lieber, lieber Mann! Mein lieber, armer Mann!«
Morel aber erwiderte: »Ja, das ist meine Frau! Und nun erkenne ich auch mein Kind, meine Luise!«
Da rief Lachtaube lustig: »Na, und mich, lieber Herr Morel, mich werden Sie doch auch erkennen? Sehen Sie doch nur: Sind nicht all Ihre Freunde da?«
Da nahm auch Germain das Wort: »Ja, sehen Sie doch nur recht, Herr Morel! Es sind all Ihre guten Freunde