unter seinem Spitznamen Rotarm kannte. Es war ein bleicher, hagerer Mensch von etwa funfzig Jahren, mit einem Gesicht, das mit seiner spitzen Nase und starken Backenknochen an dasjenige eines Marders erinnerte. Die kleinen schwarzen Augen mit ihrem scharfen, durchdringenden Blicke gaben ihm einen erstaunlichen Ausdruck von Schlauheit und Verstand. Auf dem schon stark ergrauten Hinterkopfe sa? eine alte, schon stark vergilbte Perucke, die von seiner gelben Haut kaum abstach. Er trug, wie die Kellner in Weinschenken, eine graue Jacke und lange, schwarzliche Schurze.

Kaum waren die drei Gaste die Treppe hinunter, als ein Kind von hochstens zehn Jahren, klein, lahm und verwachsen, aber mit klugem, wenn auch bleichem, kranklichem Gesicht, zu dem Wirte trat. Auf den ersten Blick sah man, da? es dessen Sohn war, denn es sah ihm wie aus dem Augen geschnitten ahnlich, hatte denselben scharfen, durchdringenden Blick, auch seine Stirn verschwand fast unter dem Walde von gelblichen, harten, borstenahnlichen Haaren. Das braune Beinkleid und die graue Kutte, die er anhatte, wurden durch einen Ledergurtel uber der Taille gehalten.

»Na, da ist er ja, unser kleiner Hinkefu?«, sagte Bakel, »Finette, tummle dich! Der Abend bricht herein. Wir mussen die Zeit, so lange es noch hell ist, wahrnehmen.« – Zu Rotarm gewandt, setzte er hinzu, dessen mit dunner Fistelstimme gesprochenen Gru? durch ein paar Klapse auf die Schulter erwidernd: »Horst du, meine Frau braucht auf eine Viertel- oder halbe Stunde deinen Jungen. Sie hat auf dem Wege hierher etwas verloren. Er soll ihr suchen helfen.« – Rotarm blinzelte dem Rauber zu und befahl seinem Jungen, der Eule zu folgen. – Der ha?liche Junge, durch das boshafte und ha?liche Gesicht der Eule angezogen, hinkte zu ihr heran und lie? ihr seine Hand ... »Na, solche artigen Kinder la?t man sich doch gefallen,« sagte die Einaugige; »da war ich freilich mit meinem Balge schlimmer dran; die ekelhafte Johre zog immer, wenn ich sie rief, ein Gesicht, als wenn sie Essig geschluckt hatte. Na, dann komm, Hinkebein! Mannchen,« dann wandte sie sich an Bakel, »ich werde auf der Stelle wieder da sein.«

Rudolf mu?te sich, um den Weg zur Tur herein zu finden, bucken. Als er in die wunderliche Schenke trat, sah er auf den ersten Blick, da? sie aus zwei getrennten Raumen bestand. Zwei schmale Fenster mit kleinen, von Spinnweben uberdeckten Fenstern erhellten sie kaum. An ihren Wanden hing feuchter Schimmel. Rotarm und Bakel hatten, wahrend Rudolf sich durch die Tur zwangte, Zeit gefunden, schnell ein paar leise Worte, von mancherlei geheimen Zeichen begleitet, zu wechseln ... »Ich trinke einen Becher Schnaps«, sagte der Rauber, sich an einen der kleinen grunen Tische setzend, die in der andern Stube standen.

Hier unten wurde es so dunkel, da? niemand den dort gahnenden Eingang zu den fast immer durch eine Falltur geschlossenen Keller hatte sehen konnen. Dicht bei ihm stand der Tisch, an den sich der Rauber setzte, und zwar so, da? er das dunkle tiefe Loch mit dem Rucken vor Rudolfs Augen vollstandig verdeckte. Rudolf blickte, um die Unruhe, die ihn qualte, zu verbergen, zum Fenster hinaus. Er hatte Bange, da? Murph doch die wenigen, zudem undeutlich geschriebenen Worte auf dem zusammengeknullten Papiere nicht vollig verstanden haben mochte, und da? ihm in letzter Stunde noch die Gelegenheit, Kenntnis von den Geheimnissen zu erhalten, die ihn so lebhaft beschaftigten, entgehen mochte. Da? er es mit einem hinterlistigen Morder zu tun hatte, der vor keiner Gewalttat zuruckschreckte, und dessen Kraft und Gewandtheit der seinigen kaum nachstehen mochten, daruber war er sich keine Sekunde im Zweifel.

Anderseits waren ihm starke Aufregungen derart zum Bedurfnis geworden, da? er in den Hindernissen, die sich seinem Plane gegenuberstellten, einen gewissen prickelnden Reiz fand. Um aber keine Ursache zu Argwohn zu geben, nahm er neben Bakel an dem Tische Platz und bestellte sich ebenfalls einen Becher Schnaps. Rotarm ma? ihn, nachdem er abermals ein paar leise Worte mit Bakel gewechselt, mit neugierigen, hohnischen, wohl auch mi?trauischen Blicken.

»Was meinen Sie, wenn wir, falls meine Frau mit dem Bescheide kommt, da? die Leute, denen wir einen Besuch zugedacht haben, zu Hause seien, schon um acht Uhr antraten?« fragte Bakel mit einem lauernden Blicke. – »Das ware zwei Stunden zu fruh«, erwiderte Rudolf, »ich kenne die Leute und sage Ihnen, da? wir vor zehn Uhr uns nicht zu ihnen begeben durfen.« – »Sie scheinen mir ein recht arger Dickschadel zu sein, junger Mann«, sagte Bakel, »aber ich mu? mich schon in alles fugen, was Sie sich vornehmen. Drum sei es, wie Sie meinen. Wir brechen also erst um zehn Uhr auf.« –

Rotarm sprang auf. Ein ahnlicher Schnalzlaut, wie er schon einmal erklungen war, als Bakel kam, hatte seine Aufmerksamkeit geweckt ... »Die Eule kommt wieder«, sagte er, und gleich darauf stand sie auch auf der Schwelle. – »Es stimmt, Mannchen«, sagte sie, auf den Tisch zutretend. Sie war pitschna? vom Regen und setzte sich zwischen Bakel und Rudolf. – »Ja?« fragte Bakel. – »Ja«, wiederholte sie, »der junge Mensch hat die Wahrheit gesagt.« – »Na, sehen Sie?« fiel Rudolf ihr ins Wort. – »Unterbrechen Sie die Frau nicht«, fuhr der Rauber Rudolf an. »Finette, erzahle weiter!« –

»Ich lie? den Kleinen, als ich die Nummer siebzehn erreicht hatte, Schmiere stehen. Es war noch hell. Als ich klingelte, machte mir ein gro?er, dicker Portier auf, ein Mann von etwa funfzig Jahren, mit schlafrigem, gutmutigem Gesicht, rotem Backenbarte und einer Glatze. In der Haube, die ich mir vorher aufgesetzt hatte, sah ich wie eine Frau aus der Nachbarschaft. Kaum hatte der Portier sich gezeigt, so fing ich an zu jammern, mir sei mein Papagei verflogen. Ich hatte ihn von der Rue Marboeuf, wo ich wohnte, von Garten zu Garten verfolgt. Jetzt ware er hierher geflogen. Ich bat, mir Zutritt in den Garten zu gestatten, was mir auch erlaubt wurde.«

Bakels Gesicht strahlte vor Freude, als er auf die Eule hinschaute, und rief mit Stolz: »Ja, das ist noch eine Frau! Das ist noch eine Frau!« – Rudolf fugte bei, um beim Rauber eine bessere Meinung von sich zu wecken: »Ja, es war ein recht, recht kluger Schachzug!« – Die Eule erzahlte weiter: »Der Portier erlaubte mir also, in den Garten zu gehen. Ich guckte mich dort uberall um, damit mir nichts entginge. An den Innenmauern sind uberall Gelander, richtige Treppen. Links an der Ecke steht eine Fichte, die ganz gut als Leiter dienen kann. Im Erdgescho? hat das Haus sechs Fenster und vier Kellerlocher, aber ohne Kellerhalse. Obere Stockwerke gibt es nicht. Vor den Fenstern sind Laden. Die Eingangstur ist eine Glastur mit zwei Vorsetzern.« – »Stimmt alles genau«, bemerkte Rudolf. – »Links im Hofe«, fuhr die Einaugige fort, »sieht ein Ziehbrunnen. Hier ist die Mauer ohne Gelander. Das Brunnenseil lie?e sich aber, falls der Ruckzug zur Tur abgeschnitten wurde, recht wohl als Ersatz fur das fehlende Gelander brauchen.«

»Du bist doch auch im Hause drin gewesen?« fragte Bakel mit Stolz. – »Allerdings«, versetzte die Einaugige, »da ich meinen Papagei nicht fand, stellte ich mich erschopft und bat den Portier, mich ein paar Augenblicke auf der Schwelle ausruhen zu durfen. Der Mann erlaubte es mir nicht blo?, sondern brachte mir als Labetrunk ein Glas Wein mit Wasser. Ueberall liegen Teppiche, so da? man weder Tritte noch eine eingedruckte Scheibe klirren horen wurde. Rechts und links befinden sich Turen mit gewohnlichen Schlossern, die kinderleicht aufgehen. Im Hintergrunde befindet sich eine Tur, stark und verschlossen. In dem Hause riecht es formlich nach Geld. Ich hatte mein Stuck Wachs in der Tasche. Um ein paar Augenblicke den Portier zu entfernen, klagte ich uber starke Schwache und bat den Mann, mir ein Stuck Zucker zu geben. Er ging in die Nebenstube, und bald darauf horte ich Silberzeug klirren. Vergi? nicht, Mann, da? in diesem Zimmer wahrscheinlich Silber uber Silber liegt. Ich tat, als wenn mich ein starker Husten befiele, und naherte mich langsam der Tur, mit meinem Stuck Wachs in der Hand, das ich nun auf das Schlo? druckte. Da hast du den Abdruck davon, Mannchen!« Die Eule gab dem Rauber das Stuck Wachs ... »Das ist doch die Tur zu dem Gelde?« fragte die Eule. – Rudolf nickte. – »Aber es ist nicht alles Geld da«, fugte die Eule mit funkelndem Auge; »als ich ans Fenster hintrat, um noch einmal zu sehen, ob sich mein Papagei angefunden, sah ich in einem Zimmer links von der Tur auf einem Schreibsekretar etwa ein Dutzend Geldsacke stehen.«

»Wo ist der lahme Junge?« fragte Bakel mit einem Mal. – »Er steht noch immer Schmiere vor der Gartentur, zwei Schritte davon entfernt, in einem Loche. Er sieht im Finstern wie die Katzen. Ein anderer Zugang zum Hause ist nicht vorhanden. Kommen wir hin, so werden wir von ihm erfahren, ob vor uns jemand hineingegangen ist oder nicht.« – »Schon! Hast deine Sache gut gemacht«, sagte Bakel, dem ha?lichen Weibe einen Ku? gebend.

Kaum hatten die Worte den Weg uber seine Lippen genommen, als er wie ein Tiger uber Rudolf hersturzte, so unversehens, da? Rudolf den Angriff nicht zu parieren vermochte, ihn an der Kehle packte und in das hinter dem Tische gahnende Kellerloch sturzte. Die Eule schrie vor Entsetzen laut auf. Als das Gerausch von Rudolfs Sturz verhallt war, stieg Bakel, wohlbekannt in dem Hause, langsam in den Keller hinunter und lauschte. Zuerst war nichts zu horen; kurz darauf kreischte in der Kellertiefe eine verrostete Tur. Dann herrschte wieder vollige Stille, gepaart mit volliger Finsternis. Die Eule langte aus ihrem Beutel ein Streichholz und steckte ein Lichtchen an, dessen matter Schein sich in der dustern Stube verbreitete ... Da erschien des Raubers gra?lich entstelltes Gesicht wieder im Rahmen des Kellerhalses.

Vor die Kellertur eine eiserne Stange schiebend, rief er: »Nun geschwind nach der Allee des Veuves! Geschwind! Denn in einer Stunde mochte es zu spat sein.«

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