– »Wenn ich dich meines Vertrauens wurdigte, Murph«, erwiderte Rudolf mit einem Stolz im Gesicht, der sich unmoglich in Worte kleiden la?t, »so geschah es nur unter der Bedingung, da? du niemals verga?est, in welcher Stellung du dich bei mir befindest!«

»Ich gehe in mein funfzigstes Jahr, Herr«, versetzte Murph, »und bin immer Gentleman gewesen. So durfen Sie denn doch nicht mit mir sprechen!« – »Still!« – »Gnadiger Herr! Einen braven Menschen zwingen, an Dienste zu erinnern, die er geleistet hat, vertragt sich nicht mit Wurde.« – »Dienste? Dienste, die du mir geleistet? Bezahle ich dich nicht hochst anstandig? Habe ich jemals etwas umsonst verlangt?« Rudolf hatte mit seinen harten Worten nicht die Demutigung verbinden wollen, die Murph zum Lohndiener herabwurdigte; leider fa?te aber dieser die Worte nicht anders auf. Er wurde rot vor Zorn, pre?te mit schmerzlichem Unwillen beide Fauste gegen die Stirn, heftete die Augen auf Rudolf, dessen edles Antlitz von Hochmut verunstaltet wurde, unterdruckte mit aller Gewalt einen tiefen Seufzer und blickte Rudolf mit einem Ausdruck von innigem Mitleid an ... »Gnadiger Herr«, sagte er mit bewegter Stimme, »kommen Sie wieder zu sich! Um solche Worte gegen mich zu au?ern, mussen Sie entweder schrecklich aufgeregt oder Ihres vollen Verstandes nicht machtig gewesen sein.«

Rudolfs Jahzorn stieg auf den hochsten Grad. Seine Augen flammten, aus seinen Lippen wich alle Farbe; die Faust zum Schlage erhebend, trat er auf Murph zu, der um einen Schritt zuruckwich und erregt, fast wider seinen Willen, rief: »Gnadigster Herr! Bleiben Sie eingedenk des 13. Januars!« – Es war ein faszinierender Eindruck, den diese Worte auf Rudolf machten. Die Muskeln seines Gesichts spannten sich ab; unverwandt starrte er Murph an; dann lie? er das Haupt sinken und sagte leise, aber tief ergriffen: »Herr, Herr! Sie sind – grausam – und ich – ich habe geglaubt – und Sie – Sie auch!« Es war ihm nicht moglich, weiter zu sprechen, die Stimme versagte ihm. Auf eine Steinbank sinkend, schlug er beide, Hande vor das Gesicht...

»O, mein guter, guter Herr!« sprach Murph trostlos, »verzeihen Sie Ihrem alten, getreuen Murph! Ich habe die Worte ja blo? gesprochen, um Sie vor einer Handlung des Jahzorns zu bewahren. Es hat mich weder Zorn dazu gebracht, noch habe ich einen Vorwurf damit erheben wollen. Es ist geschehen wider meinen Willen, aus reinem Mitleid! Aber es war unrecht von mir, mich so weit reizen zu lassen. Darum bitte ich Sie um Verzeihung. Aber wer sollte Ihren Charakter kennen, wenn nicht ich? Habe ich doch keinen Schritt von Ihrer Seite getan seit Ihrer Kindheit! Verzeihen Sie mir, gnadiger Herr, da? ich an grausigen Tag erinnerte ... O, welche Bu?e haben Sie sich dafur selbst auferlegt!«

Rudolf richtete das Haupt wieder in die Hohe. Leichenbla?, sagte er mit milder, tiefbetrubter Stimme: »Genug, alter Freund, genug! La? mich dir danken dafur, da? du meinen Jahzorn mit diesem einzigen Worte abkuhltest! Erspare es mir, mich wegen meiner ha?lichen Reden zu entschuldigen! Du wei?t, der Weg vom Herzen bis zu den Lippen ist weit. Ich war ein Narr. Reden wir nicht weiter uber den Fall!« – Nach einer Pause setzte er hinzu: »Murph, wie mir scheint, ist dir nicht recht, was ich fur das arme Madchen getan habe?« – »Gnadiger Herr, ich war im Unrecht.« – »Nein, ich sehe ein, der Schein war wider mich. Aber da mein ganzes Leben offen vor dir liegt wie ein Buch, und da du mir bei der Aufgabe, die ich mir gesetzt habe, treu und mutig zur Seite stehst, so ist es von mir Pflicht oder, wenn du das lieber horst, Gebot der Dankbarkeit, dich zu uberzeugen, da? mich nicht Leichtsinn bestimmt, dem armen Kinde zu helfen.«

»Da? Sie Ihre Gute an Unwurdige verschwenden, gnadiger Herr, habe ich nicht gemeint ...« – »La? dir sagen, alter Freund! Frau Georges und das arme Madchen, das ich ihr heute zugefuhrt habe, sind von zwei verschiedenen Punkten ausgegangen, um in den gleichen Abgrund des Unglucks zu sturzen. Die eine war reich, glucklich, geehrt, geliebt, geschmuckt mit allen Tugenden und Vorzugen des Weibes und mu?te ihr Leben gebrandmarkt, vernichtet sehen durch den heuchlerischen Bosewicht, an den verblendete Eltern sie ketteten. Mit Freuden sage ich es, da? ohne mein Dazwischentreten diese armste aller Frauen in Not und Elend umgekommen ware, weil sie sich schamte, jemandes Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und wer sie unterstutzte, der ehrte Gott! ... Und entdeckte ich nicht auch vor einer Stunde in dem Gemute dieses braven Madchens Schatze von Anmut, Herzensgute und Zuchtigkeit? Ja, mein alter, braver Murph! Bis zu Tranen geruhrt war ich, als ich das Herz des lieben Kindes so hell und rein vor mir sah! Und dabei zeiht man mich der Blasiertheit, der Harte, der Unbeugsamkeit? Nein, nein! Dank sei dem lieben Gott, da? mir noch immer ein Herz im Busen schlagt! Wei?t du auch, da? dies arme Wesen von einer Mutter geboren wurde, die zu den reichsten Familien des Landes gehort, und da? diese Mutter es verleugnet, es von sich gesto?en, dem Elend, der Schande uberliefert hat, um ihren Fehltritt zu verdecken? um diese Frucht ihrer verbotenen Liebe aus der Welt zu tilgen, ohne einen Mord an dem Kinde zu begehen, dem sie das Leben gegeben? ... O, wenn es mir gelingt, diese Frau zu finden! Sie soll es schrecklich bu?en, was sie an dem armen Wesen gesundigt hat! Nie habe ich solchen schrecklichen Ha? im Herzen gefuhlt, wie gegen sie, Murph! Und doch kenne ich sie nicht! habe sie nie mit einem Blicke gesehen. Aber du wei?t, Murph, wie su? manche Rache fur mich ist! welche Wonne mir Schmerzen zuweilen bereiten, wie ich durste nach gewissen Tranen!« Murph, im tiefsten Herzen betrubt uber den grimmigen, fast teuflischen Ausdruck, der sich auf Rudolfs Gesicht malte, als er diese Worte sprach, erwiderte: »O, gnadiger Herr, ich wei? es, da? wer Ihr Mitleid, Ihre Teilnahme verdiente, von Ihnen oft gesagt hat: »Er ist ein Engel!« wahrend all die anderen, die Ihre Verachtung, Ihren Zorn, Ihren Ha? auf sich luden, verzweifelt ausriefen: Er ist der lebendige Teufel!« und Ihnen geflucht: haben in Ewigkeit!«

Zweiter Teil.

Erstes Kapitel.

Der Abschied.

Marie war, als Rudolf die Meierei verlie?, kaum wiederzuerkennen in ihrem schneewei?en Musselinkleide, mit dem zuchtigen Busentuch und dem schmucken Haubchen, unter dem die beiden dicken blonden Zopfe hervorquollen, das jungfrauliche Gesicht zierlich umrahmend. Bevor er den Fu? uber die Schwelle setzte, nahm er Madame Georges beiseite ... »Nun, meine liebe Frau Georges, was halten Sie von Fraulein Marie?« – »Ich sagte Ihnen schon, lieber Herr Rudolf, da? sie in meiner Stube auf die Kniee niedersank, als sie das Kruzifix erblickte, und welch tiefes religioses Gefuhl sie dabei offenbarte, das kann ich Ihnen gar nicht schildern. Ich bin aber der festen Ueberzeugung, da? ihr Gemut noch vollig unverdorben ist. Die Art, wie sie ihre Dankbarkeit gegen Sie zum Ausdruck bringt, ist auch so naturlich, so aufrichtig, so frei von aller Ziererei, da? sich an ihrer Aufrichtigkeit durchaus nicht zweifeln la?t. Ganz verzuckt wurde sie, als ich ihr sagte, da? sie hier bleiben solle, da? sie nicht wieder in das garstige Wirtshaus zuruckzugehen brauche. Sie umschlang meine Kniee und bat mich, ihr eine gute Freundin, eine liebe Mutter zu sein. Das tut niemand, Herr Rudolf, dem es nicht ernst darum zu tun ist, sich jemals Liebe zu sichern. Ich habe ihr auch gesagt, da? sie immer mein Kind hinfort bleiben werde, denn ich wu?te, wie schwer sie in ihrem bisherigen Leben gelitten habe.«

»Nun, so hatte ich ja wieder einmal Gelegenheit gefunden, meine liebe Frau Georges, mich als guter Mensch zu zeigen. Ich bin ebenso uberzeugt wie Sie, da? das arme Ding Ihre Teilnahme verdient, und da? Sie hier, um zu ernten, nur zu saen brauchen. Mariens Gegenwart wird Ihnen in mancher Hinsicht eine Wohltat sein, liebe Frau Georges. In gewissem Grade wird Sie die Leere in Ihrem Herzen auszufullen vermogen.« – »Nun, ich will mich mit ihr zu befassen suchen, wie ich mit ihm mich befa?t hatte«, erwiderte die Frau mit Tranen in den Augen.

Rudolf nahm ihre Hand ... »Geben Sie noch immer nicht alle Hoffnung auf, gute Frau Georges«, sagte er, »wenn auch unsere Nachforschungen bislang ergebnislos verlaufen sind, so andert sich hierin doch vielleicht bald einiges. Gestern habe ich einen gewissen Rotarm zu sprechen gesucht, konnte ihn aber leider noch nicht treffen. Ich vermute, da? er imstande ist, Auskunft uber Ihren Sohn zu geben. Als ich den Fu? aus seinem Hause setzte, geriet ich mit einem andern Menschen in Streit, weil er dieses arme Madchen mit Schlagen bedrohte, und so hat es sich gefugt, da? ich Ihnen Marien zufuhren konnte. Vorgenommen habe ich mir ja schon lange, Einblick in die Lebensweise dieser Gattung Menschen zu gewinnen, denn ich meine bestimmt, auch dem alten Satan dort noch ein paar andere Seelen zu entrei?en. Haben Sie Nachricht von Rochefort?« setzte er mit ernster Miene hinzu. – »Nein«, antwortete Frau Georges, am ganzen Leibe zitternd. – »Nun, um so besser. Der Unmensch wird den Tod

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