halten Sie doch!«
Die Freude des Madchens und die Weise, wie sie sich zum Ausdrucke brachte, zu schildern, will ich nicht versuchen. Der Leser und die Leserin moge sich vorstellen, mit welcher Lust ein Vogelchen die freie Luft begru?t, das lange in einem engen Kafige geschmachtet hat. Bald lief sie, bald sprang sie, bald buckte sie sich, um einige Blumchen am Wegrande zu pflucken, bald blieb sie ermattet stehen, um Atem zu schopfen, oder setzte sich auf einen Stamm neben einem tiefen Bache, seinem leisen Gemurmel lauschend. Der durchscheinende wei?e Teint bekam eine frischere Farbe. Ihre gro?en blauen Augen leuchteten in mildem Glanz; ihr rosiger Mund zeigte zwei Reihen glitzernder Perlen, ihr Busen wogte unter dem alten Schaltuche, das sie um hatte, und wahrend sie die eine Hand aufs Herz legte, es zu beruhigen, reichte sie mit der andern Rudolf den Feld- und Waldblumenstrau?, den sie gepfluckt hatte.
Ein seltsames Ereignis sollte die Freude des Madchens jah vernichten.
Neuntes Kapitel.
Aus Leid in Freud'!
Marienblumchen sa? noch auf dem Baumstamm am Bachrande. Mit einem Male tauchte hinter einem Weidenstrauche eine Mannesgestalt auf, und ein wildes Lachen erklang. Das Madchen drehte sich erschrocken um. Der Schurimann war es, der gelacht hatte. Das Madchen fluchtete sich wie ein scheues Reh zu ihrem Beschutzer. – »Aengstige dich nicht, mein Tochterchen«, rief er ihr nach, »es trifft sich ja schnurrig, da? wir einander auch hier treffen! Aber, Herr Rudolf – man mag sagen, was man will, uber uns liegt doch etwas, da oben in dem blauen Dunste uber uns, was uns lenkt und leitet – mogen es die Menschen Gott nennen oder Schicksal, einerlei! Es ist, wie wenn es dem Menschen sagen mochte: Geh, wie ich dich fuhre! Und hierher hat es Sie getrieben, als es mich hertrieb ... Wunderbar, wunderbar, was man nicht alles erlebt!«
»Und was treibst du hier?« fragte Rudolf, aufs hochste verwundert. »Das sollen Sie gleich erfahren! Aber sagen Sie mir zuerst, wie spat ists jetzt?« – »Halb eins«, sagte Rudolf, nach einem Blick auf seine Uhr. »Schon! Dann haben wir noch Zeit. Die Eule wird in einer halben Stunde da sein.« »Die Eule!« riefen Rudolf und Marienblumchen wie aus einem Munde. »Jawohl, die Eule!« sagte Schuri, »und was passiert ist, la?t sich mit zwei Worten sagen: Gestern, als Sie das Wirtshaus verlassen hatten, kamen ...«
»Ein gro?er Mann und eine Dame in Mannerkleidern?« fiel Rudolf ihm ins Wort, »nicht wahr? Die haben nach mir gefragt. Ich wei? es schon. Dann?« »Dann haben sie mich mit Wein traktiert und mich uber Sie ausfragen wollen. Aber wenn ich auch was von Ihnen gewu?t hatte – was ja doch nicht der Fall ist – so hatte ich doch nichts uber Sie gesagt. Meister Rudolf, nachdem Sie mich bezwungen, halten wir zusammen auf Leben und Tod. Wenn ich wei?, warum ich gegen Sie anhanglich bin, soll mich der Teufel holen. Aber es ist schnuppe. Ich kann nicht anders. Ich frage nicht mehr, wie es zugeht. Es ist nun mal so, und damit basta!«
»Mir solls recht sein. Aber fahre nun fort!«
»Der Lange und die Kleine in Mannertracht gingen weg, als sie sahen, da? aus mir nichts herauszuholen sei. Ich ging auch weg, die beiden in der Richtung nach dem Justizpalaste, ich in der Richtung nach der Notre-Dame- Kirche. Am Ende der Stra?e angelangt, kam mir der Regen zu derb uber den Hals, so da? ich es vorzog, in ein im Abbruch befindliches Haus einzutreten. Dort kletterte ich in eine Art Keller hinunter, wo ich im Trocknen stand, legte mich platt auf die Erde und wollte eben einschlafen. Da weckte mich Larm. Ich horte die Stimme vom Schulmeister, der ganz kordial sich mit einem andern Manne unterhielt. Mohrenelement! denke ich. Was hat der vor? Und im andern Augenblick erkannte ich die Stimme des langen Kerls und der kleinen Mamsell. Die drei besprachen sich, am Tage drauf sich hier zu treffen.« »Das ware also heute?« fiel ihm Rudolf ins Wort. »Ja, heut um eins.« »Also jetzt?« »Ja.« »Und wo?« »Dort, wo der Weg von Saint-Denis sich mit dem chemin
»Jesus!« rief das Madchen, »Bakel will herkommen? Ach, Herr Rudolf, vor ihm nehmen Sie sich in acht!« »Sei ruhig, mein Kind, sei ruhig!« sagte Rudolf, sie trostend; »er soll ja nicht kommen, sondern blo? die Eule! Aber – wie ist der Mann zu den beiden Elenden gekommen?« fragte Rudolf. »Ja, das kann ich nicht sagen Meister. Ich bin vielleicht erst munter geworden, als die Verabredung schon getroffen war, denn der Lange redete von einem Taschenbuche, das er wiederhaben wolle, und das die Eule gegen eine Zahlung von 500 Franks ihm ubergeben solle. Ich vermute, Bakel hatte den Langen zuerst bemaust, und dann haben sie ihn – » »Herr Rudolf, es schreckt mich um ihretwillen«, sagte das Madchen. »Aber, Madel«, sagte Schuri, »der Herr Rudolf ist doch kein Kind! Freilich, wie du sagst, im Werke kann ja was gegen ihn sein, und aus dem Grunde bin ich hier.« »Erzahl weiter!« sagte Rudolf. »Der Lange und die Kleine haben dem Schulmeister 2000 Franks versprochen, wenn er was vollbringt. Was es aber ist, das er vollbringen soll, wei? ich nicht. Nur soviel habe ich gehort, da? die Eule die Brieftasche herbringen soll, und da? ihr hier gesagt werden soll, um was es sich handelt. Bakel soll dann alles Weitere verrichten.« »Zweitausend Franks um Ihretwillen, Herr Rudolf? Fur mich gabe doch kein Mensch hundert Sous ... Aber, Herr Rudolf! Was mussen Sie fur ein Herr sein!« »Nun, Kind! Das wirst du bald erfahren«, antwortete Rudolf. »Abgemacht, Herr Rudolf! Als die beiden Personen sich entfernt hatten, kletterte ich aus meinem Kellerloch und schlich ihnen nach. An der Notre-Dame stiegen sie in einen Fiaker, ich sprang hintenauf, und so kamen wir auf den Boulevard de l'Observatoire. Dort wars finster wie in einem Backofen. Nicht Handbreit zu sehen. Mir blieb nichts anderes ubrig, als in einen Baum eine Kerbe zu schneiden, damit ich mich am anderen Tage wieder herfinden konne. Heut morgen bin ich wieder hingegangen, und habe zehn Schritte von dem Baume ein Ga?chen gesehen, durch ein Gitter abgesperrt, und da in dem Erdreiche noch gro?e und kleine Tapsen zu sehen waren, habe ich angenommen, da? die beiden Personen in dem Hause wohnen.«
»Vielen Dank, Kamerad«, sagte Rudolf, »du hast mir da einen recht gro?en Dienst erwiesen ...« »Bitte, bitte, Herr Rudolf, hat gar nichts zu sagen, wenn ichs mir auch gedacht habe, da? es der Fall sein werde, und wenn ich es auch aus keinem andern als diesem Grunde getan habe.« »Ich wei? es, mein Lieber, kann dir aber nicht anders als durch Worte danken. Bin eben auch blo? ein armer Schlucker von Arbeiter, und wenn nun, wie du sagst, um meinetwillen 2000 Franks geopfert werden, so wei? ich nicht, was ich davon halten soll, es mu?te sich gerade um eine Erfindung von mir handeln, das Elfenbein, das wir zu den Facherstabchen brauchen, mit Maschine zu schneiden. Aber die Erfindung ist nicht mein alleiniges Eigentum. Um das Verfahren im gro?en auszuuben, bin ich auf einen Freund angewiesen. Wahrscheinlich will man sich des Modells von der Maschine zu bemachtigen suchen, das bei mir liegt. Durch meine Erfindung ist freilich eine Stange Gold zu verdienen.«
»Der Lange und der Kleine sind also ..« – »Fabrikanten jedenfalls, bei denen ich in Arbeit stehe«, erwiderte Rudolf, »und die ich uber meine Erfindung nicht habe unterrichten wollen.« – Da dem andern, mit dessen Verstand es nicht weit her war, wenn es sich um Entwirrung von Komplikationen handelte, diese Erklarung genugte, fragte ihn Rudolf, was er nun hier vorhabe?
»Auf die Eule habe ich gewartet, die doch sicher zuerst an Ort und Stelle ist, und in der Absicht, zu erlauschen, was sie zu dem Langen sagen wird, weil ich mir namlich gedacht habe, da? Ihnen das wurde nutzen konnen. Fur die Zusammenkunft ist eine Stelle bestimmt worden, blo?, ein paar Schritte von hier entfernt, dort, wo sich die beiden Wege kreuzen. Von hier aus kann man ja die Ebene weithin ubersehen, so da? es einem nicht entgehen kann, wer alles herkommt. Falls ich von der Unterredung nichts horen sollte, falle ich uber die Eule her, zahle ihr die Gebuhren aus, die ihr das Madel noch fur den ausgerissenen Zahn schuldig ist, und wurge sie so lange, bis sie mir den Namen der Eltern des armen Kindes nennt ... Was meinen Sie zu diesem Plane, Herr Rudolf?« – »O, er will mir schon gefallen, aber das Madchen an der alten Hexe zu rachen, gabs noch ein besseres Mittel, das ich dir spater sagen will. Vorderhand mochte ich wissen, ob du mir einen wirklichen Dienst erzeigen willst?« –
»Nun, heraus mit der Sprache, Herr Rudolf!« – »Kennt dich die Eule?« – »Nein. Ich Hab sie zum ersten Male gestern in der Kaschemme gesehen.« – »Nun, so meine ich: du versteckst dich, kommst aber, wenn sie ganz nahe ist, aus deinem Loche heraus und siehst zu, da? du sie daran verhindern kannst, mit dem Langen zu reden. Wenn er sieht, da? sie nicht allein ist, wird er sich nicht herangetrauen, und sollte er dennoch kommen, so weichst du nicht von ihrer Seite. Auf diese Weise wird er ihr nicht mitteilen konnen, was er von ihr will.«
»Wenn der Mann Spane macht, nun, dann wei? ich, wie ich mich zu verhalten habe, denn er ist weder ein Bakel, noch ein Herr Rudolf ...« »Nun, ich kenne den Mann, mein Lieber, und kann dir versichern, da? er sich nicht an dir reiben wird.« »Sollten sie ein anderes Stelldichein verabreden, so wirst du es doch erfahren, weil du nicht von ihrer Seite weichen sollst. Im ubrigen vermute ich, da? deine Anwesenheit hinreichen wird, ihn in gemessener