– »Ach, Herr Rudolf, wie schon Sie das alles auszumalen wissen! Da mochte man gern hundert Jahre alt werden, damit die Freude nie ein Ende hatte!«

Rudolfs Worte hatten sie der Wirklichkeit entruckt, aber nur auf Augenblicke, denn bald trat ihr die rauhe Wirklichkeit wieder vor die Seele... »Ach, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie haben mir doch eben recht weh getan. Einen Augenblick habe ich gemeint, im Paradiese zu sein, und nun ...« – »O, das Paradies ist kein Traum, armes Kind, sondern eitel Wirklichkeit! Da, sehen Sie!« und er zeigte auf ein schmuckes, kleines Landhauschen... »Kutscher, halt!«

Der Fiaker hielt. Marienblumchen blickte unwillkurlich auf. Wie staunte sie! Eine Weile lang kam ihr alles wie Zauberei vor ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »wie soll ich mir das alles deuten? Es ist doch nur ein Traum? Gott! Wie mich das alles unruhig und angstlich macht!«

– »Aber, Kind, du brauchst gar keine Angst zu haben, die Pachtersfrau ist meine Amme, und in dem Hauschen bin ich auferzogen worden. Heute morgen in aller Fruhe habe ich an sie geschrieben, da? ich ihr einen hubschen Besuch bringen werde, und nun bist du da, und meine gute Amme wird mir recht geben, da? ich ihr so geschrieben habe.«

Der kleine Pachthof, wohin Rudolf das Madchen brachte, lag dicht vor dem zwei Stunden von Ecouen entfernten, unbekannten, versteckt in einem Waldchen liegenden Dorfe Bouqueval. Kaum hielt der Wagen, als eine Frau von etwa funfzig Jahren, in der gewohnlichen Tracht der reichen Pachterinnen in der Pariser Umgegend, mit ernstem, fast kummervollem Gesicht auf die Schwelle trat und Rudolf mit ehrerbietiger Eilfertigkeit entgegentrat. Marienblumchen errotete tief und stieg zaudernd aus ...

»Gru? Gott, meine liebe Frau Georges«, sagte Rudolf zu der Frau, »wie Sie sehen, halte ich punktlich Wort.« – Zu dem Kutscher sich wendend, sagte er: »Du kannst nun nach Paris zuruckfahren. Da hast du dein Geld fur die Fahrt!« – Der Kutscher, ein kleiner, untersetzter Mensch, der den Hut tief in die Augen hineingedruckt hatte, wahrend der hohe Pelzkragen seines Mantels fast sein ganzes Gesicht verhullte, steckte das Geld in die Tasche, ohne mit einem Worte zu antworten, setzte sich wieder auf den Bock, gab seinem Pferde die Peitsche und war mit Pferd und Wagen bald in der Allee verschwunden. Rudolf dachte: »Der Mann hats ja recht eilig, nach einer so langen Fahrt gleich wieder heimzukommen, kaum Zeit, sich umzusehen, und gesprochen hat er uberhaupt nichts? Na, es geht ihm gewi? darum, den andern Tagesteil noch recht auszunutzen.«

Da trat das Madchen angstlich auf ihn zu ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie schicken ja den Wagen fort? Ich mu? doch heute abend wieder bei meiner Dienstherrin sein! Sie mu?te mich ja sonst fur eine gemeine Diebin halten! Was ich auf dem Leibe trage, gehort doch ihr, und Geld fur Wohnung und Kost bin ich ihr au?erdem schuldig.« »Seien Sie ganz ohne Sorge, Kind«, erwiderte Rudolf, »und lassen Sie sich sagen, da? Sie der garstigen Frau in dem Wirtshause keinen Sou mehr schuldig sind, denn ich habe – seien Sie mir aber deshalb ja nicht etwa bose – alles fur Sie bezahlt, was die Frau als Ihre Schuld von mir gefordert hat. Meine liebe Frau Georges wird Ihnen andere Kleider geben, solche, wie sie sich fur Sie schicken, und die Ihnen auch passen werden ... Sie sehen, als Tante entpuppt sie sich ja schon!«

Noch immer war es dem Madchen, als ob sie traumte. Bald sah sie die Pachterin, bald Rudolf an und konnte gar nicht glauben, was sie horte ... »Herr Rudolf,« bat sie, »seien Sie nicht unbarmherzig! Sie tauschen mich doch nicht?« »Aber, Kind«, versetzte Rudolf mit einer Stimme noch immer liebevoll, aber doch auch wieder so ernst und wurdevoll, wie sie ihn noch nie gehort hatte ... »wenn es nach Ihrem Herzen ist, so konnen Sie hinfort hier bei Frau Georges das ruhige Stillleben fuhren, dessen Schilde rung Sie noch eben in so hohem Ma?e entzuckte. Wenn die gute Frau Georges auch nicht wirklich Ihre Tante ist, so wird sie doch, wenn sie mit Ihnen bekannter ist, innigem Anteil an Ihrem Schicksal nehmen, und in den Augen der Leute hier sollen Sie nicht anders angesehen werden als die Nichte der Frau. Wenn es auch eine kleine Unwahrheit ist, die wir da begehen, so wird sie doch beitragen, Ihnen Ihre Stellung hier nicht eben unangenehmer zu machen.«

Marienblume pre?te die Hande uber die Brust. Dankbarkeit, Freude, Staunen, Hochachtung kamen auf ihrem schonen Antlitz zum Ausdruck, wieder traten ihr Tranen in die Augen, und voll innigen Gefuhls sagte sie: »Herr Rudolf, Sie mussen vom Himmel gesandt sein, einem armen, unglucklichen Wesen, das Sie gar nicht kennen, das Sie aus Not und Schande befreien, des Guten soviel zu erweisen.« – Rudolf erwiderte mit tief melancholischem Lacheln und einem Ausdruck unsaglicher Gute auf dem Gesicht: »Du armes Kind! Auch ich habe, trotzdem ich noch jung bin, des Unglucks viel erlitten. Das mag Ihnen mein Mitgefuhl mit Unglucklichen erklaren. Marienblumchen, oder wie ich Sie hinfort genannt wissen mochte, Marie, gehen Sie nun mit Frau Georges ins Haus hinein! Ehe ich zuruck nach Paris reise, werde ich noch einmal mit Ihnen sprechen. Ich werde mein schonstes Gluck mit mir nehmen, wenn ich hore, da? Sie sich hier wohl und glucklich fuhlen.«

Marie gab keine Antwort, aber sie neigte das Haupt zu ihm herab, pre?te einen dankbaren Ku? auf seine Hande und ging mit Frau Georges ins Haus hinein. Frau Georges betrachtete sie mit herzlicher Teilnahme.

Elftes Kapitel.

Murph und Rudolf.

Im Hofe, wohin sich Rudolf nun begab, traf er den Hunen, der ihn tags vorher in der Verkleidung eines Kohlentragers bis zur Kaschemme begleitet und dort von Toms und Sarahs Ankunft unterrichtet hatte. Der Mann hie? Murph und mochte in seinem funfzigsten Lebensjahre stehen. Er hatte eine Glatze, nur an den beiden Schlafen zeigten sich noch ein paar blonde Haarbuschel, mit silbergrauen Harchen vermischt. Sein breites, ziemlich rotes Gesicht war bis auf den kurzen Backenbart von fast rotlicher Farbe glatt rasiert. Er war ziemlich beleibt, aber trotz Alter und Korpulenz noch recht rustig und gewandt. Aus dem etwas phlegmatischen Gesicht lie? sich Wohlwollen und Entschlossenheit lesen. Murph war Englander, als solcher aber ein echter Gentleman.

Als Rudolf in den Hof trat, schob Murph eben in die Tasche eines kleinen Reisewagens ein paar blank geputzte Pistolen. – »Wem willst du denn mit den Dingern zu Leibe?« fragte Rudolf. – »Ueberlassen Sie das mir, gnadiger Herr«, versetzte Murph grillig, vom Kutschtritt steigend; »setzen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung; ich tue es mit den meinigen.« – »Zu wann hast du die Pferde bestellt?« – »Fur den Abend, wie Sie befahlen.« – »Heut morgen bist du angekommen?« – »Um acht Uhr. Frau Georges hatte genugend Zeit zu den notigen Vorbereitungen.« – »Du bist schlechter Laune? Hast du Ursuche, dich uber mich zu beklagen?« – »Ich dachte, ubergenug Ursache, gnadiger Herr. Es war bis jetzt kein Kinderspiel, und der Tag wird nicht ausbleiben, an welchem Ihnen ernste Gefahr droht, an welchem Ihr Leben bedroht wird ... Mussen Sie es denn durchaus aufs Spiel setzen? Gestern abend erst wieder, um diesen Rotarm auszukundschaften, – dem ich den Teufel auf den Hals wunsche – in dieser abscheulichen Gasse von Alt-Paris, hatte wenig gefehlt, so ...« –

»Oho! Du zweifelst doch nicht etwa an meinem Mute und an meiner Leibeskraft?« – »An keinem von beiden, haben Sie doch wenigstens an hundertmal bewiesen, da? davon keine Rede sein kann! Crabb in Ramsgate hat Ihnen ja das Boxen aus dem FF beigebracht, Lacour in Paris das Stock-, und Bertrand, der beruhmteste Fechtlehrer, das Hiebfechten, Lacour der Kuriositat halber auch noch das Rotwelsch oder die Gaunersprache. Sie waren ja in allem bald so weit, da? Sie Ihre Lehrmeister aus dem Felde schlugen. Sie haben Muskeln von Stahl, treffen die Schwalbe im Fluge ... das ist alles richtig ...«

Rudolf hatte mit Behagen zugehort, wie Murph sich uber ihn und seine Eigenschaften auslie?, und fragte jetzt mit Lacheln: »Na, also! Weshalb bangt es dir um mich?«

– »Ich wittere einen torichten Streich von Ihnen, Herr.«

– »Ei, was du sagst! Na, heraus mit der Sprache, und nicht geniert!« – »Gnadiger Herr, Ihr neuer Schutzling..«

– »Was hast du wider ihn? Kannst du mir das bi?chen Freude nicht gonnen, ein ungluckliches Wesen an diesen ruhigen Ort hier zu bringen, wo sie unter Obhut der wackern Frau Georges von allem Herzeleid genesen wird?«

– »Nun, was soll ich reden? Sie tun doch, was Ihnen beliebt!« – Ich tue, was mir recht dunkt,« versetzte Rudolf mit deutlichen Unzeichen von Ungeduld; »und mochte mir ausbitten, hieruber kein Wort weiter zu verlieren!« – »Ich wu?te nicht, da? Sie jemals notig gehabt hatten, mir den Mund zu verbieten, gnadiger Herr«, versetzte Murph mit Selbstbewu?tsein, »aber hoffentlich wirds auch nie notwendig werden, da? Sie mir befehlen mussen, den Mund aufzutun.« – »Murph!« rief Rudolf mit steigendem Unwillen. – »Mein gnadiger Herr!« – »Ich vertrage, wie du wei?t, keinen Widerspruch, Murph!« – »Und doch kommt es mir zu, gnadiger Herr, Widerspruch zu erheben!«

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