»Was ich dir gesagt habe.« Wieder ein entnervtes Seufzen. »Also schon. Ich komme fur ein paar Tage zu euch.«
»Ellen .«
»Keine Widerrede. Ich komme. Du kannst Julia ja erzahlen, ich will dir bei den Kindern zur Hand gehen. Ich bin heute Nachmittag da.«
»Aber .«
»Keine Widerrede.«
Und sie legte auf.
Ich bin nicht passiv. Ich bin bedachtsam. Ellen ist ein Energiebundel, vom Naturell her die geborene Psychologin, weil sie anderen Leuten gern sagt, was sie tun sollen. Offen gestanden, ich finde sie dominant. Und sie findet mich passiv.
Ellen hat folgendes Bild von mir: Ich bin Ende der Siebzigerjahre nach Stanford gegangen und habe Populationsbiologie studiert - ein rein akademisches Gebiet, ohne praktische Anwendung, und Jobs gab es nur an Universitaten. Damals wurde die Populationsbiologie gerade revolutioniert, durch Feldstudien uber Tiere und durch Fortschritte in der Genanalyse. Fur beides war die Computeranalyse erforderlich, unter Anwendung komplexer mathematischer Algorithmen. Die Art von Programmen, die ich fur meine Forschungsarbeit brauchte, konnte ich nirgends finden, also schrieb ich sie mir selbst. Und so rutschte ich als Quereinsteiger in die Informatik - noch so ein langweiliges, rein akademisches Gebiet.
Doch wie es der Zufall wollte, machte ich meinen Abschluss genau zu der Zeit, als das Silicon Valley boomte und der PC seinen Siegeszug antrat. Die Mitarbeiter von kleinen Jungunternehmen verdienten sich in den Achtzigerjahren eine goldene Nase, und auch mir erging es diesbezuglich in der ersten Firma, in der ich arbeitete, alles andere als schlecht. Ich lernte Julia kennen, und wir heirateten, und dann kamen die Kinder. Alles lief bestens. Wir beide waren schon erfolgreich, wenn wir nur zur Arbeit gingen. Ich wurde von einer anderen Firma abgeworben; noch mehr Vergunstigungen, noch bessere Optionen. Ich ritt einfach auf der Fortschrittswelle mit, in die Neunziger hinein. Inzwischen programmierte ich nicht mehr selbst, ich leitete ein Team von Software- Entwicklern. Und alles fiel mir einfach so zu, ohne dass ich mich wirklich dafur anstrengen musste. Mein ganzes Leben fiel mir einfach zu. Ich musste mich nie beweisen.
So sieht Ellens Bild von mir aus. Ich hatte ein anderes. Die Firmen im Silicon Valley fuhren untereinander einen Konkurrenzkampf, wie es ihn so hart auf der Welt noch nicht gegeben hat. Die Hundert-Stunden-Woche ist die Regel. Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Die Produktentwicklung geht in immer kurzeren Zyklen vonstatten. Die Zyklen fur ein neues Produkt, eine neue Version betrugen anfanglich drei Jahre. Dann waren es zwei Jahre. Dann achtzehn Monate. Jetzt sind es zwolf -Jahr fur Jahr eine neue Version. Wenn man fur die Fehlerbereinigung in der Betaversion bis zum Golden Master vier Monate veranschlagt, dann hat man fur die eigentliche Arbeit nur acht Monate Zeit. Acht Monate, um zehn Millionen Codezeilen zu uberprufen und dafur zu sorgen, dass alles richtig funktioniert.
Kurz gesagt, im Silicon Valley ist kein Platz fur passive Leute, und ich bin nicht passiv. Ich habe jede Minute an jedem Tag geschuftet. Ich musste mich jeden Tag beweisen - sonst ware ich weg vom Fenster gewesen.
So sah das Bild aus, das ich von mir hatte. Und ich lag damit ganz bestimmt nicht falsch.
Aber in einer Hinsicht hatte Ellen Recht. Ohne viel Gluck ware ich nicht so weit gekommen. Da ich von Haus aus Biologe war, war ich im Vorteil, als die Computerprogramme anfingen, biologische Systeme zu imitieren. Es gab sogar Programmierer, die Tiergruppen in der freien Natur studierten, um ihre dort gewonnenen Erkenntnisse auf die Computersimulation zu ubertragen. Au?erdem hatte ich Erfahrungen in der Populationsbiologie - das Studium von Gruppen lebender Organismen.
Und die Informatik hatte sich in Richtung extrem gro?er, paralleler Netzwerke entwickelt - das Programmieren von Populationen intelligenter Agenten. Fur den Umgang mit Agentenpopulationen war eine besondere Art Denken erforderlich, und ich war jahrelang in diesem Denken ausgebildet worden.
Ich war also wunderbar geeignet fur die Trends auf meinem Fachgebiet, und ich machte hervorragende Fortschritte, als sich die Bereiche zunehmend uberlappten. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen.
Zugegeben.
Agentenbasierte Programme, die biologische Populationen zum Vorbild hatten, gewannen in der realen Welt zunehmend an Bedeutung. Wie meine eigenen Programme, die die Futtersuche von Ameisen imitierten, um gro?e Kommunikationsnetzwerke zu steuern. Oder solche, die die Arbeitsteilung in Termitenkolonien nachahmten, um Thermostate in einem Wolkenkratzer zu regeln. Und ganz ahnlich funktionierten die Programme, die die Genselektion simulierten und fur die es eine ganze Palette von Anwendungen gab. In einem Programm wurden Zeugen eines Verbrechens neun Gesichter gezeigt und gebeten, dasjenige auszuwahlen, das dem des Taters am starksten ahnelte, auch wenn es bei keinem davon wirklich der Fall war; dann zeigte das Programm ihnen neun weitere Gesichter und bat sie erneut um eine Auswahl; und so evolvierte das Programm nach und nach aus zahlreichen Vorschlagen ein uberaus prazises Bild von dem Gesuchten, um vieles genauer, als ein Polizeizeichner es vermocht hatte. Die Zeugen mussten nicht sagen, worauf genau sie bei jedem Gesicht reagierten; sie sollten einfach nur ihre Auswahl treffen, und das Programm rechnete. Und dann gab es noch die Biotechnik-Unternehmen, die festgestellt hatten, dass es ihnen nicht gelingen wollte, neue Proteine herzustellen, weil sie sich immer wieder zu seltsamen Konfigurationen zusammenfalteten. Stattdessen »evolvierten« sie nun die neuen Proteine mithilfe der Genanalyse. Alle diese Verfahren waren in der Praxis in nur wenigen Jahren Standard geworden. Und sie wurden immer leistungsstarker, immer wichtiger.
Also, ja, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Aber ich war nicht passiv, ich hatte Gluck gehabt.
Ich hatte mich noch nicht geduscht oder rasiert. Ich ging ins Bad, streifte mir das T-Shirt uber den Kopf und betrachtete mich im Spiegel. Erschreckt bemerkte ich, wie schlaff ich um den Bauch herum aussah. Das war mir noch nie aufgefallen. Sicher, ich war vierzig, und Tatsache war auch, dass ich in letzter Zeit kaum Sport gemacht hatte. Aber ich war nicht deprimiert. Ich hatte einfach mit den Kindern alle Hande voll zu tun, und ich war oft mude. Ich hatte keine Lust zum Sport, mehr nicht.
Ich starrte mein Spiegelbild an und fragte mich, ob Ellen Recht hatte.
Das ganze psychologische Wissen hat einen Haken - niemand kann es auf sich selbst anwenden. Man kann einen unglaublichen Scharfblick fur die Unzulanglichkeiten seiner Freunde, Partner, Kinder entfalten. Aber sich selbst gegenuber ist man blind. Die gleichen Leute, die mit nuchterner Klarheit ihre Umwelt durchschauen, wiegen sich in Illusionen, wenn es um sie selbst geht. Die Psychologie funktioniert nicht, wenn man in einen Spiegel schaut. Soweit mir bekannt war, gab es fur diese Sonderbarkeit keine Erklarung.
Ich personlich dachte immer, dass das Programmieren von Computern eine mogliche Erklarung hierfur lieferte, und zwar mit der so genannten Rekursion. Rekursion bedeutet, dass ein Programm sich selbst aufrufen kann, dass es mit seinen eigenen Informationen Dinge immer und immer wieder tun kann, bis es ein Ergebnis erzielt. Rekursion ist nutzlich bei bestimmten Algorithmen zur Datensortierung und dergleichen. Aber es ist Vorsicht geboten, man riskiert, dass der Computer in einen so genannten infiniten Regress fallt - das Programmieraquivalent zum Spiegelkabinett, das Spiegel uber Spiegel reflektiert, die immer kleiner werden und sich bis in die Unendlichkeit erstrecken. Das Programm lauft weiter, wiederholt sich unablassig, aber nichts geschieht. Der Computer hangt.
Etwas Ahnliches stellte ich mir immer vor, wenn jemand seinen psychologischen Erkenntnisapparat auf sich selbst anwendet. Der Verstand hangt. Der Denkprozess lauft und lauft, aber er kommt nicht voran. So ahnlich muss es wohl sein, denn wir wissen ja, dass Menschen endlos uber sich selbst nachdenken konnen. Manche denken uber kaum etwas anderes nach. Dennoch andern sich die Menschen nicht infolge ihrer intensiven Selbstbeobachtung. Sie durchschauen sich selbst deshalb nicht besser. Echte Selbsterkenntnis ist au?erst selten.
Es scheint fast, dass man jemanden braucht, der einem sagt, wer man ist, der einem sozusagen den Spiegel vorhalt. Was, wenn man es recht bedenkt, ganz schon verruckt ist.
Vielleicht aber auch nicht.
Das Thema Kunstliche Intelligenz hat immer wieder die Frage aufgeworfen, ob ein Programm sich jemals seiner selbst bewusst sein kann. Die meisten Programmierer sagen, dass das unmoglich sei. Man hat es versucht und ist gescheitert.
Es gibt jedoch auch noch eine grundlegendere Version dieser Frage, die philosophische Frage namlich, ob