Nicht einmal Ricky.
Nicht einmal Julia.
Zehn Minuten waren vergangen, seit die Schwarme verschwunden waren, und wir standen alle im Lagerraum. Die ganze Gruppe hatte sich dort versammelt, angespannt und nervos. Sie sahen zu, wie ich mir einen Funksender an den Gurtel steckte und ein Headset aufsetzte. Zum Headset gehorte eine Videokamera, die links in Augenhohe befestigt war. Es dauerte ein Weilchen, bis der Videosender richtig funktionierte.
Ricky sagte: »Du willst wirklich da raus?«
»Ja«, sagte ich. »Ich will wissen, was mit diesem Kaninchen passiert ist.« Ich blickte in die Runde. »Wer kommt mit?«
Niemand ruhrte sich. Bobby Lembeck blickte zu Boden, die Hande in den Taschen. David Brooks blinzelte rasch und schaute weg. Ricky inspizierte seine Fingernagel. Ich fing Rosie Castros Blick auf. Sie schuttelte den Kopf. »Ich denk nicht dran, Jack.«
»Wieso nicht, Rosie?«
»Du hast es doch selbst gesehen. Die jagen.« »Meinst du?«
»Es sah jedenfalls verflucht danach aus.«
»Rosie«, sagte ich, »das kannst du doch nicht ernsthaft denken nach dem, was ich dir beigebracht hab. Wie sollte es denn moglich sein, dass die Schwarme jagen?«
»Wir haben es alle gesehen.« Sie schob storrisch das Kinn vor. »Alle drei Schwarme haben gejagt, koordiniert.«
»Aber wie?«, fragte ich.
Jetzt runzelte sie die Stirn, sah verwirrt aus. »Was soll die Frage? Das ist doch wohl klar. Die Agenten konnen kommunizieren. Sie konnen jeder ein elektrisches Signal erzeugen.«
»Richtig«, sagte ich. »Wie stark ist das Signal?«
»Tja ...« Sie zuckte die Achseln.
»Wie stark, Rosie? Sehr stark kann es nicht sein, jeder Agent misst blo? ein Hundertstel von der Dicke eines Menschenhaars. Da kann er ja wohl kaum ein starkes Signal erzeugen, richtig?«
»Ja, schon .«
»Und elektrische Strahlung nimmt proportional zum Quadrat des Radius ab, richtig?« Das lernten schlie?lich schon Schulkinder im Physikunterricht in der High School. Wenn man sich von der elektromagnetischen Quelle entfernte, lie? die Intensitat schnell nach - sehr schnell.
Und das bedeutete, dass die einzelnen Agenten nur mit ihren unmittelbaren Nachbarn kommunizieren konnten, mit Agenten ganz in ihrer Nahe. Nicht mit anderen Schwarmen, die zwanzig oder drei?ig Meter entfernt waren.
Rosie blickte noch skeptischer. Die ganze Gruppe blickte jetzt skeptisch, alle sahen einander beklommen an.
David Brooks hustete. »Was haben wir denn dann gesehen, Jack?«
»Das war eine Illusion«, sagte ich mit Bestimmtheit. »Ihr habt drei Schwarme gesehen, die unabhangig voneinander agiert haben, und ihr habt gedacht, sie waren koordiniert. Aber das sind sie nicht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch alles andere, was ihr den Schwarmen unterstellt, nicht stimmt.«
Es gab vieles im Hinblick auf die Schwarme, was ich nicht verstand - und vieles glaubte ich einfach nicht. So konnte ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass die Schwarme sich reproduzierten. Dass Ricky und die anderen sich das einbildeten, war fur mich nur ein Zeichen dafur, dass ihre Nerven ziemlich blank lagen. Schlie?lich reichten die freigesetzten funfzig Pfund Material ohne weiteres fur die drei Schwarme, die ich gesehen hatte - und noch fur Dutzende mehr. (Ich schatzte, dass jeder aus drei Pfund Nanopartikeln bestand. Das war in etwa das Gewicht eines gro?en Bienenschwarms.)
Dass die Schwarme ein zielgerichtetes Verhalten an den Tag legten, fand ich keineswegs beangstigend; das war das beabsichtigte Resultat des Programmierens auf unterster Ebene. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Schwarme koordiniert waren. Das war einfach nicht moglich, weil die Felder zu schwach waren.
Au?erdem glaubte ich nicht, dass die Schwarme anpassungsfahig waren, wie Ricky meinte. Ich hatte schon zu viele Demoaufnahmen von Robotern gesehen, die irgendeine Aufgabe ausfuhrten - zum Beispiel gemeinsam eine Schachtel durch den Raum schieben -, was Beobachter als intelligentes Verhalten interpretierten, obwohl die Roboter in Wahrheit dumm waren, minimal programmiert und per Zufall kooperierten. Viele Verhaltensweisen wirkten intelligenter, als sie es waren. (Wie Charley Davenport immer sagte: »Ricky sollte Gott dafur danken.«)
Und schlie?lich glaubte ich eigentlich nicht, dass die Schwarme gefahrlich waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine drei Pfund schwere Wolke Nanopartikel eine besondere Bedrohung fur irgendetwas darstellen konnte, nicht mal fur ein Kaninchen. Ich war beileibe nicht davon uberzeugt, dass es getotet worden war. Ich meinte, mich zu erinnern, dass Kaninchen angstliche Geschopfe waren, die auch vor lauter Panik sterben konnten. Es war ebenfalls denkbar, dass die Partikel in Nase und Mund eingedrungen waren, die Atemwege verstopft hatten und das Tier erstickt war. Falls das stimmte, war der Tod ein Unfall und nicht absichtlich herbeigefuhrt worden. Tod durch Unfall schien mir einleuchtender.
Kurzum, ich war fest davon uberzeugt, dass Ricky und die anderen das Gesehene ausnahmslos falsch gedeutet hatten. Sie hatten sich selbst Angst eingejagt.
Andererseits musste ich zugeben, dass mir etliche unbeantwortete Fragen keine Ruhe lie?en.
Die erste und offensichtlichste war die, warum der Schwarm uberhaupt au?er Kontrolle geraten war. Der ursprungliche Kameraschwarm sollte von einem auf ihn eingestellten HF-Sender gesteuert werden. Jetzt ignorierte der Schwarm offenbar gesendete Funkbefehle, und ich verstand nicht, warum das so war. Ich tippte auf einen Produktionsfehler. Die Partikel waren vermutlich fehlerhaft.
Zweitens wunderte mich die Langlebigkeit des Schwarms. Die einzelnen Partikel waren ungeheuer klein, sodass sie durch kosmische Strahlung, fotochemische Zersetzung, Dehydration ihrer Proteinketten und andere Umweltfaktoren Schaden nehmen mussten. In der rauen Wuste hatten alle Schwarme schon vor vielen Tagen geschrumpft und an »Altersschwache« gestorben sein mussen. Aber das war nicht geschehen. Warum nicht?
Das dritte Problem war das offensichtliche Ziel des Schwarms. Laut Ricky kamen die Schwarme immer wieder zum Hauptgebaude. Ricky glaubte, sie wollten sich Einlass verschaffen. Aber das kam mir nicht wie ein vernunftiges Agentenziel vor, und ich wollte einen Blick auf den Programmcode werfen, um zu sehen, was der Grund dafur war. Ehrlich gesagt, ich vermutete einen Fehler im Code.
Und schlie?lich wollte ich herausfinden, warum sie das Ka-ninchen verfolgt hatten. predprey machte aus Einheiten namlich nicht richtige Raubtiere. Das Rauber-Modell sorgte nur dafur, dass die Agenten fokussiert und ziel orientiert blieben. Irgendwie hatte sich das geandert, und die Schwarme schienen jetzt tatsachlich zu jagen.
Auch dafur war vermutlich ein Fehler im Code verantwortlich.
Meiner Ansicht nach liefen all diese Ungewissheiten auf eine einzige zentrale Frage hinaus - wie war das Kaninchen gestorben? Ich glaubte nicht, dass es getotet worden war. Ich ging von einem Unfall aus, nicht von Absicht.
Aber das mussten wir herausfinden.
Ich ruckte mein Funk-Headset zurecht, mit der Sonnenbrille und der Videokamera in Augenhohe. Ich nahm den Plastikbeutel fur das tote Kaninchen und wandte mich den anderen zu. »Kommt jemand mit?«
Betretenes Schweigen.
Ricky sagte: »Was willst du mit dem Beutel?«
»Das Kaninchen holen.«
»Kommt nicht infrage«, sagte Ricky. »Du kannst von mir aus da rausgehen, das ist deine Sache. Aber du bringst das Kaninchen nicht hier rein.«
»Du machst wohl Witze«, sagte ich.
»Absolut nicht. Hier drin gilt allerhochste Sauberkeitsstufe, Jack. Das Kaninchen ist
»Also schon, dann bringen wir es in Maes Labor und ...«
»Ausgeschlossen, Jack. Tut mir Leid. Es kommt nicht durch die erste Luftschleuse.«
Ich blickte die anderen an. Sie nickten alle zustimmend.
»Na gut. Dann untersuche ich es eben drau?en.«