»Du willst wirklich da raus?«
»Ja, klar.« Ich blickte die anderen nacheinander an. »Hort zu, Leute, ich glaube, ihr macht euch grundlos ins Hemd. Die Wolke ist nicht gefahrlich. Und ja, ich gehe da raus.« Ich wandte mich an Mae. »Hast du vielleicht ein Sezierbesteck ...«
»Ich komme mit«, sagte sie rasch.
»Schon. Danke.« Ich war uberrascht, dass Mae sich als Erste meiner Uberzeugung anzuschlie?en schien. Aber als Feldbiologin konnte sie die Risiken der realen Welt wahrscheinlich besser abschatzen. Jedenfalls loste ihre Entscheidung ein wenig die Anspannung im Raum; die anderen wurden sichtlich lockerer. Mae ging, um das Sezierbesteck und ein paar Laborgerate zu holen. In diesem Moment klingelte das Telefon. Vince ging dran und wandte sich dann an mich. »Kennen Sie eine Dr. Ellen Forman?«
»Ja.« Es war meine Schwester.
»Sie ist in der Leitung.« Vince reichte mir den Horer und trat zur Seite. Ich war plotzlich nervos. Ich sah auf meine Uhr. Es war elf Uhr vormittags, Zeit fur Amandas Schlafchen. Eigentlich musste sie jetzt schon in ihrem Bett liegen. Dann fiel mir ein, dass ich meiner Schwester versprochen hatte, sie um elf anzurufen, um zu horen, ob sie klarkam.
Ich sagte: »Hallo? Ellen? Ist alles in Ordnung?«
»Klar. Sicher.« Ein langer, langer Seufzer. »Alles bestens. Ich wei? blo? nicht, wie du das alles schaffst.«
»Mude?«
»Ungefahr so mude wie noch nie in meinem Leben.«
»Die Kinder gut in die Schule gekommen?«
Wieder ein Seufzen. »Ja. Im Wagen hat Eric Nicole auf den Rucken gehauen und sie hat ihm eins aufs Ohr gegeben.«
»Du musst dazwischengehen, wenn sie mit so was anfangen, Ellen.«
»Ich lerne ja noch«, erwiderte sie matt.
»Und die Kleine? Was macht ihr Ausschlag?«
»Besser. Ich nehm die Salbe.«
»Das Geschaft erledigt?« »Geschaft? Sollte ich was erledigen?«
»Nein, nein«, sagte ich. Ich wandte mich von der Gruppe ab, senkte die Stimme. »Ich meine, hat sie Aa gemacht?«
Hinter mir horte ich Charley Davenport kichern.
»Ergiebig«, sagte Ellen. »Sie schlaft jetzt. Ich war mit ihr auf dem Spielplatz. Das hat sie schon mude gemacht. Im Haus ist alles in Ordnung. Nur der Boiler ist kaputt, aber ich hab schon den Handwerker bestellt.«
»Schon, schon ... Ah, Ellen, ich hab jetzt gar keine Zeit ...«
»Jack? Julia hat vor ein paar Minuten aus dem Krankenhaus angerufen. Sie wollte dich sprechen.«
»Ja .«
»Als ich ihr gesagt hab, du bist in Nevada, hat sie sich ziemlich aufgeregt.«
»Ach ja?«
»Sie hat gesagt, du wurdest das nicht verstehen. Und du wurdest alles nur schlimmer machen. So ungefahr. Ich glaube, du rufst sie besser an. Sie klang aufgebracht.«
»Gut. Ich ruf sie an.«
»Wie lauft's denn bei dir? Kommst du heute Abend zuruck?«
»Heute Abend noch nicht«, sagte ich. »Irgendwann morgen Vormittag. Ellen, ich muss jetzt Schluss machen ...«
»Ruf die Kinder heute Abend an, wenn du kannst, so zur Abendessenszeit. Sie wurden sich freuen. Tante Ellen ist ja ganz nett, aber sie ist nun mal nicht Dad. Du wei?t schon.«
»In Ordnung. Ihr esst um sechs?«
»Um den Dreh.«
Ich sagte, ich wurde versuchen anzurufen, und legte auf.
Mae und ich befanden uns vor den Doppelglaswanden der au?eren Luftschleuse, direkt am Eingang des Gebaudes. Durch das Glas hindurch konnte ich die dicke, stahlerne Brandschutztur erkennen, die nach drau?en fuhrte. Ricky stand neben uns, finster und nervos, und sah zu, wie wir die letzten Vorbereitun-gen trafen.
»Ist das denn wirklich notig? Dass ihr nach drau?en geht?«
»Es ist unbedingt notig.«
»Wartet doch lieber, bis es dunkel wird.«
»Dann ist das Kaninchen nicht mehr da«, erwiderte ich. »Bis es dunkel wird, haben sich langst Kojoten oder Bussarde den Kadaver geschnappt.«
»Das glaub ich kaum«, sagte Ricky. »Wir haben hier schon eine ganze Weile keine Kojoten mehr gesehen.«
»Ach, was soll's«, sagte ich ungeduldig und schaltete mein Funk-Headset an. »In der Zeit, die wir hier debattieren, konnten wir langst drau?en und wieder zuruck sein. Bis gleich, Ricky.«
Ich ging durch die Glastur und stellte mich in die Schleuse. Die Tur schloss sich zischend hinter mir. Das Geblase brauste wie inzwischen gewohnt kurz auf, und dann glitt das au?ere Glas auf. Ich ging weiter bis zur Stahltur. Als ich nach hinten blickte, trat Mae gerade in die Luftschleuse.
Ich offnete die Tur einen Spalt. Glei?endes Sonnenlicht warf einen brennenden Streifen auf den Boden. Ich spurte hei?e Luft im Gesicht. Uber die Sprechanlage sagte Ricky: »Viel Gluck, ihr beiden.«
Ich atmete einmal durch, druckte die Tur weiter auf und schritt hinaus in die Wuste.
Der Wind hatte sich gelegt, und die Vormittagshitze war druckend. Irgendwo zwitscherte ein Vogel; ansonsten war es still. An der Tur stehend, blinzelte ich in das grelle Sonnenlicht. Ein Schauer lief mir den Rucken hinunter. Ich holte noch einmal tief Luft.
Ich war mir sicher, dass die Schwarme nicht gefahrlich waren. Aber jetzt, hier drau?en, verlor meine Theorie irgendwie an Uberzeugungskraft. Bestimmt hatte Ricky mich mit seiner Nervositat angesteckt, denn mir war ausgesprochen mulmig zu Mute. Au?erdem schien der Kaninchenkadaver viel weiter entfernt, als ich gedacht hatte. Es waren etwa funfzig Schritte von der Tur aus, die halbe Lange eines Footballfeldes. Die Wuste drum herum wirkte kahl und nackt. Ich suchte den flirrenden Horizont ab, hielt nach schwarzen Formationen Ausschau. Ich sah keine.
Die Brandschutztur ging hinter mir auf, und Mae sagte: »Von mir aus kann's losgehen, Jack.«
»Dann wollen wir mal.«
Wir machten uns auf den Weg, die Fu?e knirschten im Wustensand. Wir entfernten uns vom Gebaude. Fast im selben Moment fing mein Herz an zu hammern, und mir brach der Schwei? aus. Ich zwang mich, tief und langsam zu atmen, bemuhte mich, Ruhe zu bewahren. Die Sonne brannte mir ins Gesicht. Mir war klar, dass Ricky mir diese Angst eingejagt hatte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Dauernd blickte ich zum Horizont.
Mae war zwei Schritte hinter mir. Ich sagte: »Alles klar?«
»Ich bin froh, wenn es vorbei ist.«
Wir durchquerten ein Feld kniehoher Feigenkakteen. Ihre Stacheln leuchteten in der Sonne. Hier und da ragte ein gro?er Kugelkaktus vom Boden auf, wie ein stoppeliger, gruner Daumen.
Ein paar kleine, lautlose Vogel hupften uber den Sand, unter den Feigenkakteen. Als wir naher kamen, flogen sie auf, kreisende Flecken vor dem Blau. Sie landeten hundert Meter weiter.
Endlich waren wir bei dem Kaninchen, das von einer summenden schwarzen Wolke umgeben war. Erschreckt stockte ich kurz.
»Das sind blo? Fliegen«, sagte Mae. Sie trat vor und kniete sich neben den Kadaver, ohne sich um die Fliegen zu scheren. Sie zog Gummihandschuhe an und reichte auch mir ein Paar. Sie breitete ein quadratisches Stuck Plastikfolie auf dem Boden aus, beschwerte es an jeder Ecke mit einem Stein. Sie hob das Kaninchen hoch und legte es mitten auf die Folie. Sie offnete ein kleines Etui mit ihrem Sezierbesteck und klappte es auf. Ich sah Stahlinstrumente in der Sonne funkeln: Pinzette, Skalpell, mehrere unterschiedliche Scheren. Daneben legte sie ordentlich aufgereiht eine Spritze und einige Testrohrchen mit Gummipfropfen. Ihre Bewegungen waren schnell, routiniert. Sie machte das nicht zum ersten Mal.
Ich kniete mich neben sie. Der Kadaver hatte keinen Geruch. Au?erlich konnte ich kein Anzeichen fur eine