»Ich wurde sagen, sich der Funksteuerung zu entziehen ist nichts anderes, als das Ziel aus den Augen zu verlieren.«

»Aber der Code ist nicht verandert worden.«

»Na ja, der eigentliche Code hat keinen so richtig interessiert, Jack. Es geht um das, was der Code bewirkt. Um das Verhalten, das sich aus dem Code emergiert. Dabei solltest du uns helfen. Schlie?lich ist es ja dein Code, oder?«

»Ja, und es ist euer Schwarm.«

»Auch wieder wahr, Jack.«

Mit seinem ublichen selbstironischen Achselzucken ging er aus dem Raum. Ich starrte eine Weile auf das Blatt Papier und fragte mich dann, warum er es fur mich ausgedruckt hatte. Das bedeutete, dass ich das elektronische Dokument nicht uberprufen konnte. Vielleicht vertuschte Ricky ja schon wieder ein Problem. Vielleicht war der Code ja doch verandert worden, und er zeigte es mir nicht. Oder vielleicht ...

Egal, dachte ich. Ich zerknullte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Wie immer das Problem auch gelost werden konnte, jedenfalls nicht mit Computercodes. So viel stand fest.

Mae war im Biologielabor und betrachtete aufmerksam ihren Monitor, das Kinn in die Hand gestutzt. Ich sagte: »Geht's dir gut?«

»Ja.« Sie lachelte. »Und dir?«

»Blo? mude. Und ich hab wieder Kopfschmerzen.«

»Ich auch. Aber ich glaube, an meinen ist dieser Phage da schuld.« Sie deutete auf den Monitor. Er zeigte ein schwarzwei?es Bild von einem Virus, aufgenommen mit einem Rasterelektronenmikroskop. Der Phage sah aus wie eine Granate -wulstiger, spitz zulaufender Kopf, verbunden mit einem schmaleren Schwanz.

Ich sagte: »Ist das der neue Mutant, von dem du gesprochen hast?«

»Ja. Ich habe schon einen Fermentationstank rausgenommen. Das Produktionsvolumen liegt jetzt nur noch bei sechzig Prozent. Aber das spielt ja wohl keine gro?e Rolle.«

»Und was machst du mit dem Tank?«

»Ich teste antivirale Reagenzien«, sagte sie. »Eine begrenzte Anzahl davon hab ich hier. Wir sind eigentlich nicht darauf eingerichtet, Kontaminanten zu analysieren. Das Protokoll verlangt blo?, einen kontaminierten Tank aus der Produktion zu nehmen und zu reinigen.«

»Warum hast du das nicht getan?«

»Ich tu's ja, irgendwann. Aber das da ist ein neuer Mutant, deshalb halte ich es fur besser, ein Gegen-Agens zu finden. Das wird dann fur zukunftige Produktionen gebraucht. Ich meine, das Virus kommt schlie?lich wieder.«

»Du glaubst, es wird wieder auftauchen? Sich wieder neu entwickeln?«

»Ja. Vielleicht ein bisschen mehr oder weniger bosartig, aber im Wesentlichen gleich.«

Ich nickte. Ich kannte mich mit der Materie aus, da ich mit genetischen Algorithmen gearbeitet hatte - Computerprogramme, die die Evolution simulierten. Die meisten Leute stellten sich die Evolution als einen Prozess vor, in dem sich alles nur ein einziges Mal vollzog, ein Zusammentreffen zufalliger Ereignisse. Wenn die Pflanzen nicht irgendwann Sauerstoff produziert hatten, hatten sich niemals tierische

Lebewesen entwickelt. Wenn ein Asteroid nicht die Dinosaurier vernichtet hatte, hatten sich die Saugetiere nicht so verbreitet. Wenn ein paar Fische nicht an Land gekommen waren, wurden wir immer noch im Wasser leben. Und so weiter.

All das war schon richtig, doch die Evolution hatte noch eine andere Seite. Bestimmte Lebensformen und Lebensweisen tauchten immer und immer wieder auf. So zum Beispiel trat der Parasitismus - ein Lebewesen lebt auf Kosten eines anderen - im Laufe der Evolution sehr haufig auf, unabhangig von anderen Arten. Er war fur gewisse Lebensformen eine zuverlassige Moglichkeit zu interagieren, und somit trat er immer wieder in Erscheinung.

Ein ahnliches Phanomen war bei genetischen Programmen festzustellen. Sie neigten dazu, sich gewisse erprobte Losungen anzueignen. Die Programmierer sprachen in diesem Zusammenhang von »Maxima in der mehrdimensionalen Fitnessfunktion«; sie konnten sie als dreidimensionales Falschfarbengebirge mit Modellierungsprogrammen darstellen. Tatsache war jedenfalls, dass die Evolution durchaus auch eine stabile Seite hatte.

Und auf eines war Verlass: Ein gro?er, warmer Bakteriensud wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem Virus kontaminiert werden, und wenn das Virus die Bakterien nicht infizieren konnte, dann wurde es zu einer Form mutieren, die dazu im Stande war. Darauf konnte man sich verlassen, so wie man sich darauf verlassen konnte, in einer Zuckerdose, die zu lange auf dem Kuchentisch gestanden hatte, Ameisen zu finden.

Es war verbluffend, wie wenig wir uber die Evolution wussten, wo sie doch schon seit hundertfunfzig Jahren erforscht wurde. Die alten Vorstellungen, dass nur die Starksten uberlebten, waren seit langem uberholt. Sie waren zu eindimensional. Die Forscher des neunzehnten Jahrhunderts sahen in der Evolution sozusagen die ungezahmte, brutale Natur, denn sie stellten sich eine Welt vor, in der die starkeren Tiere die schwacheren toteten. Sie zogen nicht in Betracht, dass die schwacheren zwangslaufig starker wurden oder sich in irgendeiner Weise zur Wehr setzten. Was sie naturlich immer tun.

Neuere Vorstellungen betonten die Wechselwirkung zwischen sich fortwahrend entwickelnden Formen. Manche verglichen die Evolution mit einem Wettrusten, womit sie eine standig eskalierende Interaktion meinten. Eine Pflanze, die von einem Schadling befallen wird, entwickelt in ihren Blattern ein Pestizid. Der Schadling verandert sich daraufhin so, dass er das Pestizid vertragt, also bringt die Pflanze ein starkeres Pestizid hervor. Und so weiter.

Andere bezeichneten dieses Muster als Koevolution, zwei oder mehr Lebensformen entwickeln sich gleichzeitig und dulden sich dann gegenseitig. Eine Pflanze, die von Ameisen befallen wird, verandert sich, toleriert die Ameisen daraufhin und fangt sogar an, speziell fur sie Nahrung auf den Blattern zu produzieren. Im Gegenzug schutzen diese Ameisen die Pflanze, indem sie jedes Tier bei?en, das die Blatter fressen will. Schon bald konnen weder Pflanze noch Ameisenart ohne einander uberleben.

Dieses Muster war so grundlegend, dass viele Leute darin den eigentlichen Kern der Evolution sahen. Fur sie waren Parasitismus und Symbiose die wahre Basis fur evolutionare Veranderung. Diese Prozesse lagen jeder Evolution zu Grunde und waren von Anfang an wirksam gewesen. Lynn Margulies trat den beruhmten Beweis an, dass Bakterien ursprunglich einen Zellkern durch das Verschlingen anderer Bakterien entwickelt hatten.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert stand nun fest, dass Koe-volution sich nicht auf zwei Lebewesen beschrankte, die eine Art isolierten Paartanz auffuhrten. Es gab koevolutionare Muster mit drei, zehn oder n Lebensformen, wobei n jede beliebige Zahl sein konnte. Ein Maisfeld, auf dem ja alle moglichen Pflanzen wuchsen, wurde von vielen Schadlingen befallen und entwarf viele Verteidigungsstrategien. Die Pflanzen konkurrierten mit dem Unkraut; die Schadlinge konkurrierten mit anderen Schadlingen; gro?ere Tiere fra?en sowohl die Pflanzen als auch die Schadlinge. Das Ergebnis dieser komplexen Interaktion veranderte sich stets, entwickelte sich stets weiter.

Und es war naturgema? nicht vorhersagbar.

Letztlich war das der Grund, warum ich so wutend auf Ricky war.

Er hatte um die Gefahren wissen mussen, als er merkte, dass er die Schwarme nicht kontrollieren konnte. Es war Wahnsinn, tatenlos zuzusehen, wie sie sich unabhangig weiterentwickelten. Ricky war ein heller Kopf; er kannte sich mit genetischen Algorithmen aus; er kannte den biologischen Hintergrund fur die aktuellen Trends im Programmieren.

Er wusste, dass Selbstorganisation unvermeidlich war.

Er wusste, dass emergente Formen unberechenbar waren.

Er wusste, dass Evolution Interaktion mit n Formen bedeuten konnte.

Er wusste all das, und er hatte es trotzdem zugelassen.

Er oder Julia.

Ich sah nach Charley. Er schlief noch in seinem Zimmer, ausgestreckt auf dem Bett. Bobby Lembeck kam vorbei. »Wie lange schlaft er schon?«

»Seit du ihn geholt hast. Gut drei Stunden.«

»Meinst du, wir sollten ihn wecken, um festzustellen, ob es ihm besser geht?«

»Nee, lass ihn schlafen. Wir konnen ihn nach dem Essen untersuchen.«

Вы читаете Beute (Prey)
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату