Julia rief: »Gib auf, Jack! Es ist vorbei.«

Und es sah wirklich ganz danach aus. Ich konnte nicht an Vince vorbei. Und ich konnte Ricky nicht mehr davonlaufen, er war schon viel zu nahe. Ich sprang uber ein Rohr, schob mich hinter einen stehenden Stromkasten und ging in die Hocke. Als Ricky uber das Rohr sprang, rammte ich ihm meinen Ellbogen zwischen die Beine. Er brullte auf und fiel zu Boden, walzte sich vor Schmerzen. Ich ging zu ihm und trat ihm, so fest ich konnte, gegen den Kopf. Das war fur Charley.

Ich rannte weiter.

Am Aufzug wartete Vince schon, halb geduckt, die Fauste geballt. Er freute sich auf einen Kampf. Ich lief schnurstracks auf ihn zu, und er grinste erwartungsfroh.

Und im letzten Moment schwenkte ich nach links ab. Ich sprang.

Und kletterte die Leiter an der Wand hoch.

Julia schrie: »Haltet ihn! Haltet ihn!«

Das Klettern war schwierig, weil ich den Kanister an einem Daumen hangen hatte und er mir schmerzhaft auf den rechten Handrucken schlug. Ich konzentrierte mich auf den Schmerz. Ich hatte Hohenangst, und ich wollte nicht nach unten schauen. Und daher konnte ich nicht sehen, was an meinen Beinen zog, mich nach unten zerrte. Ich trat, aber was immer es war, es lie? mich nicht los.

Schlie?lich blickte ich hin. Ich war gut drei Meter uber dem Boden, und zwei Sprossen unter mir hatte Ricky seinen freien Arm um meine Beine geschlungen, mit der Hand meinen Knochel gepackt. Er zerrte an meinen Fu?en und zog sie von der Sprosse. Ich rutschte ein Stuck und spurte dann einen brennenden Schmerz in den Handen. Aber ich hielt mich fest.

Ricky lachelte grimmig. Ich trat mit den Beinen nach hinten, versuchte, sein Gesicht zu treffen, aber vergeblich, er hielt sie fest umklammert an seiner Brust. Er war unglaublich stark. Ich versuchte es immer wieder, bis ich auf den Gedanken kam, ein Bein nach oben zu rei?en, um es freizubekommen. Das klappte, und ich trat ihm mit voller Kraft auf die Hand, mit der er sich an der Sprosse festhielt. Er schrie auf und lie? meine Beine los, um sich mit der anderen Hand an der Leiter festzuhalten. Ich trat noch einmal, lie? das Bein zuruckschnellen und erwischte ihn genau unter dem Kinn. Er rutschte funf Sprossen tiefer, hielt sich dann aber fest. Er hing dort, kurz uber dem unteren Ende der Leiter.

Ich kletterte weiter.

Julia kam naher. »Haltet ihn!«

Ich horte den Aufzug knirschen, als Vince an mir vorbeifuhr. Er wurde mich oben erwarten.

Ich kletterte.

Ich war funf Meter uber dem Boden, dann sechs. Ich blickte nach unten und sah, dass Ricky mir folgte, aber er war noch weit unter mir und wurde mich kaum einholen konnen, und plotzlich kam Julia durch die Luft auf mich zugeflogen, spiralformig wie ein Korkenzieher - und packte die Leiter direkt neben mir. Nur, dass es nicht Julia war, es war der Schwarm, und einen Augenblick lang war der Schwarm so desorganisiert, dass ich stellenweise durch Julia hindurchschauen konnte. Ich konnte die wirbelnden Partikel sehen, die sie zusammensetzten. Ich blickte nach unten und sah die wirkliche Julia, die leichenblass dastand und zu mir hochblickte, das Gesicht ein Totenschadel. Der Schwarm neben mir nahm inzwischen ein festes Au?eres an, so wie ich das zuvor schon gesehen hatte. Er sah jetzt aus wie Julia. Der Mund bewegte sich, und ich horte eine fremde Stimme »Verzeih mir, Jack« sagen. Und dann schrumpfte der Schwarm, wurde noch dichter, sank zu einer kleinen Julia zusammen, knapp uber einen Meter gro?.

Ich wandte mich um und wollte weiterklettern.

Die kleine Julia holte Schwung und warf sich dann fest gegen meinen Korper. Ich hatte das Gefuhl, von einem Sack Zement getroffen worden zu sein, und mir blieb die Luft weg. Ich verlor fast den Halt an der Leiter, und ich hatte beinahe losgelassen, als der Julia-Schwarm erneut gegen mich prallte. Ich duckte mich und wich aus, stohnte vor Schmerz und kletterte weiter, obwohl der Schwarm sich immer wieder gegen mich warf. Der Schwarm hatte genug Masse, um mir wehzutun, aber nicht genug, um mich von der Leiter zu sto?en.

Offenbar wurde dem Schwarm das ebenfalls klar, denn jetzt verdichtete der kleine Julia-Schwarm sich zu einer Kugel, schwebte einfach nach oben und hullte meinen Kopf in eine schwirrende Wolke. Ich war vollig blind. Ich konnte nicht das Geringste sehen. Ich kam mir vor wie in einem Sandsturm. Ich tastete nach der nachsten Sprosse und dann weiter nach der nachsten. Nadelstiche brannten mir auf Gesicht und Handen, der Schmerz wurde starker, stechender. Anscheinend lernte der Schwarm jetzt, Schmerz zu bundeln. Aber zumindest hatte er nicht gelernt, wie man jemanden erstickte. Er tat nichts, um mich am Atmen zu hindern.

Ich kletterte weiter.

Im Dunkeln.

Und dann spurte ich, wie Ricky wieder an meinen Beinen zog. Und in dem Augenblick, letztendlich, sah ich kein Weiterkommen mehr.

Ich war fast acht Meter uber dem Boden, hielt mich krampfhaft an einer Leiter fest und schleppte einen Kanister mit brauner Bruhe mit, wahrend Vince uber mir lauerte und Ricky unter mir zog und zerrte und mir ein Schwarm um den Kopf schwirrte, der mir die Sicht nahm und mich wie wahnsinnig stach. Ich war ausgepumpt und konnte nicht mehr, und ich spurte formlich, wie mich alle Kraft verlie?. Meine Finger um die Sprossen fuhlten sich zittrig an. Ich konnte mich nicht langer festhalten. Ich wusste, ich brauchte nur loszulassen, und alles ware in einer Sekunde vorbei. Ich war ohnehin am Ende.

Ich tastete nach der nachsten Sprosse, packte sie und zog meinen Korper hoch. Aber ich spurte ein Rei?en in den Schultern. Ricky zog mit aller Kraft von unten. Ich wusste, dass er gewinnen wurde. Sie wurden alle gewinnen. Sie wurden immer gewinnen.

Und dann dachte ich an Julia, gespenstisch bleich und papierdunn, wie sie »Rette meine Kleinen« flusterte. Ich dachte an die Kinder, die zu Hause auf mich warteten. Ich sah sie am Tisch sitzen und auf das Abendessen warten. Und ich wusste, ich musste durchhalten, um jeden Preis. Also hielt ich durch.

Ich wei? nicht genau, was mit Ricky passierte. Irgendwie schaffte er es, meine Beine von der Sprosse zu ziehen, und ich hing an den Armen in der Luft und trat wild um mich, und sehr wahrscheinlich traf ich ihn mitten ins Gesicht und brach ihm die Nase.

Denn gleich darauf lie? Ricky mich los, und ich horte ein Klong-klong-klong, als sein Korper die Leiter hinunterrutschte und er verzweifelt versuchte, im Fallen die Sprossen zu pakken. Ich horte: »Ricky, nein!«, und die Wolke verschwand von meinem Kopf, und ich war wieder vollig frei. Ich blickte nach unten und sah den Julia-Schwarm in Hohe von Ricky, der sich gut drei Meter uber dem Boden hatte abfangen konnen. Er starrte wutend hoch. Aus seinem Mund und der Nase sprudelte Blut. Er wollte wieder hochklettern, aber der Julia-Schwarm sagte: »Nein, Ricky. Nein, das schaffst du nicht! Lass Vince das machen.«

Und dann kletterte Ricky halb fallend nach unten, und der Schwarm nahm wieder Julias blassen Korper in Besitz, und die beiden standen da und beobachteten mich.

Ich wandte den Blick von ihnen ab und schaute nach oben.

Vince stand knapp anderthalb Meter uber mir.

Seine Fu?e waren auf den obersten Sprossen, und er beugte sich vor und versperrte mir den Weg. Ich hatte keine Chance, an ihm vorbeizukommen. Ich hielt inne und uberlegte, verlagerte mein Gewicht auf der Leiter, hob ein Bein zur nachsten Sprosse, hakte meinen freien Arm um die Sprosse vor meinem Gesicht. Doch als ich das Bein anzog, spurte ich einen Gegenstand in meiner Tasche. Ich hielt inne.

Ich hatte noch ein Phagen-Rohrchen.

Ich griff in die Tasche, holte das Rohrchen hervor und zeigte es ihm. Ich zog den Korken mit den Zahnen heraus. »He, Vince«, sagte ich. »Wie war's mit einer Fakaldusche?«

Er ruhrte sich nicht. Aber seine Augen verengten sich.

Ich stieg eine Sprosse hoher.

»Mach lieber, dass du wegkommst, Vince«, sagte ich. Ich musste so heftig keuchen, dass meine Stimme nicht so richtig bedrohlich klang. »Verschwinde, bevor du nass wirst ...«

Eine Sprosse weiter. Ich war nur noch drei Sprossen unter ihm.

»Deine Entscheidung, Vince.« Ich hielt das Rohrchen in der Hand. »Von hier aus kann ich zwar dein Gesicht nicht treffen. Aber deine Beine und Schuhe garantiert. Macht dir das nichts aus?«

Eine Sprosse weiter.

Vince blieb, wo er war.

»Offenbar nicht«, sagte ich. »Du lebst gern gefahrlich?«

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