und alle mit ihm zusammenhangenden Ereignisse glichen einem Aktenordner voller ungeordnet abgehefteter Notizen und Protokolle.
Er erinnerte sich daran, den Namen Doil erstmals gelesen zu haben, als er auf einer Computerliste potentieller Verdachtiger aufgetaucht war. Als Doil spater zu den Hauptverdachtigen zahlte, hatte die Mordkommission umfangreiche Ermittlungen bis in seine Kindheit zuruck angestellt.
Elroy Doil war zweiunddrei?ig, als die Morde begannen. Er war in dem Wynwood genannten und von »armen Wei?en« bewohnten Stadtviertel Miamis aufgewachsen. Obwohl dieser Name in keinem Stadtplan erscheint, besteht Wynwood aus sechzig Hauserblocks auf hundertdrei?ig Hektar Flache mitten in Miami, mit uberwiegend unterprivilegierter wei?er Bevolkerung, die in schlimmen, von hoher Straffalligkeit, Unruhen, Plunderungen und Polizeibrutalitat gepragten Verhaltnissen lebt.
Unmittelbar sudwestlich von Wynwood liegt Overtown ebenfalls auf keinem Stadtplan verzeichnet - mit uberwiegend unterprivilegierter schwarzer Bevolkerung, die in vergleichbar schlechten Verhaltnissen lebt.
Elroy Doils Mutter, die Prostituierte Beulah, war drogensuchtig und alkoholkrank. Freunden erklarte sie, der Vater ihres Sohnes »hatt' jeder von hundert Fickern sein konnen«, aber Elroy erzahlte sie spater, sein wahrscheinlichster Vater sitze lebenslanglich im Staatsgefangnis Belle Glade. Der Junge wuchs in Gesellschaft vieler verschiedener Manner auf, die unterschiedlich lange mit seiner Mutter zusammenlebten, und erinnerte sich an manche vor allem deshalb, weil sie ihn im Suff verprugelt oder sexuell mi?braucht hatten.
Weshalb Beulah Doil, die schon mehrere Abtreibungen hinter sich hatte, uberhaupt ein Kind bekam, blieb unklar. Ihre Erklarung lautete, sie sei »blo? nie dazugekommen, sich den Balg wegmachen zu lassen«.
Spater unterwies Beulah, eine gerissene, praktisch veranlagte Frau, ihren Sohn in Kleinkriminalitat und wie man es vermied, dabei geschnappt zu werden. Elroy lernte schnell. Als Zehnjahriger stahl er Lebensmittel fur seine Mutter und sich und klaute alles, was ihm in die Finger kam. Er beraubte auch seine Mitschuler. Dabei war es von Vorteil, da? er fur sein Alter gro? und ein brutaler Schlager war.
Unter Beulahs Anleitung lernte der Heranwachsende, das Jugendstrafrecht zu seinem Vorteil zu nutzen. Trotz mehrerer Festnahmen wegen Korperverletzung, Einbruch und Ladendiebstahl wurde er nach strengen Ermahnungen jedesmal wieder in die Obhut seiner Mutter entlassen.
Mit siebzehn Jahren - aber das erfuhr Malcolm Ainslie erst viel spater - wurde Elroy Doil erstmals wegen Mordes verdachtigt. Er war bei der Flucht aus der Umgebung des Tatorts gestellt worden und sollte vernommen werden. Da er noch unter das Jugendstrafrecht fiel, wurde seine Mutter aufs Polizeirevier bestellt, wo Elroy in ihrer Anwesenheit von Kriminalbeamten verhort wurde.
Bei eindeutiger Beweislage ware er nach Erwachsenenstrafrecht wegen Mordes in Untersuchungshaft gekommen. Beulah war im Umgang mit der Polizei erfahren und verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Sie erlaubte nicht, da? ihrem Sohn die Fingerabdrucke zum Vergleich mit einem in der Nahe des Tatorts gefundenen Messer abgenommen wurden. Aus Mangel an Beweisen mu?te die Polizei Doil schlie?lich entlassen, und der Mordfall blieb ungelost.
Als er dann Jahre spater als Serienmorder verdachtigt wurde, blieb seine Jugendstrafakte geschlossen, und seine Fingerabdrucke waren nicht registriert.
Nachdem Doil mit achtzehn Jahren volljahrig geworden war, setzte er die Gerissenheit, die er sich als Jugendlicher auf der Stra?e erworben hatte, ein, um weitere Straftaten zu veruben. Da er nie geschnappt wurde, schien er keine Vorstrafen zu haben. Erst als das Police Department sich spater grundlich mit seinem Vorleben beschaftigte, tauchten wichtige Informationen auf, die unterschlagen oder vergessen worden waren.
Jorge sagte plotzlich: »Wir mussen tanken, Sergeant. Am besten dort vorn in Wildwood.« Es war fast drei Uhr.
»Okay, aber beeilen Sie sich wie bei einem Boxenstopp. Ich hole uns inzwischen Kaffee.«
»Und Kartoffelchips. Nein, lieber Kekse. Wir brauchen Kekse.« Auf der Abbiegespur zur Ausfahrt waren bereits die Leuchtreklamen mehrerer Tankstellen zu sehen. Wildwood war ein traditioneller Rastplatz - tagsuber eine unordentliche Ansammlung von Touristenladen, die von Schund uberquollen, nachts ein Tankhalt fur Fernfahrer.
Jorge steuerte die erste Tankstelle an. Dahinter stand ein auch nachts geoffnetes Waffle House, in dessen Nahe mehrere Autos parkten. Um zwei dieser Fahrzeuge herum standen funf oder sechs schemenhafte Gestalten. Als der Streifenwagen heranrollte, schossen Kopfe hoch, und Gesichter wandten sich den naher kommenden Scheinwerfern zu.
Dann geschah alles blitzschnell. Die Manner, die vor Sekunden noch eine dichtgedrangte Gruppe gebildet hatten, stoben auseinander. Die Turen geparkter Wagen wurden aufgerissen, Gestalten warfen sich hinein, und wahrend die Turen noch offenstanden, sprangen bereits die Motoren an. Die Autos rasten davon, mieden die Interstate und kamen auf Nebenstra?en rasch au?er Sicht.
Jorge und Ainslie lachten.
»Auch wenn wir heute nacht sonst nichts erreichen«, stellte Ainslie fest, »haben wir zumindest einen Drogendeal platzen lassen.«
Beide wu?ten, da? die I-75 so spat nachts eine gefahrliche Route war. Au?er Drogenhandlern waren hier auch Diebe, Prostituierte und Stra?enrauber unterwegs.
Aber der Anblick eines Streifenwagens hatte sie alle verschreckt.
Ainslie gab Jorge Geld fur Benzin und kam aus dem Waffle House mit Kaffee und Keksen zuruck. Als Jorge wieder auf die I-75 hinauffuhr, schlurften sie ihren Kaffee durch die Aussparungen in den Plastikdeckeln der Pappbecher.
Ainslie und Jorge befanden sich jetzt vierhundertdrei?ig Kilometer nordlich von Miami und hatten noch gut hundertsechzig vor sich. Zwischen den Lastwagen, die um diese Zeit die Interstate fur sich allein hatten, kamen sie gut voran. Es war 3.30 Uhr. »Wir schaffen's, Sergeant«, stellte Jorge fest. »Kein Problem.«
Ainslie fuhlte sich erstmals seit ihrer Abfahrt aus Miami etwas weniger verkrampft. Er starrte durchs Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus und murmelte: »Ich will nur horen, wie er's sagt.«
Er sprach wieder von Doil und mu?te sich eingestehen, da? Karen in gewisser Weise recht hatte. Sein Interesse an Doil ging tatsachlich uber das Berufliche hinaus. Nachdem er das an jedem Tatort angerichtete Blutbad gesehen, monatelang nach dem Killer gefahndet und Doils schrecklichen Mangel an Reue beobachtet hatte, war Ainslie der ehrlichen Uberzeugung, die Welt musse von diesem Mann befreit werden. Er wollte horen, wie Doil die Morde gestand, und dann - auch wenn er Jorge zuvor etwas anderes erzahlt hatte - wollte er ihn sterben sehen. Das wurde er voraussichtlich schaffen.
»Verdammt!« rief Jorge im nachsten Augenblick. »Dort vorn mu? etwas passiert sein!«
Der auf der Interstate nach Norden flie?ende Verkehr wurde plotzlich dichter und geriet ins Stocken. Auf allen Fahrbahnen vor ihnen leuchteten Bremslichter auf. Jenseits des Mittelstreifens der I-75 war kein einziges Fahrzeug in Richtung Suden unterwegs.
»Schei?e! Schei?e!« Ainslie schlug mit der Faust aufs Handschuhfach. Der Streifenwagen schob sich im Kriechtempo an die lange Schlange roter Bremslichter heran. In der Ferne waren die Blinklichter von Rettungsfahrzeugen auszumachen.
»Auf der Standspur weiter«, wies er Jorge an. »Mit Blinklicht.«
Jorge schaltete die blauen, roten und wei?en Blinklichter ein und schlangelte sich durch Lucken auf die rechte Standspur hinuber. Sie fuhren gleichma?ig, aber vorsichtig an den jetzt stehenden Fahrzeugen vorbei. Uberall wurden Turen geoffnet, als Beifahrer ausstiegen und herauszufinden versuchten, warum die Interstate blockiert war.
»Schneller!« drangte Ainslie. »Wir haben's eilig!«
Wenig spater hatten sie mehrere Wagen der Florida Highway Patrol vor sich, die mit eingeschalteten Blinklichtern alle Fahrbahnen blockierten - auch die Standspur, die der Streifenwagen aus Miami benutzte.
Ein Lieutenant der Highway Patrol hob die rechte Hand, um sie zum Anhalten zu veranlassen, und kam auf den Wagen zu. Ainslie stieg aus.
»Hier ist wirklich nicht Miami, Jungs«, sagte der Lieutenant. »Habt ihr euch verfahren?«
»Nein, Sir.« Ainslie wies seine Plakette vor, die der andere inspizierte. »Wir mussen nach Raiford und haben's sehr eilig.«
»Dann haben Sie leider Pech, Sergeant. Die Interstate ist total gesperrt. Dort vorn ist ein schwerer Unfall passiert. Ein Tankzug ist ins Schleudern geraten und umgesturzt.«