»Lieutenant, wir mussen trotzdem durch!«
Die Stimme des Uniformierten wurde scharfer. »Ausgeschlossen! Der Fahrer und vermutlich auch die beiden Insassen des Wagens, den der Sattelzug uberrollt hat, sind tot. Die Tanks sind aufgerissen, und Tausende Liter Superbenzin laufen uber den Asphalt. Wir versuchen den Verkehr umzuleiten, bevor irgendein Idiot ein brennendes Zundholz aus dem Fenster wirft. Wir haben die Feuerwehr mit Loschschaum angefordert, aber die ist noch unterwegs. Also nein! Sie konnen unmoglich vorbei. Das ist mein letztes Wort.«
Der Lieutenant wandte sich ab, als einer seiner Leute seinen Namen rief.
Ainslie beherrschte sich muhsam. »Wir brauchen eine andere Route!«
Jorge, der schon eine Stra?enkarte auf der Motorhaube ausgebreitet hatte, schuttelte zweifelnd den Kopf. »Dafur reicht die Zeit nicht, Sergeant. Wir mu?ten die Interstate zuruckfahren und uns auf Nebenstra?en durchschlagen. Dabei kann man sich leicht verfahren. Konnen wir nicht doch... «
»Nein«, unterbrach Ainslie ihn, »wir mussen umkehren. Los, los, wir haben's eilig!«
Als sie wieder einstiegen, kam der Lieutenant zuruckgelaufen.
»Wir tun unser Bestes, um Ihnen zu helfen«, sagte er hastig. »Ich habe eben mit der Leitstelle gesprochen. Sie wei? von Ihnen und warum Sie nach Raiford mussen. Ich erklare Ihnen jetzt die kurzeste Strecke.«
Jorge machte sich Notizen, wahrend der Lieutenant die Ausweichroute beschrieb.
»Von hier aus fahren Sie nach Micanopy zuruck - zur Ausfahrt dreiundsiebzig. Dort nehmen Sie den Weg nach Westen zum Highway 441, den Sie fast sofort erreichen. Sie biegen links ab und fahren nach Norden in Richtung Gainesville; die Stra?e ist nicht schlecht, und Sie mu?ten gut vorankommen. Kurz vor Gainesville biegen Sie an einer Ampel rechts auf den Highway 331 ab. Dort wartet einer unserer Streifenwagen auf Sie. Der Fahrer ist Trooper Sequiera. Folgen Sie ihm. Er begleitet Sie auf dem kurzesten Weg nach Raiford.«
Ainslie nickte. »Danke, Lieutenant. In Ordnung, wenn wir mit Blinklicht und Sirene fahren?«
»Benutzen Sie alles, was Sie haben. Und noch was: Wir wissen naturlich alle von Doil. Sorgen Sie dafur, da? der Hundesohn auf den Stuhl kommt.«
Jorge fuhr bereits an. Er lie? den Streifenwagen zwischen Buschen hindurch uber den grasbewachsenen Mittelstreifen rollen und raste nach Suden davon - mit eingeschaltetem Blinklicht, heulender Sirene und durchgetretenem Gaspedal.
Jetzt wurde die Zeit verdammt knapp, das wu?te Ainslie. Auch Jorge war sich daruber im klaren.
Der erzwungene Umweg wurde sie mindestens eine halbe Stunde Zeit kosten, vielleicht sogar mehr.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 5.34 Uhr an. Animal wurde in weniger als eineinhalb Stunden hingerichtet werden. Klappte wirklich alles, konnten sie in ungefahr vierzig Minuten in Raiford sein - gegen 6.15 Uhr. Zog man die Zeit ab, die Ainslie benotigte, um ins Gefangnis eingelassen und zu Doil gebracht zu werden, und berucksichtigte man, da? der Todeskandidat fruher weggebracht werden wurde, um auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt zu werden, konnte Ainslie auf bestenfalls eine halbe Stunde fur das Gesprach mit Doil hoffen.
Nicht genug! Nicht annahernd genug.
Aber die Zeit wurde reichen mussen.
»Schei?e!« murmelte Ainslie. Er mu?te sich beherrschen, um Jorge nicht zu drangen, schneller zu fahren. Aber das hatte niemand gekonnt. Jorge, der sehr gut fuhr, hatte die Wegbeschreibung Ainslie uberlassen, der sie mit der Taschenlampe las, wenn sie gebraucht wurde. Der Highway 441, auf dem sie jetzt fuhren, war nicht kreuzungsfrei wie die I-75; au?erdem waren hier langsamere Lastwagen unterwegs, die Jorge nacheinander uberholte, um kostbare Sekunden zu gewinnen. Mit Blinklicht und Sirene war das kein Problem, aber inzwischen hatte Nieselregen eingesetzt, und in Bodensenken lagen Nebelbanke, in denen sie die Geschwindigkeit drosseln mu?ten.
»Verdammt!« knurrte Ainslie. »Wir schaffen's nicht.«
»Wir haben noch eine Chance.« Jorge sa? nach vorn gebeugt am Steuer und konzentrierte sich ganz auf die Stra?e; jetzt trat er das Gaspedal weiter durch. »Verlassen Sie sich auf mich!«
Der sensationelle Mordproze? gegen Elroy Doil machte Schlagzeilen in fast allen amerikanischen Zeitungen und wurde von den gro?en Fernsehsendern taglich kommentiert. Vor dem Gerichtsgebaude hatte sich eine Handvoll Demonstranten mit Schriftbandern versammelt, auf denen die Todesstrafe gefordert wurde. Journalisten drangelten sich - viele vergebens -, um einen der wenigen Platze im Medienbereich des Verhandlungssaals zu ergattern.
Die Emporung der Offentlichkeit wurde durch die Entscheidung der Staatsanwaltin geschurt, Doil nur wegen der letzten Straftat anzuklagen - wegen des Mordes an Kingsley und Nellie Tempone, einem alteren, reichen und geachteten schwarzen Ehepaar aus Miami, das in seinem Haus im exklusiven Vorort Bay Heights grausam gefoltert und erstochen worden war.
Wurde Doil wegen der Ermordung des Ehepaars Tempone schuldig gesprochen und hingerichtet, wurden die anderen zehn Morde, die er vermutlich ebenfalls begangen hatte, fur immer ungeklart bleiben.
Die kontroverse Entscheidung, die die Staatsanwaltin Adele Montesino auf Anraten ihrer erfahrensten Strafverfolger getroffen hatte, bewirkte einen Aufschrei der Familien der ubrigen Mordopfer, die im Namen ihrer Angehorigen, die sie verloren hatten, lautstark Gerechtigkeit forderten. Die Medien berichteten uber ihre Emporung und nutzten diese Gelegenheit, Doil offentlich mit den fruheren Morden in Verbindung zu bringen, ohne Schadensersatzklagen befurchten zu mussen.
Dadurch wurde die Offentlichkeit sensibilisiert und zunehmend kritischer.
Auch der Polizeiprasident von Miami hatte die Staatsanwaltin gedrangt, Doil zumindest wegen eines weiteren Doppelmords anzuklagen.
Aber Adele Montesino, eine kleine, mollige Vierundfunfzigjahrige mit dem Spitznahmen »Pitbull«, lie? sich nicht beeinflussen. Sie befand sich in ihrer dritten vierjahrigen Amtsperiode, hatte bereits erklart, nicht wieder kandidieren zu wollen, und konnte es sich deshalb leisten, ihre Unabhangigkeit zu demonstrieren.
Auch Sergeant Malcolm Ainslie hatte an einer Strategiebesprechung vor der Verhandlung teilgenommen, bei der Adele Montesino gesagt hatte: »Im Fall Tempone steht die Anklage felsenfest.«
Sie zahlte die wichtigsten Punkte an ihren Fingern auf. »Doil ist am Tatort festgenommen worden - mit dem Blut beider Opfer an seiner Kleidung. Wir haben das in seinem Besitz befindliche Messer, das die Gerichtsmedizinerin als Tatwaffe identifiziert hat und an dem ebenfalls Blutspuren der Opfer festgestellt worden sind. Und wir haben einen glaubwurdigen Augenzeugen, mit dem alle Geschworenen Mitleid haben werden. Kaum jemand auf dieser Welt wurde Elroy Doil unter diesen Umstanden freisprechen.«
Der von ihr erwahnte Augenzeuge war der Enkel des Ehepaars Tempone, der zwolfjahrige Ivan. Der Junge hatte seine Gro?eltern besucht und war au?er ihnen als einziger im Haus gewesen, als Doil dort eingedrungen und das altere Paar uberfallen hatte.
Ivan befand sich im Nebenzimmer, wo er zunachst wie gelahmt und stumm vor Entsetzen durch einen Turspalt beobachtete, wie seine Gro?eltern durch unzahlige Schnitte und Stiche todlich verletzt wurden. Trotz seiner Angst, da? der Tater auch ihn ermorden konnte, war der Junge mutig und vernunftig genug gewesen, um ans Telefon zu schleichen und 911 anzurufen.
Obwohl die Polizei Kingsley und Nellie Tempone nicht mehr retten konnte, war sie rechtzeitig da, um Elroy Doil festzunehmen, der sich noch auf dem Grundstuck aufhielt und auf dessen Latexhandschuhen und Kleidung sich das Blut der beiden befand. Nachdem Ivan wegen eines Schocks behandelt worden war, schilderte er den Uberfall so nuchtern und gefa?t, da? Adele Montesino davon uberzeugt war, da? der Junge auch im Zeugenstand glaubwurdig wirken wurde.
»Klagen wir ihn auch wegen dieser anderen Falle an«, fuhr die Staatsanwaltin fort, »haben wir in keinem einzigen ahnlich eindeutige, unwiderlegbare Beweise. Gut, es gibt Indizienbeweise. Wir konnen nachweisen, da? Doil als Tater in Frage kommt, weil er sich zu den Tatzeitpunkten in der Nahe der Tatorte befunden hat. Am ersten Tatort ist ein Handflachenabdruck gefunden worden, der ziemlich sicher von Doil stammt, aber unsere Fingerabdruckexperten weisen darauf hin, da? nur sieben ubereinstimmende Merkmale festzustellen sind, wahrend wir fur eine eindeutige Identifizierung neun oder zehn brauchen. Au?erdem wissen wir von Dr. Sanchez, da? das im Fall Tempone sichergestellte Bowiemesser