Ainslie erinnerte sich daran, der Meinung gewesen zu sein, es sei fast unmoglich, da? die Geschworenen Doils Auftreten vor Gericht ignorierten. Jedenfalls gelangten sie nach sechs Verhandlungstagen und knapp funfstundiger Beratung zu dem einstimmigen Urteil: »Schuldig wegen Mordes.«
Darauf folgte das unvermeidliche Todesurteil. Nach dem Proze? gegen ihn beharrte Doil weiter darauf, unschuldig zu sein, verweigerte aber die Mitwirkung an einem Revisionsverfahren und erteilte auch anderen keine Vollmacht, in seinem Namen in Revision zu gehen. Trotzdem waren noch unzahlige burokratische Formalitaten zu erledigen, bevor schlie?lich ein Hinrichtungsdatum festgelegt wurde. Dieses langwierige Verfahren zwischen Urteilsspruch und Hinrichtung dauerte ein Jahr und sieben Monate.
Aber nun war unaufhaltsam der Exekutionstermin gekommen - und mit ihm eine qualende Frage: Was wollte Doil Ainslie im Angesicht des Todes mitteilen?
Jorge raste weiter durch Regen und Nebel auf dem Highway 441 nach Norden.
Ainslie sah auf die Uhr am Armaturenbrett: 5.48 Uhr.
Er griff nach Notizblock und Mobiltelefon, dann tippte er eine Nummer ein. Gleich nach dem ersten Klingeln meldete sich eine Mannerstimme.
»Staatsgefangnis.«
»Lieutenant Hambrick, bitte.«
»Am Apparat, sind Sie Sergeant Ainslie?«
»Ja, Sir. Ungefahr zwanzig Minuten entfernt.«
»Nun, Sie sind spat dran, aber wir tun unser Bestes, sobald Sie eintreffen. Aber Sie verstehen, da? nichts verschoben werden kann?«
»Das wei? ich, Sir.«
»Sind Sie schon bei Ihrem Begleitfahrzeug?«
»Nein... Augenblick! Vor uns sehe ich eine Ampel.«
Jorge nickte heftig, als zwei grune Leuchten in Sicht kamen.
»An der Ampel biegen Sie rechts ab«, sagte Hambrick. »Der Streifenwagen steht um die Ecke. Trooper Sequiera wird eben verstandigt. Er fahrt los, sobald Sie abbiegen.«
»Danke, Lieutenant.«
»Okay, passen Sie auf. Bleiben Sie dicht hinter Sequiera. Sie konnen unser au?eres Tor, das Haupttor und die beiden Kontrollstellen dahinter ohne Halt passieren. Ein Wachturm richtet seinen Scheinwerfer auf Sie, aber Sie fahren trotzdem weiter und halten erst vor dem Eingang des Verwaltungsgebaudes an. Dort warte ich auf Sie. Haben Sie das alles?«
»Ich hab's.«
»Sie sind vermutlich bewaffnet, Sergeant?«
»Ja, das bin ich.«
»Dann gehen wir sofort in die Sicherheitszentrale, wo Sie Ihre Dienstwaffe mit Munition und Ihre Polizeiplakette abgeben. Wer ist Ihr Fahrer?«
»Detective Jorge Rodriguez.«
»Er bekommt seine Anweisungen, sobald Sie hier sind. Noch etwas, Sergeant: Sie mussen sich verdammt beeilen, okay?«
»Das wei? ich, Lieutenant. Danke.«
Ainslie sah zu Jorge hinuber. »Haben Sie das alles mitgekriegt?«
»Jedes Wort, Sergeant.«
Die Ampel vor Ihnen sprang auf Rot um, aber Jorge achtete nicht darauf. Er bremste kaum, als er mit quietschenden Reifen rechts abbog. Vor ihnen fuhr bereits ein schwarzgelber Mercury Marquis der Highway Patrol mit eingeschaltetem Blinklicht an. Der blauwei?e Streifenwagen aus Miami setzte sich dahinter, und beide Fahrzeuge verschmolzen in Sekundenschnelle zu einer einzigen grell aufblitzenden Lichterscheinung, die in die Nacht davonraste.
Als Ainslie spater versuchte, dieses letzte Teilstuck ihrer Sechshundertfunfzig-Kilometer-Fahrt zu rekonstruieren, stellte er fest, da? er sich nur an vage Momentaufnahmen erinnern konnte. Seiner Einschatzung nach legten sie die letzten funfunddrei?ig Kilometer auf engen, kurvenreichen Stra?en in weniger als vierzehn Minuten zuruck. Einmal, das sah er zufallig, zeigte der Tachometer uber hundertvierzig Stundenkilometer an.
Einige markante Punkte kannte Ainslie von fruheren Besuchen. Erst die Kleinstadt Waldo, danach der Gainesville Airport rechts auf der Stra?e; beide schienen sie so rasch passiert zu haben, da? er sie ubersehen hatte. Dann kam Starke, die graue Schlafstadt von Raiford. Er wu?te, da? es hier bescheidene Hauser, einfache Laden, billige Motels und heruntergekommene Tankstellen gab, aber er sah nichts davon. Hinter Starke ein dunkles Stra?enstuck... vorbeiflitzende Baume... alles in rasendem Tempo verschwimmend.
»Wir sind da«, sagte Jorge. »Dort vorn ist Raiford.«
Das Florida State Prison erinnerte an eine gewaltige Festung und das war es auch. Ebenso wie die beiden anderen Gefangnisse unmittelbar dahinter.
Eigentumlicherweise lag das Staatsgefangnis offiziell in Starke, nicht in Raiford. Die beiden anderen, die tatsachlich in Raiford lagen, waren das Raiford Prison und das Union Correctional Institute. Aber im Florida State Prison befand sich die Death Row, und dort fanden alle Hinrichtungen statt.
Vor Ainslie und Jorge turmte sich eine gigantische Aneinanderreihung hoher, abweisend nuchterner Stahlbetonbauten auf: ein anderthalb Kilometer langer Komplex mit endlosen Reihen schmaler, massiv vergitterter Zellenfenster. In dem funktionalen eingeschossigen Gebaude, das aus der Baumasse herausragte, war die Gefangnisverwaltung untergebracht. Ein weiterer alleinstehender Stahlbetonbau - zwei Stockwerke hoch und fensterlos - enthielt die Gefangniswerkstatten.
Der Komplex war von drei massiven Maschendrahtzaunen umgeben: jeder zehn Meter hoch und oben mit Stacheldrahtrollen versehen und von unter Strom stehenden Drahten gesichert. Entlang der Zaune standen in regelma?igen Abstanden insgesamt neun Wachturme aus Stahlbeton, auf denen Posten, mit Gewehren, Maschinengewehren, Tranengas und Scheinwerfern ausgerustet, Wache hielten. Von den Turmen aus konnten sie das ganze Gefangnis uberblicken. Durch die beiden Korridore zwischen den Zaunen streiften freilaufende Wachhunde, darunter Schaferhunde und Pitbulls.
Als das Staatsgefangnis vor ihnen auftauchte, fuhren beide Streifenwagen langsamer, und Jorge, der den Komplex zum erstenmal sah, stie? einen halblauten Pfiff aus.
»Kaum zu glauben«, sagte Ainslie, »aber ein paar Kerle haben's tatsachlich geschafft, hier auszubrechen. Die meisten sind allerdings nicht sehr weit gekommen.« Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett - 6.02 Uhr - erinnerte ihn daran, da? Elroy Doil das Staatsgefangnis in weniger als einer Stunde auf dem schlimmsten Weg verlassen wurde.
Jorge schuttelte den Kopf. »Ware ich hier zu Hause, wurde ich todsicher auszubrechen versuchen.«
Das au?ere Tor und der angrenzende Parkplatz waren in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Auf dem Parkplatz herrschte reger Betrieb - fur diese Tageszeit sehr ungewohnlich, aber das Interesse der Offentlichkeit an Doils Hinrichtung hatte zahlreiche Reporter angelockt. Mindestens hundert weitere Zaungaste hatten sich dort versammelt und hofften auf irgendeine sensationelle Entwicklung. In der Nahe befanden sich mehrere Ubertragungswagen von Fernsehstationen.
Wie gewohnt standen Demonstranten in kleinen Gruppen beisammen und skandierten Parolen. Manche trugen an Stangen befestigte Schilder, auf denen die heutige Hinrichtung und die Todesstrafe ganz allgemein angeprangert wurden; andere hielten brennende Kerzen in den Handen. Ainslie fragte sich, wie haufig die Demonstranten - falls uberhaupt - an diejenigen dachten, die selbst keine Stimme mehr hatten: die Mordopfer.
Ainslie und Jorge fuhren am Parkplatz vorbei zum Haupttor, einer zweispurigen Ein- und Ausfahrt, an der uniformierte Wachen standen. Normalerweise mu?ten sich hier alle Besucher ausweisen und ihren Besuchszweck angeben. Aber diesmal winkten die Posten, die wei?e Hemden und auffallige giftgrune Hosen trugen, die beiden Streifenwagen durch. Gleichzeitig erfa?te ein Turmscheinwerfer die Fahrzeuge und geleitete sie in Richtung Verwaltungsgebaude. Ainslie und Jorge schirmten die Augen ab, um nicht geblendet zu werden.
Die Fahrzeuge wurden auch an den beiden inneren Kontrollstellen durchgewinkt und rollten bereits auf das Verwaltungsgebaude zu. Ainslie war schon mehrmals im Staatsgefangnis gewesen, um Haftlinge zu vernehmen,