die als Zeugen benannt worden waren, aber bei keinem dieser Besuche war er so schnell in die innere Zone gelangt.
Der Streifenwagen der Highway Patrol hielt vor dem Eingang des Verwaltungsgebaudes an, und Jorge parkte mit dem blauwei?en Fahrzeug dicht daneben.
Als Ainslie ausstieg, sah er einen gro?en, schlanken Mann in der Uniform eines Gefangniswarters mit den Rangabzeichen eines Lieutenant auf sich zukommen. Er war schatzungsweise Mitte Vierzig, trug eine Lesebrille und hatte auf der rechten Wange eine lange Narbe. Seine Stimme klang energisch und selbstbewu?t, als er die Rechte ausstreckte und sagte: »Sergeant Ainslie, ich bin Hambrick.«
»Guten Morgen, Lieutenant. Danke fur die Vorarbeit.«
»Kein Problem, aber kommen Sie gleich mit.« Der Lieutenant ging voraus und trabte einen hell beleuchteten Korridor entlang -die streng bewachte Verbindung zwischen den au?eren Sicherheitseinrichtungen und den gewaltigen Zellenblocks vor ihnen. Die beiden Manner blieben kurz stehen, um zwei elektrisch betatigte Stahlgitter und dann eine massive Stahltur zu passieren. Diese fuhrte in den Hauptkorridor, der so breit wie eine vierspurige Schnellstra?e war und durch alle sieben Zellenblocks des Staatsgefangnisses verlief.
Hambrick und Ainslie blieben vor der mit Stahlplatten und Panzerglas armierten Sicherheitszentrale stehen, in der zwei Wachen und ein weiblicher Lieutenant Dienst taten. Die Uniformierte schob ein Metallfach durch die Wand nach drau?en; Ainslie legte seine Glock, eine 9mm-Pistole, das Magazin mit funfzehn Schu? und seine Polizeiplakette hinein. Die Schublade wurde zuruckgezogen, um ihren Inhalt in einem Safe zu deponieren, bis er Ainslie wieder ausgehandigt werden konnte. Niemand fragte nach dem Tonbandgerat unter seiner Jacke, das er wahrend der Fahrt umgeschnallt hatte. Er beschlo?, es nicht ungefragt zu erwahnen.
»Los, wir mussen weiter«, drangte Hambrick, aber in diesem Augenblick tauchte eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen im Korridor auf und blockierte sie. Diese Neuankommlinge waren gutgekleidete Besucher; alle wirkten ernst und konzentriert, wahrend sie von Aufsehern eilig durch die Gange gefuhrt wurden. Hambrick sah zu Ainslie hinuber und formte mit den Lippen das Wort »Zeugen«.
Ainslie erkannte, da? die Gruppe zum Hinrichtungsraum unterwegs war: »zwolf angesehene Burger«, wie es das Gesetz befahl, und weitere Personen, deren Anwesenheit der Gefangnisdirektor genehmigt hatte, wobei es immer mehr Bewerber als Sitzplatze gab. Die Hochstgrenze lag bei vierundzwanzig Personen. Die Zeugen wurden sich irgendwo in der Nahe versammelt haben, um mit einem Bus ins Gefangnis gebracht zu werden. Ihre Anwesenheit war ein Zeichen dafur, da? die Vorbereitungen fur 7.00 Uhr planma?ig liefen.
In dieser Gruppe erkannte Ainslie eine Senatorin und zwei Abgeordnete aus dem hiesigen Kongre?. Politiker konkurrierten darum, Hinrichtungen beiwohnen zu durfen, weil sie hofften, ihre Anwesenheit bei solch bedeutsamen Demonstrationen des rechtsstaatlichen Systems werde ihnen Wahlerstimmen einbringen. Dann verbluffte ihn der Anblick einer weiteren Zeugin: Commissioner Cynthia Ernst aus Miami, die einst eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Aber eigentlich war klar, weshalb sie bei Animal Doils Hinrichtung dabei sein wollte.
Ihre Blicke trafen sich sekundenlang, und Ainslie fuhlte, da? er unwillkurlich Luft holte. Diese Wirkung hatte sie jedesmal auf ihn. Und er spurte, da? sie sich seiner Gegenwart ebenfalls bewu?t war, obwohl sie sich au?erlich nichts anmerken lie?. Als sie an ihm vorbeiging, blieb ihr Gesichtsausdruck kuhl und gelassen.
In der nachsten Sekunde waren die Zeugen an ihnen vorbei, und Lieutenant Hambrick und Ainslie hasteten weiter.
»Der Superintendent stellt uns fur das Gesprach mit Doil sein Buro im Todestrakt zur Verfugung«, sagte Hambrick. »Wir bringen ihn dorthin zu Ihnen. Er hat die Vorbereitungen schon hinter sich.« Der Lieutenant sah auf seine Armbanduhr. »Sie haben ungefahr eine halbe Stunde Zeit, nicht viel mehr. Waren Sie ubrigens schon mal bei einer Hinrichtung dabei?«
»Ja, einmal.« Das war drei Jahre her. Auf Bitten der Hinterbliebenen hatte Ainslie ein junges Ehepaar begleitet, das sich dafur entschieden hatte, bei der Hinrichtung eines Gewohnheitsverbrechers dabeizusein, der die achtjahrige Tochter der beiden vergewaltigt und dann ermordet hatte. Ainslie, der den Tater gefa?t hatte, war damit einer dienstlichen Verpflichtung nachgekommen, die ihm jedoch noch lange danach zu schaffen machte.
»Heute sehen Sie eine weitere«, sagte Hambrick. »Doil hat Sie als Zeugen benannt, und das Gesuch ist genehmigt worden.«
»Mich hat keiner gefragt«, wandte Ainslie ein. »Aber darauf kommt's vermutlich nicht an.«
Hambrick zuckte mit den Schultern. »Ich habe mit Doil gesprochen. Er scheint ein besonderes Verhaltnis zu Ihnen zu haben. Ich wei? nicht, ob Bewunderung das richtige Wort ist; Respekt ware wohl besser. Sind Sie ihm irgendwie nahergekommen?«
»Niemals!« stellte Ainslie nachdrucklich fest. »Ich habe den Hundesohn wegen Mordes verhaftet - das war alles. Au?erdem ha?t er mich. Wahrend der Verhandlung hat er mich tatlich angegriffen und wust beschimpft.«
»Spinner wie Doil wechseln ihre Einstellung wie Sie und ich die Gange im Auto. Er denkt jetzt ganz anders von Ihnen.«
»Macht keinen Unterschied. Ich bin nur hier, um ein paar Antworten zu horen, bevor er stirbt. Ansonsten empfinde ich null fur den Kerl.«
Sie gingen weiter, wahrend Hambrick das Gehorte verarbeitete. Dann fragte er: »Stimmt es, da? Sie fruher Geistlicher gewesen sind?«
»Ja. Hat Doil Ihnen das erzahlt?«
Der Lieutenant nickte. »Aus seiner Sicht sind Sie das noch immer. Ich bin dabeigewesen, als er gestern abend nach Ihnen verlangt hat. Er hat dabei aus der Bibel zitiert - irgendwas mit Rache und Vergeltung.«
»Ja«, bestatigte Ainslie, »das ist aus dem Brief des Paulus an die Romer: >Gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.<«
»Genau! Danach hat Doil Sie als >Gottes rachenden Engel< bezeichnet, und da wurde mir bewu?t, da? Sie ihm mehr bedeuten als ein Geistlicher. Hat Pater Uxbridge Ihnen das alles am Telefon erzahlt?«
Ainslie schuttelte den Kopf; er fand diese Umgebung deprimierend und wunschte sich, er sa?e mit Karen und Jason daheim beim Fruhstuck. Nun, immerhin hatte er jetzt eine Erklarung fur Ray Uxbridges Feindseligkeit am Telefon und seine Ermahnung, ja nicht aus der Rolle zu fallen.
Unterdessen hatten sie den allgemein als Death House bezeichneten Todestrakt erreicht. Er umfa?te drei Geschosse eines Zellenblocks und enthielt die Death Row, in der zum Tode Verurteilte lebten, solange ihr Fall durch die Instanzen ging, und spater auf ihre Hinrichtung warteten. Ainslie kannte auch die ubrigen Einrichtungen: die spartanische »Bereitschaftszelle«, in der jeder Todeskandidat die letzten funfundsechzig Stunden seines Lebens unter standiger Beobachtung verbrachte; den Vorbereitungsraum, in dem sein Kopf und das rechte Bein rasiert wurden, damit sie elektrisch besser leiteten; und schlie?lich den Hinrichtungsraum mit dem elektrischen Stuhl, mehreren Sitzreihen fur die Zeugen und der von au?en nicht einsehbaren Scharfrichterkabine.
Im Hinrichtungsraum, das wu?te Ainslie, liefen seit einigen Stunden die letzten Vorbereitungen. Als erster wurde der Chefelektriker eingetroffen sein, um den elektrischen Stuhl an die Stromversorgung anzuschlie?en und die Spannung, die Sicherungen und den Schalter zu uberprufen, mit dem der Scharfrichter, der eine schwarze Robe mit Kopfhaube trug, zweitausend Volt in automatischen Achtsekundensto?en in den Kopf des Verurteilten schickte. Die starken Stromsto?e fuhrten innerhalb von zwei Minuten den Tod herbei - nach angeblich sofort und schmerzlos eintretender Bewu?tlosigkeit. Ob der Vorgang wirklich schmerzlos war, stand nicht fest, aber diese Zweifel lie?en sich nicht ausraumen, weil noch niemand auf dem elektrischen Stuhl uberlebt hatte, um daruber Auskunft zu geben.
Ebenfalls im Hinrichtungsraum, in Sichtweite des elektrischen Stuhls, befand sich ein rotes Telefon. Unmittelbar vor der Hinrichtung sprach der Gefangnisdirektor an diesem Telefon mit dem Gouverneur des Bundesstaates Florida, um seine Genehmigung fur die bevorstehende Hinrichtung einzuholen. Der Gouverneur konnte seinerseits den Direktor noch Stunden vor der Betatigung des Todesschalters anrufen und einen Aufschub der Exekution anordnen - vielleicht wegen in letzter Minute aufgetauchter neuer Beweise, einer Entscheidung des Obersten Gerichts oder sonstiger juristischer Grunde. Das hatte es schon fruher gegeben, und es konnte auch heute passieren.
Eine ungeschriebene und inoffizielle Regel besagte, da? jede Hinrichtung um eine Minute hinausgezogert wurde - eine Vorsichtsma?nahme fur den Fall, da? das rote Telefon einige Sekunden zu spat klingelte. Daher wurde die fur 7.00 Uhr angesetzte Hinrichtung Doils in Wirklichkeit erst um 7.01 Uhr stattfinden.