»Wir sind da«, kundigte Hambrick an. Sie standen vor einer massiven Holztur, die er aufsperrte, bevor er den Lichtschalter betatigte. Aufflammende Leuchtstoffrohren erhellten einen fensterlosen quadratischen Raum mit etwa sieben Meter Seitenlange. Die Einrichtung bestand aus einem schmucklosen Holzschreibtisch, hinter dem ein Drehstuhl mit hoher Ruckenlehne stand, einem schweren Metallstuhl, der vor dem Schreibtisch auf dem Fu?boden festgeschraubt war, und einem kleinen Beistelltisch. Das war alles.
»Der Super benutzt dieses Buro nicht oft«, sagte Hambrick. »Nur vor Hinrichtungen.« Er deutete auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch. »Dort sitzen Sie, Sergeant. Ich bin gleich wieder da.«
Sobald der Lieutenant hinausgegangen war, stellte Ainslie das unter seiner Jacke verborgene Tonbandgerat an.
Hambrick war in weniger als funf Minuten zuruck. Begleitet wurde er von zwei Gefangniswartern, die eine Gestalt, die Ainslie erkannte, halb fuhrten und halb stutzten. Doil trug eine Fu?kette und Handschellen, die an einem straff angezogenen Ledergurt befestigt waren. Hinter diesem Trio tauchte Pater Uxbridge auf.
Ainslie hatte Elroy Doil seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen - seit der Urteilsverkundung durch Richter Olivadotti. In der Zwischenzeit war in Doil eine dramatische Veranderung vor sich gegangen. Vor Gericht war er korperlich robust, gro? und kraftig erschienen und entsprechend aggressiv aufgetreten, aber jetzt schien sein Zustand sich ins Gegenteil verkehrt zu haben. Sein Rucken war krumm, die Schultern hingen herab, sein Korper war abgemagert, sein Gesicht hager und eingefallen. Aus seinem unstet flackernden Blick sprach nicht mehr Aggressivitat, sondern nervose Unsicherheit. Sein Kopf war fur die Hinrichtung kahlrasiert worden, und diese unnaturliche rosa Vollglatze verstarkte sein elendes Aussehen.
Der Anstaltsgeistliche trat vor; er trug eine Soutane und hielt ein Brevier in der Hand. Pater Uxbridge war ein gro?er, breitschultriger Mann mit edlen Gesichtszugen und einer Ausstrahlung, an die Ainslie sich von fruheren Begegnungen her erinnerte. Er wandte sich an Doil, ohne Ainslie eines Blickes zu wurdigen.
»Mr. Doil, ich bin bereit, mit Ihnen auszuharren, um Ihnen Gottes Trost zu spenden, solange es die Umstande gestatten. Ich mochte Sie nochmals daran erinnern, da? Sie nicht verpflichtet sind, irgendeine Aussage zu machen oder Fragen zu beantworten.«
»Augenblick!« sagte Ainslie, sprang aus dem Drehstuhl auf und kam um den Schreibtisch herum. »Doil, ich bin acht Stunden lang aus Miami hergefahren, weil Sie mich sprechen wollten. Pater Uxbridge hat gesagt, Sie hatten mir etwas mitzuteilen.«
Ainslie fiel auf, da? Doils Hande ineinanderverkrampft und seine Handgelenke von den engen Handschellen aufgeschurft waren. Er sah zu Hambrick hinuber und zeigte auf die Handschellen. »Konnen Sie ihm die nicht abnehmen lassen, wahrend wir miteinander reden?«
Der Lieutenant schuttelte den Kopf. »Sorry, Sergeant, das geht nicht. Seit Doil hier ist, hat er drei unserer Leute zusammengeschlagen. Einer war sogar krankenhausreif.«
Ainslie nickte. »Okay, dann lieber nicht.«
Doil hob den Kopf, als Ainslie sprach. Vielleicht lag es an seinem humanen Vorschlag, ihm die Handschellen abzunehmen, oder am Tonfall von Ainslies Stimme... jedenfalls sank Doil plotzlich auf die Knie und ware nach vorn gefallen, wenn die Warter ihn nicht gestutzt hatten. Im nachsten Augenblick schob er sein Gesicht an eine Hand Ainslies heran und bemuhte sich vergeblich, sie zu kussen. Zugleich murmelte er undeutlich: »Vergeben Sie mir, Pater, denn ich habe gesundigt...«
Pater Uxbridge wollte sich mit zornrotem Gesicht zwischen die beiden drangen. »Nein, nein, nein!« schrie er Ainslie an. »Das ist Gotteslasterung!« An Doil gewandt fugte er eindringlich hinzu: »Dieser Mann ist kein... «
»Klappe halten!« knurrte Ainslie ihn an. Zu Doil sagte er ruhiger: »Ich bin kein Geistlicher mehr. Das wissen Sie. Aber wenn Sie mir etwas gestehen wollen, bin ich bereit, Ihnen als Mensch zuzuhoren.«
»Sie durfen ihm keine Beichte abnehmen!« protestierte Uxbridge erneut. »Dazu haben Sie kein Recht!«
Doil wandte sich wieder an Ainslie. »Pater, ich habe...«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, da? er kein Pater ist!« rief Uxbridge erregt.
Doil murmelte etwas, und Ainslie verstand die Worte: »Er ist Gottes rachender Engel...«
»Das ist Gotteslasterung!« wiederholte Uxbridge. »Das lasse ich nicht zu!«
Doil sah sich plotzlich nach ihm um. »Verpi? dich!« fauchte er Uxbridge an. Dann rief er Hambrick und den beiden Wartern zu: »Schafft dieses Arschloch hier raus!«
Der Lieutenant wandte sich an Uxbridge. »Sie mussen leider gehen, Pater. Wenn er Sie nicht dabeihaben will, ist das sein gutes Recht.«
»Ich gehe nicht!«
Hambricks Stimme klang scharfer. »Bitte, Pater. Ich mochte Sie nicht gewaltsam entfernen lassen mussen.«
Auf sein Zeichen hin lie? einer der beiden Warter Doil los und ergriff Uxbridges Arm.
Der Pater ri? sich los. »Fassen Sie mich nicht an! Ich bin ein Priester, ein Mann Gottes!« Wahrend der Gefangniswarter unsicher zogerte, baute Uxbridge sich vor Hambrick auf. »Das werden Sie noch bereuen! Ich werde den Gouverneur personlich von Ihrem unmoglichen Verhalten in Kenntnis setzen.« Ainslie fauchte er an: »Die Kirche kann froh sein, Sie losgeworden zu sein.« Nach einem aufgebrachten letzten Blick in die Runde verlie? er endlich den Raum.
Elroy Doil, der weiter vor Ainslie auf den Knien lag, begann erneut: »Vergeben Sie mir, Pater, denn ich habe gesundigt. Zuletzt gebeichtet hab' ich vor... Schei?e, das wei? ich nicht mehr.«
Unter anderen Umstanden hatte Ainslie wahrscheinlich gelachelt, aber jetzt war er hin- und hergerissen. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte horen, was Doil zu sagen hatte aber nicht als Hochstapler.
Dann machte Hambrick nach einem Blick auf seine Uhr einen Vorschlag, aus dem gesunder Menschenverstand sprach. »Wollen Sie alles horen, sollten Sie ihn reden lassen, wie er will.«
Ainslie zogerte noch immer und wunschte sich, dieser Augenblick ware unter anderen Umstanden eingetreten.
Aber er wollte es
Angefangen hatte alles vor zwei Jahren in Coconut Grove, einem Stadtteil von Miami - an einem kuhlen Januarmorgen kurz nach sieben Uhr.
Orlando Cobo, ein funfzigjahriger Wachmann des Hotels Royal Colonial in Coconut Grove, war mude. Er war froh, bald nach Hause fahren zu konnen, als er bei seinem Routinerundgang kurz vor sieben Uhr den achten Stock betrat. Hinter ihm lag eine verhaltnisma?ig ruhige Nacht mit nur drei unbedeutenden Vorfallen wahrend seiner Achtstundenschicht.
Sicherheitsprobleme, die mit Jugend, Sex oder Drogen zusammenhingen, gab es im Royal Colonial nur sehr selten. Seine Klientel bestand hauptsachlich aus gesetzten, wohlhabenden Gasten mittleren Alters, denen die altmodisch ruhige Hotelhalle, die massenhaft herumstehenden tropischen Pflanzen und der Zuckerbackerstil des alten Gebaudes gefielen.
In gewisser Weise war das Hotel ein Spiegelbild des Stadtteils Coconut Grove, in dem es stand - eine manchmal disharmonische Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart. Hier drangten sich baufallige Holzhauser neben einst exklusiven, eleganten Stadthausern; winzige Secondhandshops befanden sich unmittelbar neben teuren Galerien und Boutiquen; Schnellimbi?buden mit Stra?enverkauf befanden sich in Nachbarschaft von Luxusrestaurants; uberall lebten Arm und Reich auf Tuchfuhlung nebeneinander. Coconut Grove, Floridas alteste Siedlung - zwanzig Jahre alter als Miami -, schien nicht nur einen Charakter, sondern viele zu haben, die alle undiszipliniert miteinander konkurrierten.
Das alles kummerte Cobo nicht, als er aus dem Aufzug trat und den Flur im achten Stock entlangging. Er war weder Philosoph noch Einwohner von Coconut Grove, sondern kam jeden Tag aus North Miami zur Arbeit. Bis jetzt schien hier alles in bester Ordnung zu sein, und er begann schon, sich auf die geruhsame Heimfahrt zu freuen.
Als er sich dann der Feuertreppe am Ende des Korridors naherte, fiel ihm auf, da? die Tur von Zimmer 805