Zitrusfruchte essen - keine Orangen, Grapefruits, Zitronen oder Limonen, auch keine Tomaten. Und vor allem keinen Essig! Der ist am schlimmsten.«
»Oder aus unserer Sicht am besten«, stellte Julio Verona richtig.
»Ich werd' daran denken, wenn ich spater Kriminalbeamter bin«, sagte Ceballos. Dann fragte er Waiden: »Geben Sie auch Privatunterricht?«
»Eigentlich nicht.« Sie lachelte wieder. »Aber ich konnte eine Ausnahme machen.«
»Gut. Ich la? von mir horen.« Officer Ceballos ging sichtlich zufrieden hinaus.
»Sogar am Tatort eines Doppelmordes geht das Leben weiter«, lautete Ainslies leicht ironischer Kommentar.
Waiden sah zu den verstummelten Leichen hinuber und verzog das Gesicht. »War's anders, wurde man bald durchdrehen.«
Sie hatte schon mehrere Fingerabdrucke gefunden, aber ob sie dem oder den Tatern, dem ermordeten Ehepaar oder jemandem vom Hotelpersonal zuzuordnen waren, wurde sich erst spater herausstellen. Im Augenblick bestand der nachste Schritt darin, jeden Abdruck mit durchsichtigem Klebeband abzunehmen, das auf eine Karte fur nicht sofort sichtbare Fingerabdrucke geklebt wurde. Mit Datum, Fundort und Unterschrift wurde die Karte zu einem Beweisstuck.
Julio Verona fragte Ainslie: »Haben Sie schon von unserem Experiment im Zoo gehort?«
Ainslie schuttelte den Kopf.
»Wir sind im MetroZoo gewesen und haben mit Erlaubnis des Direktors von Schimpansen und anderen Affen Fingerabdrucke genommen, um sie zu untersuchen.« Er nickte Waiden zu. »Erzahlen Sie ihm den Rest.«
»Sie sind hundertprozentig menschenahnlich gewesen«, sagte sie. »Alle charakteristischen Merkmale - Rillen, Erhebungen, Schlingen, Wirbel, Bogen - haben ubereingestimmt.«
»Darwin hat recht gehabt«, fugte Verona hinzu. »Jeder von uns hat Affen in seinem Stammbaum, was, Malcolm?« Das sagte er absichtlich, weil er von Ainslies Vergangenheit als Priester wu?te.
Obwohl Ainslie nie ein Fundamentalist gewesen war, hatte er fruher die katholischen Zweifel an Darwins Hauptwerk
Er war sich daruber im klaren, da? sie alle - Waiden, Verona, Ceballos, Quinn und sogar er selbst - nur versuchten, sich fur einige Augenblicke von der grausigen Szene abzulenken, die sie vor sich hatten. Au?enstehende hatten ihr Verhalten vielleicht als herzlos empfunden; in Wirklichkeit war es genau das Gegenteil. Die menschliche Psyche - selbst die konditionierte von Polizeibeamten - konnte nicht unbegrenzt solche erschutternden Eindrucke verkraften.
Inzwischen war ein weiterer Mann der Spurensicherung eingetroffen, der Blutproben nahm. Er fullte kleine Glasrohrchen mit Proben aus den Blutlachen, die sich um die Leichen herum angesammelt hatten. Die Proben wurden spater mit dem bei der Autopsie entnommenen Blut der Opfer verglichen werden. Waren die Blutgruppen verschieden, konnte ein Teil des Blutes hier von dem oder den Tatern stammen. Aber das war offenbar wenig wahrscheinlich.
Fur den Fall, da? eines der Opfer den Tater gekratzt hatte, wobei winzige Spuren von Haut, Haaren, Stoff oder anderen Materialien zuruckgeblieben sein konnten, kratzte der Techniker die Fingernagel der Frosts aus. Diese Proben kamen in kleine Behalter, um spater im Labor untersucht zu werden. Danach wurden die Hande der Ermordeten mit schutzenden Plastikbeuteln umhullt, damit vor der Autopsie Fingerabdrucke genommen werden konnten. Bei dieser Gelegenheit wurde der gesamte Korper der Leichen auf fremde Fingerabdrucke untersucht werden.
Auch die Kleidung der Frosts wurde sorgfaltig begutachtet, obwohl sie an Ort und Stelle bleiben wurde, bis die Toten im Leichenschauhaus waren.
Durch die zusatzlichen Leute, die durcheinanderredeten und standig telefonierten, war Zimmer 805 jetzt uberfullt, laut und womoglich noch ubelriechender.
Ainslie sah auf seine Armbanduhr. Es war 9.45 Uhr, und er mu?te plotzlich an Jason denken, der jetzt mit seiner dritten Klasse in der Aula sa? und auf den Beginn eines Vorlesewettbewerbs wartete. Karen wurde wie andere Eltern auch nervos und stolz im Publikum sitzen. Ainslie hatte gehofft, kurz vorbeischauen zu konnen, aber das hatte nicht geklappt. Es klappte selten.
Er konzentrierte sich wieder auf den Tatort, fragte sich, ob dieser Fall wohl rasch zu losen war. Aber im Verlauf der nachsten Stunden stellte sich heraus, worin das gro?te Problem bestand: Obwohl im Hotel standig viele Menschen unterwegs waren, hatte niemand auch nur einen moglichen Verdachtigen gesehen. Irgendwie hatten der oder die Tater es geschafft, Zimmer 805 und vermutlich auch das Hotel unbemerkt zu betreten und auch wieder zu verlassen. Ainslie lie? alle Gaste im siebten, achten und neunten Stock befragen. Niemand hatte etwas gesehen.
In den zwolf Stunden, die Ainslie an diesem ersten Tag am Tatort verbrachte, uberlegte er mit Quinn, was das Tatmotiv gewesen sein konnte. Moglicherweise Raub, weil bei den Ermordeten kein Geld gefunden worden war. Andererseits wurde kein Raubmorder den am Tatort gefundenen Schmuck, der spater auf zwanzigtausend Dollar geschatzt wurde, zuruckgelassen haben.
Und um Bargeld zu rauben, hatte man nicht zwei Menschen ermorden mussen. Auch die Grausamkeit der Tat und das Ratsel der vier toten Katzen blieben vorerst ungeklart. Also gab es weder ein schlussiges Tatmotiv noch eine Taterbeschreibung.
Erste Auskunfte uber Homer und Blanche Frost - telefonisch von der Polizei ihrer Heimatstadt South Bend, Indiana, eingeholt
- beschrieben sie als wohlhabendes, unauffalliges Ehepaar ohne erkennbare Laster, Familienprobleme oder verdachtige Bekanntschaften. Trotzdem wurde Bernie Quinn in den nachsten Tagen nach South Bend fliegen, um dort weitere Erkundigungen einzuziehen.
Verschiedene Tatsachen und Vermutungen ergaben sich, als die Gerichtsmedizinerin Sandra Sanchez, die spater auch die Autopsie vornehmen wurde, die Leichen der Frosts am Tatort untersuchte.
Ihrer Ansicht nach waren die beiden Opfer uberwaltigt, gefesselt, geknebelt und dann so plaziert worden, da? sie einander sehen konnten. »Sie sind bei vollem Bewu?tsein gefoltert worden«, vermutete Sanchez. Sie glaubte, die Mi?handlungen seien »langsam und methodisch« vorgenommen worden.
Am Tatort war keine Waffe gefunden worden, aber diese erste Untersuchung zeigte, da? beide Leichen tiefe Schnittwunden aufwiesen, die im Fleisch und an den Knochen charakteristische Spuren hinterlassen hatten. Und ein grausiges Detail: In Mr. Frosts Augen war eine brennbare Flussigkeit geschuttet und angezundet worden, so da? in seinen rauchgeschwarzten Augenhohlen nur verkohlte Uberreste zuruckgeblieben waren. Unter Mrs. Frosts Knebel war ihre Zungenspitze fast abgebissen
- vermutlich eine Reaktion auf die erlittenen Folterqualen.
Dr. Sanchez, eine Frau Ende Vierzig, war wegen ihrer direkten Art und scharfen Zunge bekannt. Sie bevorzugte konservative dunkelblaue oder braune Kostume und trug ihr graumeliertes Haar zu einem Nackenknoten verschlungen. Wie Bernard Quinn wu?te, interessierte sie sich als Wissenschaftlerin fur Santeria, einen afrokubanischen religiosen Kult, der im Dade County, Florida, schatzungsweise siebzigtausend Anhanger hatte.
Quinn hatte Sandra Sanchez einmal sagen gehort: »Okay, ich behaupte nicht, an die Orishas - die Gotter - der Santeria zu glauben. Aber wenn man ahnlich unwahrscheinliche Geschichten glaubt - den Zug der Kinder Israels durchs Rote Meer, die Unbefleckte Empfangnis, die Speisung der funftausend und Jonas' Errettung aus einem Walfischbauch -, ist die Santeria mindestens ebenso logisch. Und sie bietet beruhigenden Voodoozauber fur sorgenvolle Gemuter.«
Weil Quinn wu?te, da? zu manchen Santeria-Ritualen Tieropfer gehorten, fragte er Sanchez, ob die vier toten Katzen darauf hinwiesen.
»Bestimmt nicht«, erklarte sie ihm. »Ich habe mir diese Katzen angesehen; sie sind mit blo?en Handen umgebracht worden - anscheinend ziemlich brutal. Santeria-Opfertiere werden mit einem Messer getotet, ehrfurchtig behandelt und niemals wie diese Katzen achtlos liegengelassen. Sie werden oft bei einem Festmahl verzehrt, aber Katzen sind niemals darunter.«
Ainslie und Quinn fanden beide, ihre ersten Erkenntnisse seien durchaus nicht ermutigend. »Ein klassisch ratselhafter Fall«, berichtete Ainslie Leo Newbold.