Sie versuchte es ein wenig kraftiger. »Vincente!«

Diesmal bewegte er sich. Er offnete die Augen und sah Jessica an. Sie winkte ihn zu sich.

Vincente stand langsam auf. Es sah aus, als musse er sich erst orientieren, als versuche er, nuchtern zu werden. Schlie?lich stand er und machte einen Schritt auf sie zu, drehte sich dann aber schnell um und griff nach seiner Waffe. Er hielt sie so, da? er, falls notig, sofort schie?en konnte.

Jessica mu?te sich nun schleunigst eine Ausrede einfallen lassen, und sie beschlo?, Vincente mit Gesten zu bitten, sie zu Nicky zu lassen. Er wurde die Bitte naturlich ablehnen, doch das war im Augenblick gleichgultig.

Sie hatte keine Ahnung, was Harry vorhatte. Wahrend sie innerlich vor Angst und Nervositat bebte, wu?te sie nur, da? der Augenblick gekommen war, vom dem sie getraumt und gleichzeitig befurchtet hatte, er wurde nie eintreten.

Partridge kauerte vor dem Fenster und hielt seine Browning mit dem aufgeschraubten Schalldampfer fest in der Hand. Bis jetzt war alles gelaufen wie geplant, doch er wu?te, da? der schwierigste und wichtigste Teil der Aktion noch vor ihm lag.

Die nachsten Sekunden boten ihm nur wenige Handlungsmoglichkeiten, und er wu?te, da? er sich blitzschnell entscheiden mu?te. Wie es im Augenblick aussah, konnte er die Wache wahrscheinlich mit der Waffe in Schach halten und sie dann entweder fesseln und knebeln oder sie als Geisel mitnehmen. Er zog die erste Moglichkeit vor. Es gab naturlich noch einen dritten Weg - er konnte die Wache toten, doch das wollte er vermeiden.

Eins arbeitete zu seinen Gunsten: Jessica war erfinderisch und sehr reaktionsschnell - so, wie er sie kannte.

Er horte sie zweimal rufen, dann leise Gerausche aus einer Ecke, die er nicht einsehen konnte, und schlie?lich Schritte, als die Wache auf Jessica zuging. Partridge hielt den Atem an, bereit, sich sofort zu ducken, falls der Mann in seine Richtung sah.

Aber er tat es nicht. Er drehte Partridge den Rucken zu und sah Jessica an, was Partridge die Moglichkeit zu einer praziseren Einschatzung der Lage gab.

Das erste, was er sah, war die Waffe, die der Mann trug. Es war eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole, die Partridge nur zu gut kannte, und an der Art, wie der Mann sie hielt, wurde deutlich, da? er auch damit umgehen konnte. Im Vergleich zu der Kalaschnikow war Partridges Browning nur ein Spielzeug.

Partridge blieb also nur eine Moglichkeit: Er mu?te den Mann toten. Und das hie?, er mu?te ihn uberraschen, um als erster zum Schu? zu kommen.

Doch es gab ein Hindernis: Jessica. Sie stand jetzt genau in einer Linie mit Partridge und der Wache. Ein Schu? auf den Mann konnte ebensogut Jessica treffen.

Partridge mu?te es versuchen. Es gab keine andere Moglichkeit. Er mu?te alles riskieren und auf Jessicas blitzschnelle Reaktion vertrauen.

Er holte tief Atem und rief dann laut und deutlich: »Jessica, la? dich fallen!«

Mit gehobener, entsicherter Waffe wirbelte der Mann herum.

Doch Partridge hatte ihn bereits im Visier. Sekunden zuvor war ihm wieder eingefallen, was sein Schie?lehrer ihm gesagt hatte: »Wenn du einen Menschen toten willst, ziel nie auf den Kopf. Egal, wie vorsichtig du den Abzug druckst, es besteht immer die Gefahr, da? die Waffe hochzieht und die Kugel uber den Kopf hinweggeht. Also ziel immer auf das Herz oder etwas tiefer. Auch wenn die Kugel uber dem Herz eintritt, hat sie meistens noch todliche Wirkung, und wenn nicht, hast du Zeit fur einen zweiten Schu?.«

Partridge druckte ab, die Browning gab nur ein kaum horbares »Pfft!« von sich. Obwohl er Erfahrung mit Schalldampfern hatte, war er immer wieder uberrascht, wie leise sie waren. Er zielte erneut, aber ein zweiter Schu? war nicht notwendig. Der erste hatte Vincente etwa auf Hohe des Herzens in die Brust getroffen. An der Einschu?stelle sickerte Blut durch das Hemd. Einen Augenblick lang blieb der Mann uberrascht stehen, dann sturzte er zu Boden und lie? die Waffe fallen. Das Klappern der Kalaschnikow beim Aufschlagen war das einzige Gerausch.

Sekundenbruchteile vor seinem Schu? hatte Partridge gesehen, da? Jessica, blitzschnell auf seinen Befehl reagierend, sich flach auf den Boden warf. Tief im Innersten war er erleichtert und dankbar. Jetzt richtete Jessica sich wieder auf.

Partridge ging zur Huttentur, doch plotzlich tauchte ein Schatten vor ihm auf. Es war Minh Van Canh, der, wie befohlen, Partridge den Rucken gedeckt hatte, doch nun nach vorne wechselte und vor ihm die Hutte betrat. Mit seiner UZI im Anschlag ging er zu dem Wachposten und gab dann Partridge mit einem Nicken zu verstehen, da? der Mann wirklich tot war. Dann lief er zu Jessicas Zelle, sah das Vorhangeschlo? und fragte: »Wo ist der Schlussel?«

»Irgendwo da druben bei dem Stuhl«, antwortete Jessica. »Und der fur Nickys Zelle auch.«

In der Nachbarzelle wurde Nicky langsam wach. Dann richtete er sich plotzlich auf. »Mom, was ist denn los?«

»Es ist gut Nicky«, beruhigte sie in. »Alles in Ordnung.«

Nicky musterte die Neuankommlinge - Partridge, der mit Vincentes Kalaschnikow in der Hand auf ihn zukam, und Minh, der die Schlussel von einem Nagel an der Wand nahm. »Wer sind die Leute, Mom?«

»Freunde, mein Liebling. Sehr gute Freunde.«

Nickys schlaftrunkenes Gesicht hellte sich auf. Doch dann fiel sein Blick auf die leblos in einer dunklen Pfutze liegende Gestalt am Boden. »Aber das ist ja Vincente! Sie haben Vincente erschossen! Warum?«

»Pscht, Nicky«, flusterte Jessica.

Mit leiser Stimme antwortete Partridge: »Ich habe es nicht gern getan, Nicholas. Aber er wollte mich erschie?en. Und wenn er es getan hatte, konnte ich dich und deine Mutter jetzt nicht von hier wegbringen. Deswegen sind wir namlich hier.«

Plotzlich leuchteten Nickys Augen auf, er fragte: »Sie sind Mr. Partridge, nicht?«

»Ja, der bin ich.« »Mein Gott, Harry!« sagte Jessica geruhrt, »lieber Harry!«

Doch Partridge warnte sie leise: »Noch sind wir nicht in Sicherheit. Wir haben einen langen Weg vor uns und mussen uns beeilen.«

Minh war mit den Schlusseln zuruckgekehrt und probierte einen nach dem anderen am Schlo? von Jessicas Zelle aus. Plotzlich schnappte das Schlo? auf. Augenblicke spater war die Tur offen. Minh ging zu Nickys Zelle und probierte dort ebenfalls die Schlussel aus. Dann war auch Nicky frei und fiel Jessica in die Arme.

»Hilf mir!« sagte Partridge zu Minh. Er hatte Vincentes Leiche in Nickys Zelle gezerrt, und gemeinsam hoben sie ihn nun auf die niedere Holzpritsche. Es wurde zwar eine Entdeckung der Flucht nicht verhindern, dachte Partridge, aber vielleicht verzogern. Aus dem gleichen Grund drehte er die Flamme der Kerosinlampe kleiner, bis das Innere der Hutte fast dunkel war.

Nicky loste sich von Jessica und ging zu Partridge. Mit gepre?ter, monotoner Stimme sagte er: »Es ist schon in Ordnung, da? Sie Vincente erschossen haben, Mr. Partridge. Er hat uns zwar manchmal geholfen, er war trotzdem einer von denen. Sie haben meinen Opa getotet und mir zwei Finger abgeschnitten, und jetzt kann ich nie mehr Klavier spielen.« Er hielt seine bandagierte Hand in die Hohe.

»Sag einfach Harry zu mir«, erwiderte Partridge. »Ja, ich wei?, was mit deinem Gro?vater und deinen Fingern passiert ist. Es tut mir furchtbar leid.«

Wieder diese holzerne, leiernde Stimme. »Wei?t du, was das Stockholm-Syndrom ist? Meine Mom wei? es. Wenn du willst, erzahlt sie es dir.«

Partridge musterte Nicky schweigend. Er hatte schon fruher Menschen gesehen, die mehr erlitten hatten, als ihr Verstand ertragen konnte, und kannte so die Symptome eines Schocks.

Die Art, wie der Junge sprach, zeigte ebendiese Symptome. Er brauchte so schnell wie moglich arztliche Betreuung. Doch im Augenblick konnte Partridge nichts anderes tun, als den Jungen an sich zu ziehen. Er spurte, wie er reagierte und sich an ihn druckte.

Partridge sah, da? Jessica den Jungen ebenso besorgt musterte wie er selbst. Auch ihr ware es lieber gewesen, wenn nicht gerade Vincente in dieser Nacht Dienst gehabt hatte. Wenn es Ramon gewesen ware, hatte es ihr nichts ausgemacht. Aber trotzdem war sie besturzt uber Nickys Worte und sein Verhalten.

Mit einer beruhigenden Geste versuchte Partridge, Jessica aufzumuntern. »Gehen wir«, befahl er dann.

In seiner freien Hand hielt er die Kalaschnikow; es war eine gute Angriffswaffe, die er vielleicht noch brauchen konnte. In seiner Tasche steckten zwei Reservemagazine, die Vincente am Korper getragen hatte.

An der Tur tauchte Minh auf. Er hatte seine Kamera von drau?en geholt und filmte den Aufbruch mit den

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