Zellen als Hintergrund. Er benutzte einen speziellen Restlichtverstarker -Infrarotvorsatze waren fur Videobander untauglich -, der auch bei Dunkelheit passable Bilder lieferte.
Seit gestern hatte Minh immer wieder Aufnahmen gemacht, allerdings nur sehr sparsam, da er nur wenige Cassetten hatte mitnehmen konnen.
In diesem Augenblick sturzte Fernandez, der die anderen Gebaude beobachtet hatte, in die Hutte. »Da kommt jemand«, warnte er Partridge atemlos, »eine Frau. Alleine. Ich glaube, sie ist bewaffnet.« Und schon waren Schritte zu horen, die rasch naher kamen.
Fur Befehle oder irgendwelche Vorkehrungen war keine Zeit, Jeder blieb stehen, wo er war. Jessica stand seitlich neben der Tur. Minh stand der Offnung direkt gegenuber, die anderen waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Partridge hielt die Kalaschnikow im Anschlag. Er wu?te zwar, da? ein Feuersto? das ganze Dorf aufwecken wurde, um aber seine Browning mit Schalldampfer benutzen zu konnen, hatte er die MP ablegen und die Pistole in die andere Hand nehmen mussen. Und dazu war keine Zeit mehr.
Mit schnellen Schritten betrat Socorro die Hutte. Sie trug einen Morgenrock und hielt einen entsicherten Revolver vom Typ Smith & Wesson in der Hand. Jessica hatte Socorro schon ofters mit einer Waffe gesehen, allerdings immer nur im Halfter, nie in der Hand.
Trotz der schu?bereiten Pistole schien Socorro nichts Au?ergewohnliches zu erwarten, und in dem truben Licht hielt sie Minh einen Augenblick lang fur die Wache.
Was nun folgte, passierte so schnell, da? sich spater keiner der Beteiligten an den genauen Ablauf erinnern konnte.
Socorro hob den Revolver und machte, mit dem Finger am Abzug, einen schnellen Satz auf Jessica zu. Vermutlich wollte sie Jessica als Geisel nehmen.
Jessica sah sie kommen und reagierte ahnlich schnell. Sie erinnerte sich an CQB, die Nahkampftechnik, die sie gelernt hatte, und vor allem an eine Grundregel, die Brigadier Wade ihr eingescharft hatte:
Blitzschnell sprang Jessica auf Socorro zu und schlug ihr mit der geballten linken Faust gegen die Innenseite des rechten Arms. Der Arm flog hoch, die Finger offneten sich, und die Pistole fiel zu Boden. Sie stie? ihr zwei Finger gegen die Kehle und zog ihr mit dem Fu? die Beine weg. Bevor Socorro fallen konnte, hatte Jessica sie im Wurgegriff und druckte zu. Im Krieg - und fur den war CQB ja gedacht - wurde sie dem Gegner nun mit einem Ruck das Genick brechen.
Doch Jessica, die noch nie jemand getotet oder auch nur mit dem Gedanken gespielt hatte, zogerte. Sie spurte, da? Socorro etwas sagen wollte, und lockerte leicht ihren Griff.
Keuchend und stammelnd flehte Socorro: »La? mich gehen... Ich werde euch helfen... mit euch fliehen... kenne den Weg.«
Partridge war naher gekommen und hatte alles verstanden. »Kannst du ihr trauen?« fragte er Jessica.
Wieder zogerte Jessica. Sie hatte plotzlich Mitleid mit Socorro, die ja nicht durch und durch bose gewesen war. Wahrend der ganzen Zeit hatte Jessica das Gefuhl gehabt, da? Socorros Arbeit als Krankenschwester in Amerika eine Spur des Guten in ihr zuruckgelassen hatte. Sie hatte sich um Nickys Verbrennungen gekummert und seine Fingerstumpfe versorgt. Dann war da diese Tafel Schokolade gewesen, die sie ihnen ins Boot warf, als sie Hunger hatten. Socorro hatte ihre Lebensbedingungen verbessert, indem sie Fensterlocher in die Wande schneiden lie?... hatte Miguels Befehl mi?achtet und Jessica zu Nicky gelassen...
Aber dieselbe Socorro war auch von Anfang an Teil dieser Entfuhrung gewesen und hatte Jessica, als Nicky die Finger abgeschnitten wurden, mit barschen Worten zum Schweigen gebracht.
Plotzlich schossen Jessica Nickys Worte durch den Kopf:
Hute dich vor dem Stockholm-Syndrom!
Jessica kannte die Antwort auf Partridges Frage. Sie schuttelte den Kopf und sagte: »Nein!«
Ihre Blicke trafen sich. Harry war erstaunt uber Jessicas Fahigkeiten im Nahkampf. Er fragte sich, wo sie es gelernt hatte und warum. Doch im Augenblick war das gleichgultig. Wichtig war nur, da? sie eine Entscheidung getroffen hatte und ihn jetzt mit den Augen um Zustimmung bat. Er nickte knapp. Dann wandte er sich ab, weil er nicht sehen wollte, was nun kam.
Jessica mu?te ihren ganzen Mut zusammennehmen. Sie druckte fest zu und ri? dann Socorros Kopf scharf nach links. Es gab ein leises, knackendes Gerausch, der Korper in ihrem Arm wurde schlaff. Sie lie? ihn zu Boden sinken.
Unter Partridges Fuhrung schlichen sich Jessica, Nicky, Minh und Fernandez leise durch das Dorf. Kein Mensch war zu sehen.
Am Landungssteg sagte Ken O'Hara: »Ich hab' schon geglaubt, ihr wurdet gar nicht mehr kommen.«
»Wir hatten Probleme«, erwiderte Partridge. »Jetzt aber schnell. Welches Boot?«
»Das da.« Es war ein offener, holzerner Kahn, etwa zehn Meter lang, mit zwei Au?enbordmotoren. Zwei Leinen hielten ihn am Steg. »Ich hab' mir aus den anderen Booten zusatzlichen Treibstoff besorgt.« O'Hara wies auf einige Plastikkanister im Heck.
»Alles an Bord!« befahl Partridge.
Bis vor kurzem noch hatten Wolken den Dreiviertelmond verhullt, doch jetzt rissen sie auf, und alles wurde heller, vor allem uber dem Wasser.
Fernandez half Jessica und Nicky in das Boot. Jessica zitterte am ganzen Korper, so elend war ihr; die Exekution Socorros zeigte Wirkung. Minh filmte die Szene vom Steg aus und sprang als letzter ins Boot, wahrend O'Hara die Leinen loste und es mit einem Riemen abstie?. Fernandez packte den zweiten Riemen, und zusammen ruderten sie das Boot in die Flu?mitte.
Partridge sah sich um und bemerkte, da? O'Hara die Wartezeit genutzt hatte. Einige der anderen Boote lagen am Ufer auf Grund, andere trieben auf dem Flu? davon.
»Ich hab' ein paar Stopsel gezogen.« O'Hara deutete auf die Boote am Ufer. »Man kann sie zwar wieder aufblasen, aber das wird eine Weile dauern. Von den guten Motoren hab' ich ein paar ins Wasser geworfen.«
»Gute Arbeit, Ken!« sagte Partridge. Seine Entscheidung, O'Hara mitzunehmen, hatte er noch kein einziges Mal bereut.
Es gab keine Sitzgelegenheiten in dem Boot. Wie in dem, das Jessica, Nicky und Angus hierhergebracht hatte, sa?en die Passagiere auf Planken, die langs uber den Kiel verliefen. Die beiden Ruderer standen an den Flanken und hatten einiges zu tun, um den Kahn in die Flu?mitte zu bringen. Doch allmahlich entschwand Nueva Esperanza ihren Blicken, und die starke Stromung trieb sie voran.
Partridge hatte auf die Uhr gesehen, als sie vom Landungssteg ablegten: 2 Uhr 35. Da sie mit der Stromung schnell vorankamen, sagte er um 2 Uhr 50 zu O'Hara, er solle die Motoren anlassen.
O'Hara offnete die Luftzufuhr am Treibstofftank des Backbordmotors, zog den Choke, druckte ein paar Mal auf den Gummiball fur die Benzinzufuhr und ri? dann kraftig am Starterseil. Die Maschine sprang sofort an und summte im Leerlauf. Der zweite Motor folgte. Dann legte O'Hara bei beiden den Gang ein, und Augenblicke spater scho? das Boot vorwarts.
Der Himmel war noch immer klar. Das helle Mondlicht, das sich auf der Wasseroberflache spiegelte, erleichterte die Navigation auf dem gewundenen Flu?lauf.
»Zu welcher Landepiste fahren wir jetzt?« fragte Fernandez.
Partridge stellte sich die Landkarte vor, die er inzwischen beinahe auswendig kannte, und uberlegte.
Da sie uber den Flu? flohen, schied die Durchgangsstra?e, auf der sie gelandet waren, auf jeden Fall aus. So blieb noch die kleine Piste der Drogenhandler, die sie in etwa eineinhalb Stunden erreichen wurden, und die Piste bei Sion, die noch eine dreistundige Bootsfahrt und einen anstrengenden Dreimeilenmarsch durch den Dschungel entfernt lag.
Wenn sie versuchten, Sion bis zum vereinbarten Zeitpunkt um 8 Uhr zu erreichen, wurde die Zeit moglicherweise knapp. Andererseits wurden sie bei der ersten Piste um einige Stunden zu fruh eintreffen; und falls ihre Verfolger sie einholten, wurde es zu einem Feuergefecht kommen, das sie nur verlieren konnten, da sie zahlenma?ig wie in der Bewaffnung unterlegen waren.
