»Es war ein anderer Krieg«, erwiderte Crawford, »und eine andere Zeit. So wie es neue Arten des Nachrichtensammelns gibt, so verandern sich auch die Vorstellungen uber das Wesen der Nachrichten. Viele von uns glauben nicht mehr an >Mein Land im Guten wie im Schlechtem.«
»Ich hatte nie geglaubt, je mit anhoren zu mussen, da? mein Sohn so etwas sagt«, jammerte Angus.
Sloane zuckte mit den Achseln. »Tut mir leid, aber jetzt horst du es. Nachrichtenleute, denen an der Wahrheit gelegen ist, wollen wirklich sicher sein, da? in unserem Land alles in Ordnung ist, und sich von denen, die gerade an der Macht sind, keine Marchen erzahlen lassen. Aber das findet man nur heraus, wenn man unbequeme, bohrende Fragen stellt.«
»Glaubst du nicht, da? in meinem Krieg auch bohrende Fragen gestellt wurden?«
»Aber eben nicht bohrend genug.« Er hielt inne und uberlegte sich, ob er fortfahren sollte. Er entschlo? sich dafur. »Du warst doch bei diesem ersten Bombenangriff mit den B-17 auf Schweinfurt dabei, oder?«
»Ja.« Dann zu Nicholas: »Das ist mitten in Deutschland, Nicky. Damals nicht eben ein angenehmer Ort.«
Mit einer gewissen Rucksichtslosigkeit fuhr Crawford fort: »Du hast mir einmal erzahlt, Ziel des Angriffs auf Schweinfurt sei es gewesen, alle Kugellagerfabriken zu zerstoren, weil diejenigen, die fur das Bombardement verantwortlich waren, glaubten, ein Mangel an Kugellagern wurde die deutsche Kriegsmaschinerie aufhalten konnen.«
Angus nickte bedachtig, er wu?te, was nun kam. »Das hat man uns gesagt.«
»Dann wei?t du auch, da? man nach dem Krieg herausfand, da? es nicht funktionierte. Trotz dieses Angriffs und anderer, die so viele Amerikaner das Leben kosteten, herrschte in Deutschland nie ein Mangel an Kugellagern. Die Politik, die Plane waren einfach falsch. Ich will damit nicht sagen, da? die Presse damals diese entsetzliche Vergeudung von Menschenleben hatte aufhalten konnen. Aber heute wurde man Fragen stellen - nicht erst nach, sondern schon wahrend der Aktion, und diese Fragen und das offentliche Bewu?tsein wurden wie ein Hemmschuh wirken und moglicherweise den Verlust von Menschenleben in Grenzen halten.«
Wahrend Crawford sprach, sah man, wie sich Erinnerung und Schmerz im Gesicht seines Vaters arbeiteten. Er schien unter den Augen der anderen zu schrumpfen, in sich selbst zusammenzusinken, er schien plotzlich wirklich alt zu werden. Dann sagte er mit zitternder Stimme: »Uber Schweinfurt haben wir funfzig B-17 verloren. In jedem Bomber waren zehn Manner. Das waren funfhundert Tote an einem einzigen Tag. Und in derselben Woche, in diesem Oktober '43, verloren wir noch einmal achtundachtzig Bomber - das sind fast neunhundert Manner.« Seine Stimme war nur noch ein Flustern. »Ich war bei diesen Angriffen mit dabei. Das Schlimmste waren die vielen leeren Betten am Abend danach, die Betten der Manner, die nicht zuruckgekommen waren. Ich bin in der Nacht oft aufgewacht, habe mich umgesehen und mich gefragt: Warum ich? Warum bin ich zuruckgekommen - in dieser Woche und in denen danach - und so viele andere nicht?«
Einen Augenblick lang herrschte betroffenes Schweigen, und Sloane wunschte sich, er hatte nichts gesagt, hatte nicht versucht, in der Diskussion mit seinem Vater einen Punkt zu machen. »Tut mir leid, Dad«, sagte er dann. »Ich wollte keine alten Wunden aufrei?en.«
Als hatte er das gar nicht gehort, fuhr sein Vater fort: »Es waren gute Manner. So viele gute Manner. So viele von meinen Freunden.«
Sloane schuttelte den Kopf. »Horen wir auf damit. Wie gesagt, es tut mir leid.«
»Opa?« fragte nun Nicky, der sehr aufmerksam zugehort hatte. »Als du im Krieg all diese Sachen gemacht hast, hast du da gro?e Angst gehabt?«
»O Gott, Nicky! Angst? Das blanke Entsetzen konnte man es wohl eher nennen. Wenn uberall die Flak- Granaten explodierten, die einen in winzige Stucke zerrei?en konnten... wenn die deutschen Kampfflieger auf uns zurasten und uns mit Maschinengewehren und Kanonen beschossen, da? man meinte, sie hatten nur dich im Visier... wenn andere B-17 absturzten, manchmal brennend oder in so engen Spiralen, da? man wu?te, die Manner wurden nicht mehr rechtzeitig genug herauskommen, um noch mit den Fallschirmen abspringen zu konnen... und das alles in fast neuntausend Metern Hohe, in einer Luft, die so dunn und so kalt war, da? einem der Angstschwei? auf der Haut gefror... Wei?t du, da ist mir wirklich manchmal das Herz in die Hose gerutscht.«
Angus hielt inne. Keiner sagte in diesem Augenblick ein Wort, irgendwie war dies anders als seine ublichen Erinnerungen. Dann fuhr er fort, und er sprach nur zu Nicky, der jedes Wort seines Gro?vaters verschlang. Es schien fast, als wurde eine geheime Verbindung zwischen den beiden, dem alten Mann und dem kleinen Jungen, bestehen.
»Ich will dir etwas erzahlen, Nicky, etwas, das ich bis jetzt noch keinem einzigen Menschen erzahlt habe. Einmal hatte ich solche Angst, da? ich...« Er sah sich um, als wurde er um Verstandnis bitten. »... Ich hatte solche Angst, da? ich mir in die Hose gemacht habe.«
»Was hast du dann getan?« fragte Nicky.
Jessica wollte aus Sorge um Angus schon das Gesprach unterbrechen, aber Crawford winkte ab.
Die Stimme des alten Mannes wurde langsam wieder kraftiger. Man sah, wie wieder ein wenig von seinem Stolz zuruckkehrte. »Was konnte ich denn schon tun? Mir gefiel's zwar nicht, aber ich war nun mal da oben, und deshalb tat ich genau das, weswegen man mich hinaufgeschickt hatte. Ich war der Erste Bombenschutze des Geschwaders. Sobald nun der Geschwaderkommandant das Einsatzgebiet erreicht und uns auf Zielkurs gebracht hatte, sagte er zu mir uber Bordfunk: >Jetzt bist du dran, Angus. Also los.< Na, und ich lag da uber dem Bombenzielgerat und nahm in aller Ruhe Ma?. Wei?t du, Nicky, in diesen paar Minuten flog der Bombenschutze die Maschine. Als ich dann das Ziel genau im Fadenkreuz hatte, warf ich meine Bomben ab. Es war das Signal fur die anderen Schutzen des Geschwaders, ihre Schachte ebenfalls zu offnen.«
»Ich will dir nur das eine sagen, Nicky«, fuhr Angus fort. »Es ist nicht schlimm, Todesangst zu haben. Das kann den Besten passieren. Wichtig ist nur, da? man dran bleibt, nicht den Kopf verliert und das tut, was man tun mu?.«
»Ich wei?, was du meinst, Opa«, erwiderte Nicky im Brustton der Uberzeugung, und Crawford fragte sich, wieviel der Junge wirklich verstanden hatte. Vermutlich sehr viel. Nicky war intelligent und sensibel. Und Crawford fragte sich auch, ob er selbst in der Vergangenheit sich die Muhe gemacht hatte, seinem Vater das notige Verstandnis entgegenzubringen.
Er sah auf die Uhr. Zeit zum Aufbruch. Fur gewohnlich traf er um 10 Uhr 30 bei CBA News ein, aber an diesem Morgen mu?te er fruher dort sein, weil er mit dem Prasidenten uber die Chuck Insens Entlassung reden wollte. Die Erinnerung an den Zusammensto? vom Vorabend nagte noch an ihm, und er war entschlossen wie eh und je, bei der Auswahl der Nachrichten fur Veranderung zu sorgen.
Er stand auf, entschuldigte sich bei den anderen und ging nach oben, um sich fertig anzuziehen.
Wahrend er sich eine Krawatte aussuchte - dieselbe, die er auch an diesem Abend vor der Kamera tragen wurde - und sorgfaltig einen Windsorknoten band, dachte er uber seinen Vater nach. Er stellte sich die Szenen vor, die sein Vater beschrieben hatte, in der Luft uber Schweinfurt und an anderen Orten. Angus mu?te damals Anfang Zwanzig gewesen sein, also halb so alt wie Crawford jetzt war, ein halbes Kind, das noch kaum gelebt und doch schon furchtbare, entsetzliche Angst vor dem Sterben hatte. Crawford hatte etwas Vergleichbares noch nie erlebt, vor allem nicht wahrend seiner Zeit als Journalist in Vietnam.
Er hatte plotzlich ein schlechtes Gewissen, weil er nicht schon fruher versucht hatte, wirklich zu verstehen, was seinen Vater tief im Innersten beruhrte.
Doch er wurde in seinem Berufsalltag standig von einer solchen Menge neuer Nachrichten uberflutet, da? er dazu neigte, die Nachrichten fruherer Zeiten als Geschichte und deshalb als unwichtig fur die hektische Gegenwart zu betrachten. Diese Geisteshaltung war offensichtlich ein Berufsrisiko; er hatte sie auch schon bei anderen beobachtet. Denn die Nachrichten fruherer Zeiten waren ganz und gar nicht unwichtig, und fur seinen Vater wurden sie es auch nie werden.
Crawford war gut informiert. Er hatte ein Buch uber den Angriff auf Schweinfurt gelesen,
Mein Vater, dachte Crawford nun, ist ein Teil dieser langen Geschichte. Unter diesem Blickwinkel betrachtete er das Ganze heute zum ersten Mal.
Er zog das Anzugjackett an, betrachtete sich im Spiegel und ging dann zufrieden wieder nach unten.
Er verabschiedete sich von Jessica und Nicky, ging dann auf seinen Vater zu und sagte zu dem alten Mann: »Steh auf.«
Angus schien verwirrt. Crawford wiederholte die Aufforderung: »Steh auf.«