Angus schob den Stuhl zuruck und erhob sich langsam. Dabei nahm er instinktiv, wie er es so oft tat, eine beinahe militarisch stramme Haltung ein.
Crawford ging zu seinem Vater, nahm ihn in den Arm, druckte ihn an sich und ku?te ihn auf beide Wangen.
Der alte Mann schien uberrascht und verwirrt. »He! Was ist denn jetzt los?«
Crawford sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Ich liebe dich, du alter Trottel.«
An der Tur drehte er sich noch einmal um. Auf Angus' Gesicht leuchtete ein feines, gluckliches Lacheln. Jessicas Augen waren feucht. Nicky strahlte.
Carlos und Julio waren uberrascht, als Crawford Sloane sein Haus fruher als gewohnlich verlie?, und meldeten es deshalb sofort Miguel, ihrem Anfuhrer.
Miguel hatte inzwischen ihre Kommandozentrale in Hackensack verlassen und fuhr, zusammen mit einigen anderen, in einem Nissan Kleinbus mit Funktelefon uber die George Washington Bridge von New Jersey nach New York hinein.
Miguel blieb gelassen. Er gab, naturlich ebenfalls codiert, den Befehl aus, da? die vorher abgesprochenen Plane nun in die Tat umzusetzen und der Beginn der Aktion, wenn notig, zeitlich vorzuverlegen sei. Seine Zuversicht war nicht ohne Berechtigung. Denn was sie vorhatten, war das vollkommen Unerwartete, es stellte jede Logik auf den Kopf. Und es wurde die verzweifelte Frage aufwerfen:
10
Etwa zur gleichen Zeit, als Crawford Sloane in Larchmont sein Haus verlie?, wachte Harry Partridge in Kanada auf - in Port Credit in der Nahe von Toronto. Er hatte tief geschlafen und mu?te sich in den ersten wachen Augenblicken des neuen Tages uberlegen, wo er uberhaupt war. Das passierte ihm haufig, denn er war daran gewohnt, an standig wechselnden Orten aufzuwachen.
Wahrend langsam Ordnung in seine Gedanken kam, lie? er den Blick uber die vertrauten Einzelheiten seines Schlafzimmers wandern. Er wu?te, wenn er sich jetzt aufsetzte - wozu er aber noch keine Lust hatte -, konnte er durch das Fenster auf die weite Flache des Lake Ontario hinaussehen.
Die Wohnung, zu der dieses Schlafzimmer gehorte, war Partridges Basis, sein Zufluchtsort, doch der nomadische Charakter seines Berufs brachte es mit sich, da? er sich immer nur sehr kurze Zeit dort aufhielt. Und obwohl er seine wenigen Habseligkeiten dort aufbewahrte - Kleidung, Bucher, einige gerahmte Fotos und eine Handvoll Erinnerungsstucke an andere Zeiten und andere Orte -, war die Wohnung nicht unter seinem Namen eingetragen. Wie auf dem Schild neben der Klingel sechs Stockwerke tiefer zu lesen war, hie? die offizielle Mieterin V. Williams (V wie Vivien), die auch standig hier wohnte.
Jeden Monat schickte Partridge Vivien einen Scheck fur die Miete. Als Gegenleistung lebte sie in der Wohnung und hielt sie fur ihn in Ordnung. Dieses Arrangement hatte auch noch andere Vorteile, die ihnen beiden zugute kamen, nicht zuletzt ihre unkomplizierte Bettbeziehung.
Vivien arbeitete als Krankenschwester im nahegelegenen Queensway Hospital, doch im Augenblick konnte er sie in der Kuche horen. Wahrscheinlich kochte sie Tee, weil sie wu?te, da? er ihn morgens gern trank, und bald wurde sie ihn hereinbringen.
In der Zwischenzeit kehrte er in Gedanken noch einmal zuruck zu den Ereignissen des vergangenen Tages und zu dem verspateten Flug von Dallas nach Toronto...
Bei den Ereignissen auf dem Flughafen von Dallas-Fort Worth hatte er distanziert und rein professionell reagiert und das getan, wofur ihm CBA News ein hohes Gehalt zahlte. Doch als er dann in der Nacht und auch nun am Morgen wieder daruber nachdachte, wurde er sich erst der Tragodie hinter dieser Sensationsmeldung bewu?t. Nach letzten Informationen hatten mehr als siebzig Menschen an Bord des Airbus ihr Leben verloren, andere waren schwer verletzt; keine Uberlebenden gab es unter den sechs Insassen der Privatmaschine, die mit dem Airbus zusammengesto?en war. An diesem Morgen, das wu?te er, gab es viele verzweifelte Familienangehorige und Freunde, die unter Tranen versuchten, mit ihrem plotzlichen Verlust fertigzuwerden.
Der Gedanke erinnerte ihn daran, da? auch er sich manchmal wunschte, er konne weinen, konne Tranen vergie?en wie andere auch uber all das, was er in seinem Beruf schon erlebt hatte, und eben auch uber die Tragodie vom Tag zuvor. Aber es war noch nie geschehen, oder doch nur bei einer einzigen Gelegenheit, die er aber verdrangte, sobald sie ihm in den Sinn kam. Woran er jetzt dachte, war jenes erste Mal, als er uber sich selbst und seine scheinbare Unfahigkeit zu weinen nachgrubelte.
Nun, seine kluge Bettgenossin hatte recht gehabt, der Tag war wirklich gekommen... Aber er wollte einfach nicht daran denken. In diesem Augenblick brachte Vivien das Tablett mit dem Tee herein.
Vivien war Mitte Vierzig, mit kantigen, kraftigen Gesichtszugen und glatten, schwarzen Haaren, in denen sich inzwischen einige graue Strahnen zeigten. Obwohl weder aufregend noch im konventionellen Sinne schon, besa? sie doch ein herzliches, unbeschwertes und gro?zugiges Wesen. Sie war verwitwet, als Partridge sie kennenlernte, und er nahm an, da? es keine gluckliche Ehe gewesen war, doch sie sprach kaum daruber. Ihr einziges Kind, eine Tochter, lebte in Vancouver. Sie kam manchmal zu Besuch, doch nie, wenn Vivien Partridge erwartete.
Partridge mochte Vivien, doch er liebte sie nicht, und er kannte sie lange genug um zu wissen, da? er sie nie lieben wurde. Er hatte den Verdacht, da? Vivien in ihn verliebt war und ihn noch mehr lieben wurde, wenn er sie dazu ermutigte. Aber so akzeptierte sie die Beziehung, wie sie war.
Wahrend er seinen Tee trank, musterte Vivien ihn kritisch. Sie bemerkte, da? seine immer schon schlanke Gestalt noch dunner geworden war und sein Gesicht, trotz einer gewissen Jungenhaftigkeit, die er sich bewahrt hatte, Falten der Uberlastung und Erschopfung zeigte. Seine widerspenstigen blonden Haare, die inzwischen deutlich grauer geworden waren, mu?ten dringend geschnitten werden.
Partridge spurte ihren prufenden Blick und sagte: »Also, leg schon los.«
Vivien schuttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Sieh dich nur an! Du warst gesund und kraftig, als ich dich losgeschickt habe. Und zweieinhalb Monate spater kommst du mude, bla? und unterernahrt zuruck.«
»Ich wei?.« Er schnitt eine Grimasse. »Es ist das Leben, das ich fuhre. Zuviel Stre?, zuwenig Schlaf, schlechtes Essen und zuviel Alkohol.« Dann fugte er mit einem Lacheln hinzu: »Da bin ich also, total am Boden wie immer. Was kannst du fur mich tun?«
Mit einer Mischung aus Zuneigung und Bestimmtheit antwortete sie: »Zuerst bekommst du ein gutes, gesundes Fruhstuck. Du kannst im Bett bleiben, ich werd's dir bringen. Zu den anderen Mahlzeiten gibt's nahrhafte Sachen wie Fisch und Geflugel, frisches Gemuse und Obst. Gleich nach dem Fruhstuck werde ich dir die Haare schneiden. Danach Sauna und Massage, ein Termin ist schon reserviert.«
Partridge legte sich zuruck und streckte die Hande in die Luft. »Na wunderbar.«
Vivien fuhr fort: »Ich dachte mir, da? du morgen deine alten Freunde bei CBC besuchen willst, das machst du ja immer. Fur den Abend habe ich dann Karten fur ein Mozart-Konzert in der Roy Thomson Hall in Toronto. Da kannst du dich ganz der Musik hingeben. Ich wei?, da? du das magst. Ansonsten wirst du dich ausruhen und tun und lassen, was du willst.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht hast du zwischendurch mal Lust auf ein bi?chen