Partridge zog einen zusammengefalteten, abgenutzten Zeitungsausschnitt aus seiner Brieftasche. »Das ist ein Zitat aus einer Entscheidung aus dem Jahr 1934, getroffen von einem der gro?ten Juristen Amerikas, Judge Learned Hand. Viele andere Richter haben sich bereits darauf berufen.«

Er las laut vor: »Jeder hat das Recht, seine Angelegenheiten so zu regeln, da? er so wenig Steuern wie moglich zahlt; er ist nicht verpflichtet, den fur den Fiskus vorteilhaftesten Weg zu wahlen; ja es existiert nicht einmal die patriotische Pflicht, soviel Steuern wie moglich zu zahlen.«

»Jetzt verstehe ich, warum die Leute dich beneiden«, sagte Vivien. »Gibt es beim Fernsehen noch andere, die das auch tun?«

»Du glaubst gar nicht, wie viele. Der Steuervorteil ist einer der Grunde, warum Kanadier gern im Ausland fur amerikanische Sender arbeiten.«

Es gab noch andere Grunde, die er nicht erwahnte, nicht zuletzt die Gehalter, die bei den amerikanischen Sendern um einiges hoher waren. Fur einen amerikanischen Sender zu arbeiten, bedeutete aber auch, und das war wohl das Wichtigste, da? man »den gro?en Sprung« geschafft hatte und mit einem Mal im erregenden Mittelpunkt des Weltgeschehens stand.

Die amerikanischen Sender arbeiteten ihrerseits gern mit kanadischen Korrespondenten, denn die hatten bei CBC und CTV eine solide Ausbildung genossen. Au?erdem stellte sich mit der Zeit heraus, da? die amerikanischen Zuschauer den kanadischen Akzent mochten; und das war mit ein Grund fur die Popularitat von Leuten wie Peter Jennings, Robert MacNeil, Morley Safer, Allen Pizzey, Barrie Dunsmore, Peter Kent, John Blackstone, Hilary Bowker, Harry Partridge und noch anderen mehr.

Wahrend Partridge weiter durch die Wohnung schlenderte, entdeckte er auf einer Anrichte die Karten fur das MozartKonzert. Er wu?te, da? es ihm gefallen wurde, und war einmal mehr dankbar dafur, da? Vivien seinen Geschmack immer so gut traf.

Dankbar war er auch fur den dreiwochigen Urlaub - eine Zeit des erholsamen Nichtstuns, wie er glaubte.

11

An jedem Donnerstagvormittag ging Jessica zum Einkaufen, und sie hatte nicht vor, an diesem Tag eine Ausnahme zu machen. Als Angus dies erfuhr, wollte er sie begleiten. Nicky, der schulfrei hatte, bat, ebenfalls mitkommen zu durfen, weil er mit seinem Gro?vater Zusammensein wollte.

»Mu?t du denn nicht uben?« fragte Jessica skeptisch.

»Doch, Mom. Aber das kann ich spater auch noch. Ich habe ja Zeit.«

Da Jessica wu?te, da? Nicky seine Musik sehr ernst nahm und manchmal bis zu sechs Stunden taglich ubte, hatte sie nichts dagegen.

Kurz vor 11 Uhr verlie?en die drei in Jessicas Volvo das Haus an der Park Avenue, also etwa eineinviertel Stunden nach Crawfords Aufbruch. Es war ein wunderbarer Vormittag, die Blatter der Baume leuchteten in herbstlichen Farben und die Sonne glitzerte auf dem Long Island Sound.

Florence, das Dienstmadchen der Sloanes, war zu der Zeit bereits im Haus und sah durch ein Fenster zu, wie die drei abfuhren. Dabei bemerkte sie, da? ein Auto, das in einer Seitenstra?e geparkt stand, ebenfalls losfuhr und dem Volvo folgte. Doch in diesem Augenblick ma? sie dem zweiten Auto noch keine Bedeutung zu.

Wie jeden Donnerstag fuhr Jessica zuerst zum Grand Union Supermarkt an der Chatsworth Avenue. Sie stellte den Volvo auf dem Kundenparkplatz ab und ging mit Angus und Nicky hinein.

Die beiden Kolumbianer Julio und Carlos in dem Chevrolet Celebrity waren dem Kombi in sicherem Abstand gefolgt.

Carlos, der zuvor bereits die Abfahrt gemeldet hatte, griff nun wieder zum Funktelefon und berichtete, da? »die drei Pakete im Container Nummer eins« seien.

An diesem Tag sa? Julio am Steuer. Er fuhr jedoch nicht auf den Kundenparkplatz des Supermarkts, sondern blieb auf der Stra?e davor, um von dort aus die Umgebung beobachten zu konnen. Einem fruheren Befehl Miguels folgend, stieg Carlos nun aus und ging zu Fu? zu einem Beobachtungsposten in der Nahe des Supermarkts. Im Gegensatz zur eher lassigen Kleidung der anderen Tage trug er heute einen ordentlichen braunen Anzug mit Krawatte.

Sobald Carlos an Ort und Stelle war, fuhr Julio den Chevrolet weg und versteckte ihn, zur Sicherheit, falls er beobachtet worden war, in ihrem abgelegenen Hauptquartier in Hackensack.

Der erste der beiden Anrufe erreichte Miguel in dem Nissan Kleinbus, der in der Nahe des Bahnhofs von Larchmont geparkt stand. In der Menge der anderen Autos, die New Yorker Pendler dort abgestellt hatten, fiel der Transporter nicht weiter auf. Miguel hatte Luis, Rafael und Baudelio bei sich, doch von den vier Insassen war kaum etwas zu sehen, weil die Heck- und Seitenscheiben mit dunner, dunkler Plastikfolie uberklebt waren. Luis, der Fahrkunstler, sa? am Steuer.

Als sie erfuhren, da? drei Personen das Haus verlassen hatten, rief Rafael: »Ay! Das hei?t, da? der viejo mit dabei ist. Verdammt, der wird uns im Weg sein.«

»Dann legen wir den alten Trottel eben um«, sagte Luis und griff sich an die Ausbuchtung in seiner Wildlederjacke. »Eine Kugel reicht.«

»Du befolgst genau meine Befehle«, bellte Miguel ihn an. »Tu nichts, ohne da? ich es dir sage.« Er wu?te, da? in Rafael und Luis bestandig eine versteckte Aggressivitat lauerte, wie ein schwelendes Feuer, das jeden Augenblick auflodern konnte. Der schwere und kraftige Rafael war eine Zeitlang Profiboxer gewesen und trug aus dieser Zeit deutlich sichtbare Narben. Luis war Exsoldat der kolumbianischen Armee - eine harte Schule. Es war durchaus moglich, da? die Aggressivitat der beiden Manner spater einmal nutzlich wurde, aber bis dahin mu?te man sie im Zaum halten.

Was Miguel im Augenblick mehr Sorgen machte, war das Problem der uberraschend dazugekommenen dritten Person. In ihrem Plan waren zu diesem Zeitpunkt nur die Frau und der Junge vorgesehen. Denn von Anfang an waren die beiden, und nicht Crawford Sloane, das Ziel der Operation gewesen. Sie sollten entfuhrt und fur spatere noch unbestimmte Forderungen als Geiseln gehalten werden.

Die Frage war nun, was mit dem alten Mann passieren sollte. Ihn zu toten, wie Luis vorgeschlagen hatte, ware sehr einfach, konnte aber auch neue Probleme schaffen. Hochstwahrscheinlich wurde Miguel die endgultige Entscheidung erst treffen, wenn sie unausweichlich wurde. Doch dieser Augenblick stand kurz bevor.

In einer Hinsicht hatten sie Gluck: Die Frau und der Junge waren zusammen. Die Wochen der Beschattung hatten gezeigt, da? die Frau immer am Donnerstagmorgen zum Einkaufen ging. Da? der Junge schulfrei hatte, war ebenfalls bekannt. Carlos, der sich am Telefon als Vater eines Schulers ausgab, hatte dies bei der Grammar School in der Chatsworth Avenue, die Nicky besuchte, in Erfahrung gebracht. Fraglich war nur, ob sie die Frau und den Jungen zusammenbringen konnten. Doch nun hatten die beiden, ohne es zu wissen, dieses Problem fur sie gelost.

Sobald Carlos meldete, da? alle drei den Supermarkt betreten hatten, nickte Miguel Luis zu. »Okay. Fahr los!«

Luis legte den Gang ein. Ihr Ziel war der nur wenige Blocks entfernte Parkplatz des Supermarkts.

Wahrend der Fahrt drehte Miguel sich um und sah Baudelio an, den Amerikaner in der Medellin-Truppe, der ihm immer noch Sorgen machte.

Baudelio - so lautete der ihm zugewiesene Deckname - war Mitte Funfzig, sah aber zwanzig Jahre alter aus. Mit seinem ausgemergelten, hohlwangigen Gesicht, der bleichen Haut und dem hangenden, ungepflegten Schnurrbart glich er fast einem Gespenst. Er war fruher Arzt gewesen, ein in Boston praktizierender Anasthesiespezialist, und vor allem ein Saufer. Wenn man ihn sich selbst uberlie?, war er nur noch Saufer, aber kein Arzt mehr, das auch schon lange nicht mehr offiziell. Vor zehn Jahren hatte man ihm auf Lebzeiten die Approbation als Arzt entzogen, weil er unter Alkoholeinflu? einem Patienten auf dem Operationstisch eine zu hohe Narkosedosis verabreicht hatte. Bis dahin hatten die Kollegen ihn bei ahnlichen Vorfallen immer gedeckt, doch diesmal starb der Patient, und das konnte nicht mehr vertuscht werden.

In den Vereinigten Staaten gab es danach fur ihn keine Zukunft mehr, auch besa? er weder Familie noch Kinder. Seine Frau hatte ihn bereits einige Jahre zuvor verlassen. Da er schon ofters in Kolumbien gewesen war und ihm auch sonst nichts Besseres einfiel, beschlo? er, dorthin zu gehen. Nach einiger Zeit entdeckte er, da? er seine beachtlichen medizinischen Fahigkeiten fur zwielichtige, manchmal auch kriminelle Zwecke einsetzen konnte, ohne je Verdacht zu erregen. In seiner Situation konnte er nicht wahlerisch sein, und er nahm deshalb alles, was sich ihm bot. Nebenbei schaffte er es, durch die Lekture medizinischer Fachzeitschriften in seinem Fachgebiet auf dem neuesten Stand zu bleiben. Und dies war der Grund, warum das Medellin-Kartell, fur das er zuvor schon tatig

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