Hal Clement

Expedition zur Sonne

Ron Saccos Hand glitt zum Schalter, dann hielt sie inne. Er blickte zum Kommandanten hinuber, sah, da? dieser ihn beobachtete, und warf einen Blick auf die Uhr. Welland wandte sich ab. Wollte er ein Lacheln verbergen? Wutend druckte Sacco auf den Schalter.

Nur einer der Beobachter konnte jedes Detail der Konsequenzen verfolgen. Fur die meisten war das Schlie?en des Stromkreises, das einen Sekundenbruchteil spater folgte, nur ein bedeutungsloses Muster auf dem Oszillographen. Aber fur Grumpy Ries, der das Instrument konstruiert und installiert hatte, geschah viel mehr. Vor seinem geistigen Auge sah er das Pulsieren der elektrischen Energie in die Ubertrager auf der eisigen Au?enseite.

Sacco sagte minutenlang nichts, er hatte auf mehrere Knopfe gedruckt. Nach einer Weile nickte er und legte das Instrument in die Kassette zuruck.

„Nun?“ fragten mehrere Stimmen gleichzeitig.

„Die gro?te Abweichung ist am Sudpol, wie Sie erwartet haben.

Etwa sechzig Zentimeter. Etwa funfzehn Grad nordlich erreichen wir den Nullpunkt. Noch weiter nordlich konnen wir die Abweichungen mit unseren Geraten nicht mehr messen.

Wir mussen hinausgehen und eines von Grumpys Geraten benutzen, wenn wir etwas ablesen wollen.“

Niemand antwortete. Das Dutzend Wissenschaftler, das durch den Instrumentenraum schwebte, hatte bereits zu streiten begonnen. Fast jeder Satz begann mit: „Ich habe Ihnen doch gesagt, da?…“ Der Kommandant lauschte angespannt.

Sacco wandte sich von der Kontrolltafel ab und rief: „Wie sind die Daten jetzt?“

„Wie vorher“, schnarrte Ries. „Wie sollten sie sich auch verandert haben? Wir haben uns selbst begraben, die Umlaufbahn dieses Eisbergs verandert, bis die Astronomen zufrieden waren, dann Schnee geschaufelt, bis die Abgastunnel so voll waren, da? wir unseren Kurs nicht mehr andern konnten, wenn wir es auch wollten. Jetzt konnen wir nichts mehr machen. Fragen Sie lieber den Kommandanten des ersten bemannten Kometen, wie lange er noch zu leben erwartet.“

Welland gelang es, seinen Arger nicht zu zeigen. Ries war von Natur aus Skeptiker, und deshalb konnte Welland ihn nicht leiden.

„Wir werden es schaffen“, sagte er ruhig. „Bisher haben alle Messungen das bestatigt. Dieser Komet mi?t uber zwei Meilen im Durchmesser, und obwohl wir schon viel verbraucht haben, enthalt er noch immer drei?ig Milliarden Tonnen Eis. Ich bin kein Physiker, aber ich wei?, in welche Hitze dieser Eisberg nachste Woche eindringen wird. Aber diese Hitze wird drei?ig Milliarden Tonnen Eis nicht zum Schmelzen bringen. Wir haben berechnet, wieviel Eis wir nach dem passieren des Periheliums noch haben werden. Wir werden etwa drei- oder vierhundert Meter an Umfang verlieren. Wenn das nicht genug Sicherheit ist…“

„Das konnen weder Sie noch ich wissen“, erwiderte Ries.

„Wir sollen etwa hunderttausend Meilen Photosphare durchqueren.

Und Sie wissen genauso gut wie ich, da? der einzige Komet, der jemals von der Sonne zuruckgekehrt ist, sie als zwei Kometen verlassen hat.“

„Sie wu?ten das, als Sie Ihren Vertrag unterschrieben. Niemand hat Sie zu tauschen versucht. Sie wissen, woran Sie sind, wie wir alle.“

Wortlos griff der Physiker nach einem Handgriff und zog sich aus dem Raum. Eine Sekunde spater rief einer der Manner an der Kontrolltafel: „Der Zeiger steht. Vielleicht eine Protuberanz.

Alles an die Gerate!“

In wildem Durcheinander glitten die Wissenschaftler durch den Raum, stie?en gegeneinander, und es dauerte ein paar Minuten, bis jeder seinen Platz eingenommen hatte. Ries kehrte in den Raum zuruck und beobachtete die anderen. Er schien auf etwas zu warten. Aber zu seiner Uberraschung geschah nichts.

Die Eruption verging, die Instrumente summten und klickten, und keiner der Manner klagte. Ries war beinahe enttauscht.

Pawlak, der Elektroingenieur, merkte es.

„Komm, Ries“, sagte er. „Gehen wir hinaus und sehen wir uns die Kamera an. Vielleicht ist irgend etwas nicht damit in Ordnung. Du sagtest doch, da? du dem Au?enkontrollsystem nicht traust.“

Ries strahlte.

„Okay. Die Astronomen werden wahrscheinlich in funf Minuten nach Bildern schreien, damit sie einander erzahlen konnen, es sei alles genauso gekommen, wie sie es vorausgesagt hatten.“

Sie verlie?en gemeinsam den Raum, und niemand au?er dem Kommandanten bemerkte ihr Verschwinden.

Drau?en an der Schleuse war wenig Platz. Die Rakete war in die Mitte des Kometen gebracht worden, durch einen Tunnel, gerade gro? genug, um sie hindurchzuschaffen. Funf kleinere Tunnel waren fur die Emissionen der Reaktionsmotoren gebohrt worden. Ein Durchgang fur das Personal war im Zickzack angelegt worden. Als Kurs auf die Sonne genommen worden war, hatte man alle Tunnel au?er dem Durchgang fur die Besatzung mit Schnee gefullt.

Die Kamera befand sich in einiger Entfernung vom Eingang des Tunnels, an der Nordseite. Man mu?te Vorsicht walten lassen, wenn man nach drau?en ging. Ein Mann im Raumanzug konnte an der Oberflache des Kometen leicht die Fluchtgeschwindigkeit erreichen. Ries und Pawlak sicherten sich mit einer Leine und verbanden ihre Raumanzuge mit einer Kette, durch die jeder einen Arm schlang, Ries winkte dreimal, und auf dieses Zeichen hin sprangen sie los. In einem Bogen flogen sie nach Sudwesten.

Als sie aus dem Schatten des Kometen auftauchten, glanzten die Metallanzuge wie kleine Sonnen. Der Komet sah von au?en eindrucksvoll aus, wie er sich vom dunklen Hintergrund des Alls abhob. Sie landeten in der Nahe ihres Ziels und zogen sich an die Kamera heran. Rasch offnete Ries die Kamera, entfernte den Film und spannte einen neuen ein. Dann untersuchte er die Kamera. Der Rucksprung vollzog sich genauso wie der Sprung nach drau?en, nur da? ihr Ziel jetzt nicht von der Sonne beschienen und schwerer zu lokalisieren war. Sie landeten in einiger Entfernung vom Eingang des Tunnels und krochen funf Minuten spater hinein.

Als sie den Instrumentenraum erreichten, erfullte sich Ries’ Prophezeiung. Jemand verlangte Bilder.

„Geh den Film entwickeln“, sagte Pawlak. „Ich werde diesen Idioten inzwischen beruhigen.“ Geduldig horte er sich die Beschwerden des Astronomen an, bis der Film nach drei Minuten entwickelt war. Sechs oder sieben Wissenschaftler warteten aufgeregt und spannten dann den Film in den Projektor.

Schweigend sahen sie sich die ersten Filmmeter an, dann brach ein Tumult los.

„Wo ist Ries?“

Ries hatte nur fur wenige Minuten den Raum verlassen. Gespanntes Schweigen begru?te ihn, als er eintrat.

„Na, seid ihr mit den Bildern nicht zufrieden? Ist die Eruption nicht darauf? Das habe ich mir gedacht. Die Kamera kann nur aus einem Blickwinkel von einem halben Grad photographieren, und von ihrer Position aus sieht sie die Sonne in einem Winkel von zwei Grad.“

„Aber sie soll doch automatisch schwenken, sobald wir sie von hier aus einschalten? Haben Sie den Fehler jetzt berichtigt? “

„Ich mu? sie hereinholen. Ich kann nicht sagen, wie lange es dauern wird, sie richtig einzustellen.“

Wieder brach erregtes Stimmengewirr los, und der Kommandant hob die Hand, um die Manner zum Schweigen zu bringen.

„Denken Sie bitte daran, da? wir uns jetzt zwanzig Millionen Meilen von der Sonne entfernt befinden. In siebenundsechzig Stunden treten wir in das Perihelium ein. Wenn wir es ohne die Kamera passieren, haben wir den Zweck dieser Expedition verfehlt. Ries, tun Sie, was getan werden mu?, und sagen Sie, ob Sie Hilfe brauchen.“

Eine Stunde spater wurde die Kamera von funf Mannern durch den Tunnel in das Innere des Kometen gebracht. Vier Stunden spater hatte Ries sie auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt.

Er behauptete, es sei alles damit in Ordnung gewesen. Er war nicht glucklich uber diese Entdeckung, und die anderen Wissenschaftler noch weniger.

„Gut, dann sagt ihr doch, was schiefgelaufen ist“, stie? Ries argerlich hervor. „Ich kann nur feststellen, da? nichts zerbrochen oder au?er Funktion ist. Und jedes Genie, das mir erzahlen will, da? drinnen nicht drau?en ist, kann sich das sparen.

Das wei? ich selbst. Man mu? die Kamera wieder hinausbringen und sehen, ob sie funktioniert. Das werde ich jetzt tun, anstatt auf eure weisen Kommentare zu horen.“ Er wandte sich abrupt ab und ging mit dem Gerat hinaus. Er hatte nicht die Absicht, die Kamera an ihrem fruheren Platz zu installieren, sondern brachte sie am Eingang des Tunnels an.

Nach einigen Stunden zeigte es sich, da? er recht hatte. Zuerst gab es keine Schwierigkeiten. Die Kamera funktionierte ausgezeichnet und photographierte alle Teile des Alls, auf die Ries sie einstellte. Dann jedoch wurde ihr Gesichtsfeld immer kleiner, bis es auf dem Nullpunkt angelangt war. Ries untersuchte das Innere der Kamera, konnte aber die Schadensquelle nicht entdecken. Und plotzlich begann das Ding wieder zu arbeiten.

Von allein, wie Ries annahm. Lange uberlegte er, warum das so war.

Und dann sturmte er in den Instrumentenraum. Er war etwas besserer Laune, weil sich herausgestellt hatte, da? er am Versagen der Kamera nicht schuld war. Das machte er den wartenden Mannern klar, sobald er seinen Helm abgenommen hatte.

„Die Kamera arbeitet bei normalen Temperaturen, und sie arbeitet auch bei Kometen-Temperaturen. Aber leider arbeitet sie nicht, wenn die verschiedenen Segmente nicht fast dieselbe Temperatur haben. Als ich das Ding hinausbrachte, funktionierte es vorzuglich. Bei Schiffstemperatur. Als dann die Hitze in den Kometen kroch, spielte sie verruckt. Spater, als die Temperatur sich abkuhlte, funktionierte die Kamera wieder.

Eine nette Konstruktion.“

„Aber sie war doch schon seit Tagen drau?en.“

„Sicher — drau?en im Sonnenlicht. Sie mu?te sich ein paar hundert Grad Hitze anpassen. Und auf der anderen Seite spurte sie die Eiseskalte.“

„Kann man nicht ein Kontrollsystem einbauen, das die Differenz der Temperaturen ausgleicht?“ fragte der Kommandant mild. „Das ist Ihr Fachgebiet. Sicher konnen Sie etwas konstruieren, das…“

„Oh, sicher. In einer Minute, wenn es hier eine technische Werkstatt gabe.“ Argerlich vor sich hin murmelnd, ging er davon.

Als sie sich der Sonne bis auf funfzehn Millionen Meilen genahert hatten und ein weiterer Meter an der der Sonne zugewandten Seite des Kometen geschmolzen war, trat Ries mit seinem Werk aus seinem Labor. Er war offensichtlich ubermudet und in schlechterer Stimmung als je zuvor wahrend des Fluges.

„Mu?te die Sonne jetzt nicht auf den Tunneleingang schei nen?“ fragte er.

Einer der Astronomen rechnete kurz im Kopf nach.

„Ja. Sollen wir Ihnen helfen?“

„Nein“, knurrte Ries und verschwand. Der Astronom zuckte mit den Schultern.

Ries trug die schwere Kamera durch den Tunnel, was eigentlich ein Risiko darstellte. Die Gefahr bestand, da? man zu schnell ging und fur immer aus dem Kometen geschleudert wurde. Ries hielt sich immer wieder an den Haltegriffen an den Tunnelwanden fest, um sein Tempo nicht zu sehr zu beschleunigen.

Am Tunneleingang befestigte er die Kamera, so da? die Linse nach Norden blickte, und wartete auf den Sonnenaufgang.

Bald flammte das Licht am Horizont auf, bildete eine glei?ende Korona, die sich purpurrot farbte, und schlie?lich tauchte die strahlende Photosphare auf.

Die Photosphare war nicht heller als vom Rand der Erdatmosphare aus gesehen. Aber sie schien auch nicht schwacher. Ries konnte aber nicht in die Photosphare sehen, als er die Kamera darauf richtete. Danach kehrte er durch den Tunnel in das Innere des Kometen zuruck. Er fand einen Interferenzfilter.

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