Was die Gesetze verrathen. — Man vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes studirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters waren; die Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, sondern Das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, auslandisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte; und die hartesten Strafen treffen Das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemass ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei Todsunden: einen anderen Gott haben als den Wahabiten-Gott und — rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als» die schmachvolle Art des Trinkens«).»Und wie steht es mit Mord und Ehebruch?«— fragte erstaunt der Englander, der diese Dinge erfuhr.»Nun, Gott ist gnadig und barmherzig!«— sagte der alte Hauptling. — So gab es bei den alten Romern die Vorstellung, dass ein Weib sich nur auf zweierlei Art todtlich versundigen konne: einmal durch Ehebruch, sodann — durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das Kussen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte gemacht, um die Weiber in diesem Puncte unter Controle zu halten; ein Kuss bedeute: riecht sie nach Wein? Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft: und gewiss nicht nur, weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles Nein-Sagen verlernen; die Romer furchteten vor Allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des europaischen Sudens damals, als der Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche Auslanderei, welche den Grund der romischen Empfindung umwarf; es war ihnen wie ein Verrath an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes.

44

Die geglaubten Motive. — So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also Das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres fur den Erkennenden. Das innere Gluck und Elend der Menschen ist ihnen namlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil geworden, — nicht aber durch Das, was wirklich Motiv war! Alles diess Letztere hat ein Interesse zweiten Ranges.

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Epikur. — Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur's anders zu empfinden, als irgend Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm hore und lese, das Gluck des Nachmittags des Alterthums zu geniessen: — ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer blicken, uber Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, wahrend grosses und kleines Gethier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge selber. Solch ein Gluck hat nur ein fortwahrend Leidender erfinden konnen, das Gluck eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberflache und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.

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Unser Erstaunen. — Es liegt ein tiefes und grundliches Gluck darin, dass die Wissenschaft Dinge ermittelt, die Standhalten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben: — es konnte ja anders sein! Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und Phantasterei unserer Urtheile und von dem ewigen Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe uberzeugt, dass es uns eigentlich ein Erstaunen macht, wie sehr die Ergebnisse der Wissenschaft Stand halten! Fruher wusste man Nichts von dieser Wandelbarkeit alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben aufrecht, dass das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Nothwendigkeit geheftet sei: vielleicht empfand man damals eine ahnliche Wollust des Erstaunens, wenn man sich Marchen und Feengeschichten erzahlen liess. Das Wunderbare that jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit mitunter wohl mude werden mochten. Einmal den Boden verlieren! Schweben! Irren! Toll sein! — das gehorte zum Paradies und zur Schwelgerei fruherer Zeiten: wahrend unsere Gluckseligkeit der des Schiffbruchigen gleicht, der an's Land gestiegen ist und mit beiden Fussen sich auf die alte feste Erde stellt — staunend, dass sie nicht schwankt.

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Von der Unterdruckung der Leidenschaften. — Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den» Gemeinen«, den groberen, burgerlichen, bauerlichen Naturen zu Ueberlassendes, — also nicht die Leidenschaften selber unterdrucken will, sondern nur ihre Sprache und Gebarde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das mit, was man nicht will: die Unterdruckung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwachung und Veranderung: — wie diess zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwig's des Vierzehnten und Alles, was von ihm abhangig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der Unterdruckung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmuthiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle, — ein Zeitalter, das mit der Unfahigkeit behaftet war, unartig zu sein: sodass selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zuruckgegeben wurde. Vielleicht giebt unsere Gegenwart das merkwurdigste Gegenstuck dazu ab: ich sehe uberall, im Leben und auf dem Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen groberen Ausbruchen und Gebarden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Convention der Leidenschaftlichkeit verlangt, — nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie damit zuletzt erreichen, und unsere Nachkommen werden eine achte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebardigkeit der Formen.

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Kenntniss der Noth. — Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kenntniss der Noth, den sie haben: Noth der Seele wie des Leibes. In Bezug auf letztere sind wir jetzigen vielleicht allesammt, trotz unserer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stumper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht — dem langsten aller Zeitalter —, wo der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schutzen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste. Damals machte ein Mann seine reiche Schule korperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Uebung des Schmerzes, ein ihm nothwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fugte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art uber Andere ergehen, ohne ein anderes Gefuhl, als das der eigenen Sicherheit. Was die Noth der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntniss zu heucheln doch noch fur nothig halt, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er uberhaupt an grosse Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ahnlich ergeht, wie bei Nennung grosser korperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den Meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeubtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergiebt sich nun eine wichtige Folge: man hasst jetzt den Schmerz viel mehr, als fruhere Menschen, und redet ihm viel ubler nach als je, ja, man findet schon das

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