Aristoteles.

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Die grosste Gefahr. — Hatte es nicht allezeit eine Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht ihres Kopfes — ihre» Vernunftigkeit«— als ihren Stolz, ihre Verpflichtung, ihre Tugend fuhlten, welche durch alles Phantasiren und Ausschweifen des Denkens beleidigt oder beschamt wurden, als die Freunde» des gesunden Menschenverstandes«: so ware die Menschheit langst zu Grunde gegangen! Ueber ihr schwebte und schwebt fortwahrend als ihre grosste Gefahr der ausbrechende Irrsinn — das heisst eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und Horen, der Genuss in der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude am Menschen-Unverstande. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urtheilen. Und die grosste Arbeit der Menschen bisher war die, uber sehr viele Dinge mit einander ubereinzustimmen und sich ein Gesetz der Uebereinstimmung aufzulegen — gleichgultig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind. Diess ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit erhalten hat; — aber die Gegentriebe sind immer noch so machtig, dass man im Grunde von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. Fortwahrend schiebt und verschiebt sich noch das Bild der Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller als je; fortwahrend strauben sich gerade die ausgesuchtesten Geister gegen jene Allverbindlichkeit — die Erforscher der Wahrheit voran! Fortwahrend erzeugt jener Glaube als Allerweltsglaube einen Ekel und eine neue Lusternheit bei feineren Kopfen: und schon das langsame Tempo, welches er fur alle geistigen Processe verlangt, jene Nachahmung der Schildkrote, welche hier als die Norm anerkannt wird, macht Kunstler und Dichter zu Ueberlaufern: — diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine formliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so frohliches Tempo hat! Es bedarf also der tugendhaften Intellecte, — ach! ich will das unzweideutigste Wort gebrauchen — es bedarf der tugendhaften Dummheit, es bedarf unerschutterlicher Tactschlager des langsamen Geistes, damit die Glaubigen des grossen Gesammtglaubens bei einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen: es ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr, — wir bedurfen ewig der Vertheidigung! — Nun, es lasst sich wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will.

77

Das Thier mit gutem Gewissen. — Das Gemeine in Alledem, was im Suden Europa's gefallt — sei diess nun die italianische Oper (zum Beispiel Rossini's und Bellini's) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der franzosischen Verkleidung des Gil Blas am besten zuganglich) — bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt diess? Ist es, dass hier die Scham fehlt und dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik oder Roman?» Das Thier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem!«— das scheint mir die Moral der Sache und die Eigenheit der sudlandischen Humanitat zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedurfniss, die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verstandliche Larve und Gebarde ist: der gute, gewahlte Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verstandnisses nicht vollig Gewisses, — er ist und war niemals volksthumlich! Volksthumlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprungen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes: — und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nothiger, als den gemeinen. — Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, unsaglich. Hier ist Scham dabei, der Kunstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhuten, dabei zu errothen: wir schamen uns mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen glaubte hinabsteigen zu mussen.

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Wofur wir dankbar sein sollen. — Erst die Kunstler, und namentlich die des Theaters, haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnugen zu horen und zu sehen, was jeder selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns die Schatzung des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklart ansehen konne, — die Kunst, sich vor sich selber» in Scene zu setzen«. So allein kommen wir uber einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst wurden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nachste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lasst. — Vielleicht giebt es ein Verdienst ahnlicher Art an jener Religion, welche die Sundhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrosserungsglase ansehen hiess und aus dem Sunder einen grossen, unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige Perspectiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen.

79

Reiz der Unvollkommenheit. — Ich sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine Unvollkommenheiten einen hoheren Reiz ausubt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, — ja er hat den Vortheil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermogen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen mochte, was er gesehen haben mochte: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: — aber eine ungeheure Lusternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zuruckgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhort, uber sein Werk und alle» Werke «hinaus und giebt ihm Flugel, um so hoch zu steigen, wie Zuhorer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Gluckes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten gefuhrt hatte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hatte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an's Ziel gekommen zu sein.

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Kunst und Natur. — Die Griechen (oder wenigstens die Athener) horten gerne gut reden: ja sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den Nicht-Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Buhne, dass sie gut rede, und liessen die Unnaturlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne uber sich ergehen: — in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernunftig und sich selber zur Scham! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Buhne gewohnt, wie wir jene andere

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