Figur war von der gleichen rustikalen Derbheit, wie sie Jordana und die anderen Madchen von Yad El besa?en, die gestern abend bei Ben Kanaans gewesen waren. Dr. Liebermann nahm Kitty am Arm und fuhrte sie weiter. »Sehen Sie dort die Wohnhauser der Kinder?«
»Ja.«
»Sie werden feststellen, da? alle Fenster auf die Felder unten im Tal gehen, so da? ihr erster Blick am Morgen und der letzte am Abend auf die Erde fallt, die sie bearbeiten. Die Halfte des Unterrichts und der Ausbildung betrifft die Landwirtschaft. Von unserem Jugenddorf hier sind Gruppen aufgebrochen, die allein oder zusammen mit anderen vier neue Kibbuzim gegrundet haben. Alles, was wir an pflanzlicher und tierischer Nahrung brauchen, erzeugen wir selbst. Wir weben sogar die Stoffe fur einen gro?en Teil unserer Kleidung. Wir machen unsere Mobel selbst, und wir reparieren unsere landwirtschaftlichen Maschinen in unseren eigenen Werkstatten. Alle diese Arbeiten werden von den Kindern verrichtet. Sie haben auch ihre eigene Verwaltung, und eine sehr gute sogar.«
Sie kamen am anderen Ende der Grunflache an. Unmittelbar hinter dem Verwaltungsgebaude wurde der schone Rasenteppich jah durch einen langen Schutzengraben unterbrochen, der sich rings um die ganze Anlage zog. Als Kitty sich umblickte, sah sie weitere Laufgraben und einen Unterstand.
»Das ist nicht sehr schon«, sagte Dr. Liebermann, »und unsere Kinder begeistern sich nach meinem Geschmack viel zu sehr fur kriegerisches Heldentum. Doch ich furchte, das wird so bleiben mussen, bis wir unsere Unabhangigkeit erreicht und unsere Existenz auf etwas gegrundet haben, das menschlicher ist als Waffen.«
Ari stand in dem hohen Wohnraum Tahas, des Muktars von Abu Yesha. Der junge Araber, sein langjahriger Freund, a? ein Stuck Obst, das er von einer gro?en Schale genommen hatte, und folgte Ari, der unruhig im Raum auf und ab ging, mit seinem Blick.
»Bei den Konferenzen in London gibt es genug doppelzungiges Gerede«, sagte Ari. »Ich finde, wir beide sollten offen miteinander reden.«
Taha warf das Obst zuruck auf die Schale. »Wie soll ich es dir erklaren, Ari? Man hat versucht, mich unter Druck zu setzen, doch ich habe mich nicht beeinflussen lassen.«
»Nein? Taha, du redest mit Ari ben Kanaan.« »Die Zeiten andern sich.«
»Hor mal, Taha — eure und unsere Leute haben zweimal eine Zeit der Unruhen und Aufstande durchgemacht. Du bist in Yad El zur Schule gegangen, hast in meinem Elternhaus gewohnt und unter dem Schutz meines Vaters gestanden.«
»Ja, da? ich am Leben blieb, verdanke ich eurem Wohlwollen. Soll jetzt aber mein ganzes Dorf von eurem Wohlwollen abhangig sein? Ihr bewaffnet euch. Durfen wir uns nicht auch bewaffnen? Oder traut ihr uns nicht mehr, wenn wir Gewehre haben? Wir haben euch vertraut!«
»Bist das wirklich du, der so zu mir spricht?«
»Ich wunsche, den Tag nicht zu erleben, an dem du und ich vielleicht einmal gegeneinander werden kampfen mussen. Aber du wei?t, da? die Passivitat fur uns beide leider eine Sache der Vergangenheit ist.«
Ari fuhr herum. »Was ist eigentlich in dich gefahren, Taha?« rief er zornig. »Also gut — dann darf ich dich vielleicht noch einmal daran erinnern. Diese steinernen Hauser in euerm Dorf wurden von uns entworfen und gebaut. Uns verdanken es eure Kinder, wenn sie jetzt lesen und schreiben konnen. Uns verdankt ihr es, da? ihr eine Kanalisation habt und da? eure Kinder nicht mehr sterben, bevor sie das Alter von sechs Jahren erreicht haben. Wir haben euch beigebracht, wie man den Boden vernunftig bearbeitet und wie man ein menschenwurdiges Leben fuhrt. Wir haben euch Dinge verschafft, die euch eure eigenen Leute tausend Jahre lang nicht geben wollten. Dein Vater wu?te das, er war uberlegen genug, zuzugeben, da? der schlimmste Feind und Ausbeuter des Arabers der Araber ist. Er starb, weil er wu?te, da? es zu eurem eigenen Besten ist, mit den Juden in Freundschaft zu leben, und weil er Manns genug war, zu dieser Einsicht zu stehen.«
Taha sprang auf. »Kannst du mir vielleicht garantieren, da? die Makkabaer nicht noch in dieser Nacht nach Abu Yesha kommen und uns alle umbringen?«
»Du wei?t so gut wie ich, da? ich dir das nicht garantieren kann. Aber du wei?t auch, da? die Makkabaer ebensowenig die Gesamtheit der Juden vertreten wie der Mufti die Gesamtheit der Araber.«
»Ich werde niemals meine Hand gegen Yad El erheben, Ari. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Ari ging. Er wu?te, da? es Taha ernst mit dem gewesen war, was er gesagt hatte; doch Taha hatte nicht das Format, das sein Vater Kammal gehabt hatte. Gewi?, sie hatten einander Frieden zugesichert, und doch war ein Ri? zwischen Yad El und Abu Yesha entstanden, genau wie bei allen anderen arabischen und judischen Ortschaften, die bisher friedlich nebeneinander gelebt hatten.
Taha sah seinem Freund nach, der das Haus verlie? und zu der Stra?e ging, die nahe bei dem Flu? an der Moschee vorbeifuhrte. Er stand noch lange regungslos und nachdenklich, nachdem Ari verschwunden war. Von Tag zu Tag wurde der Druck, den man auf ihn ausubte, heftiger, und sogar in seinem eigenen Dorf meldeten sich unzufriedene Stimmen. Man machte ihm klar, da? er ein Araber und ein Moslem war und klar und eindeutig Stellung beziehen musse. Was sollte er tun?
IV.
Dr. Ernst Liebermann, diesem komischen kleinen Mann mit dem Buckel, war es gegeben, eine grenzenlose Menschenliebe in Gan Dafna in die Wirklichkeit umzusetzen. Die ganze Atmosphare war hier so gelockert wie in einem Ferienlager. Man lie? den Jugendlichen in ihrem Tun und Denken vollige Freiheit. Der Unterricht fand im Freien statt. Jungens und Madchen lagen dabei in kurzen Hosen auf dem Rasen herum und waren so auch wahrend des theoretischen Unterrichts der Natur nahe.
Die Bewohner des von Dr. Liebermann geleiteten Jugenddorfes kamen aus dem denkbar finstersten Milieu, aus dem Ghetto und dem Konzentrationslager. Dennoch war die Disziplin in Gan Dafna vorbildlich. Gehorsamsverweigerung gab es nicht. Diebstahl war unbekannt, und sexuelle Schwierigkeiten waren selten. Gan Dafna bedeutete fur die Kinder alles, und ihre Antwort auf die Liebe, die ihnen hier entgegengebracht wurde, war die stolze Wurde, mit der sie sich einordneten und ihre Gemeinschaft selbst regierten.
Der Rahmen dessen, was in Gan Dafna gelehrt, gelernt und gedacht wurde, war au?erordentlich weit gespannt. Es fiel schwer, sich vorzustellen, da? die Mitglieder dieser Akademie Halbwuchsige waren. Die Bibliothek reichte von Thomas von Aquino bis zu Freud. Kein Buch war verboten, kein Thema schien zu hoch oder zu frei. Die Kinder waren politisch von einer Aufgeschlossenheit, die weit uber ihre Jahre hinausging.
Der erste und wichtigste Lehrsatz, den die Erzieher ihren Schutzlingen einzupragen vermochten, war, da? ihr Leben einen
Sinn hatte, da? es auf ein Ziel gerichtet war.
Gan Dafna hatte einen internationalen Lehrkorper, dessen
Angehorige aus zweiundzwanzig verschiedenen Landern kamen. Kitty war die einzige Nichtjudin und die einzige Amerikanerin, und das hatte zur Folge, da? man ihr ebenso zuruckhaltend wie freundlich begegnete.
Ihre ursprunglichen Befurchtungen, da? sie auf feindliche Ablehnung sto?en werde, erwiesen sich als unbegrundet. Die geistig aufgeschlossene Atmosphare, die in Gan Dafna herrschte, machte diesen Ort mehr zu einer Universitat als zu einem Waisenheim. Kitty wurde als Mitglied eines Teams willkommen gehei?en, dessen oberstes Anliegen das Wohl der Kinder war. Mit vielen ihrer Kollegen freundete sie sich sehr an. Sie fuhlte sich im Umgang mit ihnen wohl. Auch der Umstand, da? es sich um ein judisches Jugenddorf handelte, war unwesentlicher als sie gedacht hatte. Das Judentum beruhte in Gan Dafna mehr auf dem Nationalbewu?tsein als auf religioser Basis. Die rituellen Formen wurden hier nicht sehr beachtet; es gab nicht einmal eine Synagoge.
Obwohl sich die Berichte uber blutige Ausschreitungen in allen Teilen Palastinas hauften, gelang es, Furcht und Sorge von Gan Dafna fernzuhalten. Doch auch hier war die Umwelt nicht frei von den sichtbaren Zeichen der Gefahr. Ein Stuck oberhalb von Gan Dafna lag die Grenze. Bestandig hatte man Fort Esther vor Augen. Die Schutzengraben, die Unterstande, die Waffen und die militarische Ausbildung waren nicht zu ubersehen.
Das Gebaude der medizinischen Abteilung lag in dem Verwaltungsbezirk am Rande der Grunflache. Es umfa?te eine Abteilung fur die ambulante Behandlung, eine gut eingerichtete Krankenstation mit zwanzig Betten und einen Operationsraum. Der Arzt, der gleichzeitig auch Yad El betreute, kam taglich. Au?erdem gab es einen Zahnarzt, vier Lehrschwestern, die unter Kitty arbeiteten, und einen Psychotherapeuten, der ausschlie?lich fur Gan Dafna da war.
Kitty fuhrte ihr ambulantes Revier und ihre Krankenstation, nachdem sie den ganzen Betrieb vollig neu organisiert hatte, mit geradezu maschineller Prazision. Sie setzte genaue Zeiten fest fur die Revierstunden, fur die Krankenvisiten auf der Station, und fur Massage, Bestrahlung und dergleichen. Sie verschaffte sich in ihrer Stellung einen derartigen Respekt, da? man in Gan Dafna erstaunt die Kopfe zusammensteckte. Die ihr unterstellten