Schwestern hielt sie unauffallig in einem sehr genauen beruflichen Abstand, und sie lehnte fur ihren Arbeitsbereich auch die Formlosigkeit ab, die sonst uberall in Gan Dafna ublich war. Sie verhinderte die plumpe Vertraulichkeit, zu der die meisten Mitglieder des Stabes die Jungen und Madchen ermutigten. Das alles war fur Gan Dafna neu und ungewohnlich. Man mu?te ihr, ob man wollte oder nicht, Bewunderung zollen, denn die medizinische Sektion war am besten organisiert und die leistungsfahigste Abteilung des ganzen Jugenddorfes. In ihrem Bestreben, freie Menschen heranzuziehen, hatten die Juden allzuoft die Disziplin vernachlassigt, die Kitty Fremont gewohnt war. Man verubelte ihr die energische Art, mit der sie ihre Abteilung fuhrte, jedoch durchaus nicht. Wenn sie ihre Dienstkleidung auszog, gab es in Gan Dafna niemanden, dessen Gesellschaft so begehrt war wie die ihre.

War sie als Abteilungsleiterin streng und energisch, so war sie ganz das Gegenteil davon, sobald es sich um »ihre« Kinder handelte. Die funfzig Kinder von der Exodus blieben auch in Gan Dafna weiterhin die »Exodus- Kinder«, und Kitty Fremont gehorte zu ihnen. Sie war die »Exodus-Mutter«. So war es ganz naturlich, da? sie personlichen Anteil an einigen dieser Jugendlichen nahm, die ernstlich seelisch gestort waren. Sie erklarte sich freiwillig bereit, dem Psychotherapeuten bei seiner Arbeit zu assistieren. Diesen seelisch gestorten Kindern gegenuber ging Kitty aus ihrer Reserviertheit vollig heraus; sie gab ihnen alle Liebe und Warme, die sie zu geben vermochte. Die Tatsache, da? die Kinder in Palastina und in Gan Dafna waren, hatte eine gro?e Heilwirkung; doch die Schrecken der Vergangenheit verursachten noch immer Angsttraume, Unsicherheit und Feindseligkeit, deren Behandlung Geduld, Erfahrung und Liebe erforderte.

Einmal wochentlich begab sich Kitty mit dem Arzt nach Abu Yesha, um dort eine morgendliche Krankenstunde fur die Araber abzuhalten. Wie ruhrend waren manchmal doch diese schmutzigen kleinen Araberkinder im Gegensatz zu den robusten Jugendlichen von Gan Dafna! Wie wurdelos war ihr Leben, verglichen mit dem Geist des Jugend-Aliyah-Dorfes! Bei diesen arabischen Kindern gab es weder Lachen noch Gesang, weder Spiele noch sichtbaren Lebenszweck. Man lebte einfach in den Tag hinein; neue Generation einer sich ewig in einem endlosen Kreise bewegenden Karawane in der Wuste. Der Magen drehte sich ihr jedesmal um, wenn sie eine der nur aus einem einzigen Raum bestehenden Hutten betrat, die ihre Bewohner mit Huhnern, Hunden und Eseln zu teilen hatten und in denen jeweils acht bis zehn Menschen auf dem Erdboden schliefen. Und doch konnte Kitty diese Menschen nicht verabscheuen. Sie waren gutmutig und herzlich, weit uber ihre geistigen Grenzen hinaus. Auch sie sehnten sich nach einer besseren Zukunft. Sie befreundete sich mit Taha, dem jungen Muktar, der an jeder ihrer Ambulanzstunden teilnahm. Oft hatte Kitty den Eindruck, als wollte Taha mit ihr auch noch uber andere Probleme als das Gesundheitswesen seines Dorfes sprechen, und sie spurte geradezu, wie es ihn zu einer Aussprache drangte. Aber Taha war Araber; einer Frau konnte man sich nicht in allem anvertrauen, und deshalb verriet er ihr niemals seine wahren Sorgen.

Die Tage vergingen und der Spatwinter 1947 kam.

Mit der Zeit waren Karen und Kitty in Gan Dafna unzertrennlich geworden. Karen, die auch an den finstersten Orten nie ganz unglucklich gewesen war, bluhte in Gan Dafna formlich auf. Sie war der Liebling des ganzen Dorfes. Kittys verstandnisvolle Nahe wurde fur sie besonders wichtig, weil sie gerade das schwierige Stadium der Pubertat durchmachte. Kitty sah sehr deutlich, da? jeder Tag, den Karen in Gan Dafna verbrachte, dazu angetan war, sie weiter von Amerika zu entfernen, und sie hielt ganz bewu?t den Gedanken an Amerika in ihr lebendig, wahrend die Nachforschungen nach Karens Vater weitergingen.

Dov Landau war ein Problem. Kitty war mehrfach kurz davor, einzugreifen und sich trennend zwischen ihn und Karen zu stellen, als sie merkte, da? sich die Beziehung zu vertiefen schien; doch sie hielt sich zuruck, weil ihr klar war, da? sich die beiden dadurch moglicherweise nur noch enger aneinandergeschlossen hatten. Es war ihr unverstandlich, da? Karen so an dem Jungen hing, da Dov diese Zuneigung durch nichts erwiderte. Er war murrisch und verschlossen. Er redete zwar ein bi?chen mehr als fruher, aber wenn man irgend etwas von ihm wollte, so war Karen noch immer die einzige, die an ihn herankonnte.

Dov war wie besessen von dem Wunsch, Wissen zu erwerben. Er hatte so gut wie uberhaupt keine Schulausbildung gehabt, und jetzt schien er das Versaumte mit leidenschaftlichem Hunger nachholen zu wollen. Er wurde sowohl von der militarischen wie von der landwirtschaftlichen Ausbildung dispensiert. Er arbeitete, las und lernte Tag und Nacht. Seiner Begabung gema? konzentrierte er sich auf anatomische, architektonische und technische Zeichnungen. Gelegentlich entstand auch, sozusagen als Sicherheitsventil, eine freie Zeichnung, die sein Inneres zum Ausdruck brachte. Zuweilen war er nahe daran, aus seiner Einsamkeit auszubrechen und an der Geselligkeit von Gan Dafna teilzunehmen, doch jedesmal zog er sich wieder in sich selbst zuruck. Er blieb fur sich, nahm an nichts teil und sprach, au?er mit Karen, au?erhalb des Unterrichts mit keinem Menschen.

Kitty besprach das Problem mit Dr. Liebermann. Liebermann hatte viele Jungen und Madchen wie Dov Landau erlebt. Es war ihm aufgefallen, da? Dov sehr intelligent war und Zeichen gro?er Begabung erkennen lie?. Er war jedoch der Meinung, da? jeder Versuch, ihn mit Gewalt aus seiner Einsamkeit herauszuholen, genau das Gegenteil bewirken werde; solange der Junge harmlos blieb und sich sein Zustand nicht verschlimmerte, sollte man ihn in Ruhe lassen.

Woche um Woche verging, und Kitty war enttauscht, da? Ari nichts von sich horen und sehen lie?. Ab und zu, wenn sie Gelegenheit hatte, nach Yad El zu kommen, schaute sie auf einen Sprung bei Sara ben Kanaan herein. Die beiden Frauen befreundeten sich. Jordana dagegen gab sich keine Muhe, aus ihrer Abneigung gegen Kitty ein Hehl zu machen; sie legte es vielmehr geradezu darauf an, Kitty jedesmal zu bruskieren, wenn sie mit ihr sprach.

Eines Abends, als Kitty nach dem Dienst in ihren Bungalow kam, fand sie dort Jordana, die vor dem Spiegel stand und eins ihrer Cocktailkleider anprobierte. Durch Kittys Auftauchen schien sie keineswegs verwirrt. »Sehr hubsch, wenn man so was mag«, sagte Jordana und hangte das Kleid in den Schrank zuruck.

Kitty ging zur Kochnische und setzte Teewasser auf. »Und was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?«

Jordana sah sich weiter in Kittys Behausung um und betrachtete die Kleinigkeiten, die dem Raum seine weibliche Note gaben.

»Im Kibbuz Ejn Or sind mehrere Einheiten des Palmach stationiert, die dort ausgebildet werden.«

»Ich habe davon gehort«, sagte Kitty.

»Es fehlt uns an Ausbildern. Es fehlt uns an allem. Man hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie bereit waren, einmal in der Woche nach Ejn Or zu kommen, um dort einen Sanitatskursus abzuhalten.«

Kitty zog die Vorhange beiseite, streifte die Schuhe ab und hockte sich auf das Bett im Studio. »Ich mochte nicht gern etwas tun, wodurch ich mit bewaffneten Einheiten in Kontakt komme.«

»Warum nicht?« wollte Jordana wissen.

»Ich glaube kaum, da? es mir gelingen wird, Ihnen das zu erklaren, ohne unnotig deutlich zu werden, aber ich denke doch, da? man meine Grunde beim Palmach verstehen wird.«

»Was gibt es dabei denn zu verstehen?«

»Meine personliche Einstellung. Ich mochte nicht Partei ergreifen.«

Jordana lachte spottisch. »Ich habe den Jungen in Ejn Or gleich gesagt, es sei Zeitverschwendung, Sie zu fragen.«

»Ist es Ihnen denn so vollig unmoglich, meine Einstellung zu respektieren?«

»Mrs. Fremont, uberall auf der Welt konnen Sie Ihre Arbeit tun und dabei neutral bleiben. Aber es ist sehr sonderbar, da? Sie ausgerechnet hierherkommen, wenn Sie gleichzeitig den Wunsch haben, sich aus allem herauszuhalten. Was ist eigentlich der wirkliche Grund dafur, da? Sie hier sind?«

Kitty sprang wutend vom Bett herunter. »Das durfte Sie verdammt wenig angehen!« sagte sie und nahm den Teekessel, der eben zu pfeifen begann, vom Feuer.

»Ich wei?, warum Sie hier sind. Sie haben es auf Ari abgesehen.« »Sie sind eine reichlich unverschamte junge Dame, und ich habe nicht die Absicht, mir noch mehr von Ihnen anzuhoren.«

Jordana schien ungeruhrt. »Schlie?lich habe ich gesehen«, sagte sie, »wie Sie ihn angeschaut haben.«

»Wenn ich Ari wirklich haben wollte, so waren Sie die letzte, durch die ich mich hindern lie?e.«

»Das konnen Sie sich selber weismachen, da? Sie ihn nicht haben wollen, aber nicht mir. Au?erdem — Sie sind keine Frau, die zu Ari pa?t. Sie interessieren sich nicht fur unsere Sache.«

Kitty ging zum Fenster und brannte sich eine Zigarette an. Jordana trat hinter sie.

»Dafna, das war eine Frau fur Ari. Sie verstand ihn. Eine Amerikanerin wird ihn nie verstehen.«

Kitty drehte sich um. »Weil ich nicht in Shorts herumlaufe und auf die Berge klettere und Kanonen abfeuere und in Graben schlafe, deshalb bin ich keineswegs weniger eine Frau als Sie oder diese Statue da auf dem Sockel. Ich wei?, was mit Ihnen los ist — Sie haben Angst vor mir.«

»Das ist ja komisch.«

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