»Bin ich richtig dafur angezogen?«
»Wie? Oh — doch, das ist genau richtig.«
Als die Motorbarkasse vom Pier ablegte, stieg der volle Mond uber den syrischen Bergen herauf und warf eine breite Lichtbahn uber die unbewegte Wasserflache.
»Wie still der See ist«, sagte Kitty.
»Das ist trugerisch. Wenn Gott zurnt, kann er den See innerhalb von Minuten in ein tobendes Meer verwandeln.«
In einer halben Stunde hatten sie den See uberquert und waren am Kai von Ejn Gev gelandet. Diese Siedlung war ein kuhnes Wagnis. Sie lag unmittelbar am Fu?e der syrischen Berge, vom ubrigen Palastina isoliert. Etwas oberhalb lag ein syrisches Dorf, und die Felder von Ejn Gev reichten bis an die syrische Grenze. Der Kibbuz war eine Grundung deutscher Juden, die mit der Einwandererwelle des Jahres 1937 nach Palastina gekommen waren.
Von diesen Neusiedlern aus Deutschland waren viele ursprunglich Musiker gewesen, strebsame und einfallsreiche Leute. Sie hatten die Idee, dem Kibbuz zusatzlich zu Landwirtschaft und Fischfang noch eine weitere Einnahmequelle zu erschlie?en. Sie bildeten ein Orchester und kauften zwei Barkassen, die die Touristen der Wintersaison von Tiberias quer uber den See zu Konzerten heranbrachten. Die Idee erwies sich als Erfolg. Am Rande des Sees wurde unter freiem Himmel, eingefa?t von einer naturgegebenen Waldkulisse, ein gro?es Amphitheater errichtet. Au?erdem plante man, im Laufe der Jahre einen festen Konzertsaal zu bauen.
Ari breitete am Rande des Amphitheaters auf dem Gras eine Decke aus. Beide legten sich auf den Rucken, blickten hinauf in den Himmel und sahen zu, wie der riesige Mond hoher stieg und kleiner wurde und Platz machte fur eine Milliarde von Sternen. Das Orchester spielte Beethoven. Kittys innere Spannung loste sich. Ein schonerer Rahmen fur diese Musik war nicht denkbar. Es schien geradezu unwirklich, und Kitty wunschte heimlich, es moge kein Ende nehmen.
Als das Konzert vorbei war, nahm Ari sie bei der Hand und fuhrte sie hinweg von der Menge der Zuhorer, einen Weg entlang, der zum Ufer hinunterging. Es war windstill, die Luft war von Pinienduft erfullt, und der Tiberias-See lag glatt und glanzend wie ein Spiegel. Am Rande des Wassers stand eine Bank aus drei steinernen Platten eines alten Tempels.
Sie setzten sich und sahen hinuber zu den funkelnden Lichtern von Tiberias. Kitty spurte Aris Nahe, sie wandte den Kopf und sah ihn an. Was fur ein gutaussehender Mann Ari ben Kanaan war! Sie hatte plotzlich das Verlangen, den Arm um ihn zu legen, seine Wange zu beruhren und ihm uber das Haar zu streichen. Sie hatte den Wunsch, ihn zu bitten, sich nicht so zu uberarbeiten. Sie hatte ihn gern gebeten, nicht langer so verschlossen ihr gegenuber zu sein. Sie hatte den Wunsch, ihm zu sagen, wie ihr zumute war, wenn er in ihrer Nahe war, und sie hatte ihn gern gebeten, nicht so fremd zu sein, sondern zu suchen, ob es fur sie beide nicht etwas Gemeinsames gab. Aber Ari ben Kanaan war eben doch ein Fremder, und sie wurde niemals wagen, ihm zu sagen, was sie fur ihn empfand.
Der See Genezareth bewegte sich sacht und rauschte gegen das Ufer. Ein plotzlicher Wind lie? das Schilf schwanken. Kitty Fremont wandte den Blick von Ari und sah beiseite.
Ein Zittern lief durch ihren Korper, als sie fuhlte, wie seine Hand ihre Schulter beruhrte. »Ihnen wird kalt«, sagte Ari und reichte ihr die Stola. Kitty legte sie um die Schultern. Lange sahen sie sich schweigend an.
Plotzlich stand Ari auf. »Mir scheint, die Barkasse kommt zuruck«, sagte er. »Wir mussen gehen.«
Als die Barkasse vom Ufer ablegte, verwandelte sich der See Genezareth plotzlich, wie Ari es vorausgesagt hatte, in ein wogendes Meer. Der Schaum brach uber den Bug herein und spruhte uber das Deck. Ari legte den Arm um Kittys Schultern und zog sie an sich, um sie vor dem Spruhregen zu schutzen. Wahrend der ganzen Fahrt uber den See stand Kitty mit geschlossenen Augen, den Kopf an seine Brust gelehnt, und horte den Schlag seines Herzens.
Hand in Hand gingen sie vom Pier zum Hotel. Unter der Weide, die ihre Zweige wie einen riesigen Schirm ausbreitete und bis in das Wasser des Sees hangen lie?, blieb Kitty stehen. Sie versuchte, zu sprechen, doch ihre Stimme versagte, und sie bekam kein Wort heraus.
Ari strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. Er ergriff sie sanft bei den Schultern, und die Muskeln seines Gesichts spannten sich, wahrend er sie an sich zog. Kitty hob ihm ihr Gesicht entgegen. »Ari«, flusterte sie, »ku? mich, bitte.«
Alles, was monatelang geschwelt hatte, loderte bei dieser ersten Umarmung flammend auf. Sie ku?ten sich wieder und wieder, Kitty pre?te sich an ihn und spurte die Kraft seiner Arme. Dann losten sie sich voneinander und gingen schweigend nebeneinander her zum Hotel.
Vor der Tur zu ihrem Zimmer blieb Kitty stehen, befangen und verwirrt. Ari wollte zu seinem Zimmer weitergehen, doch sie ergriff seine Hand und zog ihn an sich. Einen Augenblick lang standen sie sich wortlos gegenuber. Dann nickte Kitty ihm zu, wandte sich ab, ging rasch in ihr Zimmer und schlo? die Tur hinter sich.
Sie zog sich aus, ohne Licht zu machen, schlupfte in ein Nachthemd und ging zu dem Balkon ihres Zimmers, von wo sie das Licht in Aris Zimmer sehen konnte. Sie konnte seine Schritte horen. Das Licht ging aus. Kitty wich in die Dunkelheit zuruck. Im nachsten Augenblick sah sie ihn auf dem Balkon ihres Zimmers stehen.
Sie lief in seine Arme, drangte sich an ihn und hielt ihn umschlungen. Zitternd vor Sehnsucht. Seine Kusse bedeckten ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Wangen und ihren Hals, und sie erwiderte Ku? um Ku?, mit einer Leidenschaft und Unersattlichkeit, wie sie noch nie einen Mann geku?t hatte. Ari hob sie hoch, trug sie in seinen Armen zum Bett, legte sie darauf nieder und kniete sich neben sie.
Kitty war auf einmal verzagt. Sie krampfte ihre Hande in das Laken und wand sich schluchzend unter seinen Liebkosungen. Dann entzog sie sich heftig und unvermittelt seinen Armen und erhob sich taumelnd. »Nein«, sagte sie, nach Luft schnappend.
Ari erstarrte.
Kitty schossen die Tranen in die Augen, sie druckte sich mit dem Rucken gegen die Wand, um das Zittern zu uberwinden und sank dann auf einen Stuhl. Es dauerte eine Weile, bis das Beben nachlie? und ihr Atem ruhiger wurde. Ari stand vor ihr und sah sie wortlos an. »Sie mussen mich hassen«, sagte sie schlie?lich.
Ari sagte nichts. Sie blickte zu ihm hinauf und sah den verletzten Ausdruck seines Gesichts.
»Reden Sie, Ari, sagen Sie es. Sagen Sie irgend etwas.«
Er blieb stumm.
Kitty stand langsam auf und sah ihn an. »Ich will das nicht, Ari. Ich mag nicht, da? man mich einfach schwach macht und nimmt. Vermutlich lag es nur an dem Mondschein —.«
»Ich hatte wirklich nicht angenommen, da? ich einer widerspenstigen Jungfrau den Hof machte«, sagte er.
»Ari, bitte —.«
»Ich habe keine Zeit fur Spiele und Koseworte. Ich bin ein erwachsener Mann, und Sie sind eine erwachsene Frau.«
»Wie gut Sie es zu formulieren verstehen.«
»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich jetzt entfernen«, sagte er kuhl.
Kitty zuckte zusammen, als er die Tur mit einem Ruck geschlossen hatte. Lange stand sie an der Balkontur und sah auf das Wasser hinaus. Der See war bose, und der Mond verschwand hinter einer dunklen Wolke.
Kitty war wie betaubt. Warum war sie vor ihm geflohen? Noch nie hatte sie fur einen Mann ein so starkes Gefuhl gehabt, und noch nie hatte sie wie hier die Herrschaft uber sich selbst so vollig verloren. Sie war uberzeugt, da? Ari ben Kanaan kein ernstliches, tiefes Verlangen nach ihr hatte. Fur eine Nacht, ja, aber sonst brauchte er sie nicht, und noch nie hatte ein Mann sie so behandelt wie er.
Doch dann wurde ihr klar, da? es gerade ihr starkes Gefuhl fur ihn war, wovor sie geflohen war, diese Sehnsucht nach Ari, die imstande war, sie dazu zu bringen, in Palastina zu bleiben. Sie durfte es nie wieder so weit kommen lassen. Sie war entschlossen, mit Karen nach Amerika zuruckzukehren, und nichts sollte sie daran hindern! Sie war sich klar daruber, da? sie vor Ari Angst hatte; denn Ari konnte ihr gefahrlich werden. Falls er nur die geringsten Anzeichen dafur erkennen lie?, da? er sie wirklich liebte, dann wurde sie kaum die Kraft haben — doch der Gedanke an seine Kalte und Harte bestarkte sie in ihrem Entschlu?, fest zu bleiben, gab ihr die Sicherheit wieder und machte sie, seltsamerweise, gleichzeitig traurig.
Sie warf sich auf ihr Bett und fiel in einen Schlaf der Erschopfung, wahrend der Wind, der uber das Wasser herankam, an ihrem Fenster ruttelte.
Am nachsten Morgen war es windstill, und der See war wieder glatt. Kitty schlug die Decke zuruck, sprang aus dem Bett, und ihr fiel alles wieder ein. Sie errotete. Was geschehen war, erschien ihr jetzt nicht mehr so