schrecklich, doch sie war beschamt. Sie hatte eine Szene gemacht, und zweifellos hatte Ari das Ganze reichlich dramatisch und zugleich kindisch gefunden. Es war alles ihre Schuld gewesen; sie wollte es wiedergutmachen, indem sie sich mit ihm in aller Ruhe und mit aller Klarheit auseinandersetzte.
Sie zog sich rasch an und ging in den Fruhstucksraum hinunter, um auf Ari zu warten. Sie uberlegte sich die Worte, mit denen sie ihn um Entschuldigung bitten wollte.
So sa? sie eine halbe Stunde, trank ihren Kaffee und wartete. Ari kam nicht. Sie druckte die dritte Zigarette im Aschenbecher aus und ging durch die Halle zum Empfang.
»Haben Sie Mr. Ben Kanaan heute fruh gesehen?« fragte sie den Portier.
»Mr. Ben Kanaan ist um sechs Uhr weggefahren.«
»Hat er gesagt, wohin?«
»Mr. Ben Kanaan sagt nie, wohin er fahrt.«
»Vielleicht hat er irgendeine Nachricht fur mich hinterlassen?«
Der Portier drehte sich um und zeigte auf das leere Schlusselfach. »Ich sehe schon—ja, also — besten Dank.«
XI.
Dov Landau fand ein Zimmer in einem viertklassigen Hotel in der Jerusalemer Altstadt. Wie man ihm geraten hatte, begab er sich in das auf der Nablus-Stra?e gelegene Saladin-Cafe und hinterlie? dort seinen Namen und seine Hoteladresse zur Weiterleitung an Bar Israel.
Er versetzte die goldenen Ringe und Armbander, die er in Gan Dafna gestohlen hatte, und ging daran, sich in Jerusalem zu orientieren. Fur die Ghetto-Ratte und den einstigen Meisterdieb von Warschau war das eine Kleinigkeit. Innerhalb von drei Tagen kannte Dov jede Stra?e und jede Gasse in der Altstadt und den umliegenden Geschaftsvierteln. Mit seinen scharfen Augen und seinen flinken Handen brachte er genugend Wertgegenstande an sich, um seinen Lebensunterhalt damit bestreiten zu konnen. Sich durch die engen Ga?chen und die uberfullten Basare zu verdrucken, war fur ihn geradezu lacherlich einfach.
Einen gro?en Teil seines Geldes gab er fur Bucher und Zeichenmaterial aus. In den vielen Buchhandlungen der Jaffa-Stra?e suchte er nach Buchern uber Kunst, Architektur und Planzeichnen. Mit seinen Buchern und seinem Zeichenmaterial, ein paar getrockneten Fruchten und einigen Flaschen Limonade schlo? er sich in seinem Hotelzimmer ein und wartete darauf, da? sich die Makkabaer mit ihm in Verbindung setzten. Nachts arbeitete er bei Kerzenlicht. Von dem prachtigen Bild drau?en vor seinem Fenster, dem Blick auf den Felsendom und die Klagemauer, sah er nichts. Er las, bis ihm die Augen brannten und er nicht weiterlesen konnte. Dann legte er das Buch auf seine Brust, starrte zur Decke und dachte an Karen. Er hatte nicht geahnt, da? sie ihm so sehr fehlen wurde, und er hatte sich nicht vorstellen konnen, da? ihm die Sehnsucht nach ihr physischen Schmerz verursachen konnte. Karen war so lange in seiner Nahe gewesen, da? er vergessen hatte, wie es war, von ihr entfernt zu sein. Er erinnerte sich an jeden Augenblick, den er mit ihr erlebt hatte, an die Wochen in Caraolos, und an die Tage auf der Exodus, als sie neben ihm im Raum des Schiffes gelegen hatte. Er erinnerte sich daran, wie glucklich sie gewesen war und wie schon sie ausgesehen hatte an dem ersten Tage in Gan Dafna. Er dachte an ihr freundliches, ausdrucksvolles Gesicht, die sanfte Beruhrung ihrer Hand und den scharfen Ton ihrer Stimme, wenn sie bose war.
Zwei Wochen lang verlie? Dov sein Zimmer nur, wenn es unbedingt notig war. Am Ende der zweiten Woche brauchte er wieder etwas Geld und ging in die Stadt, um einige Ringe zu versetzen. Als er das Gebaude, in dem sich das Leihhaus befand, wieder verlassen wollte, sah er in der Dunkelheit neben dem Tor einen Mann stehen. Dov schlo? die Hand um den Griff seiner Pistole und ging weiter, bereit, bei dem geringsten Gerausch herumzufahren. »Stehenbleiben, nicht umdrehen«, befahl eine Stimme aus der Dunkelheit.
Dov blieb wie angewurzelt stehen.
»Du hast nach Bar Israel gefragt. Was willst du von ihm?«
»Sie wissen, was ich will.«
»Wie hei?t du?«
»Landau, Dov Landau.«
»Woher kommst du?«
»Aus Gan Dafna.«
»Wer hat dich geschickt?«
»Mordechai.«
»Wie bist du nach Palastina gekommen?«
»Mit der Exodus.«
»Geh weiter, hinaus auf die Stra?e, und sieh dich nicht um. Man wird sich mit dir in Verbindung setzen.«
Nachdem der Kontakt hergestellt war, wurde Dov unruhig. Er war kurz davor, alles hinzuschmei?en und nach Gan Dafna zuruckzukehren. Er hatte schreckliche Sehnsucht nach Karen. Er fing ein halbes Dutzend Briefe an sie an und zerri? alle wieder. Wir mussen Schlu? machen, sagte er sich immer wieder, wir mussen Schlu? machen.
Er lag in seinem Zimmer auf dem Bett und las. Die Augen fielen zu. Doch dann fuhr er wieder hoch und brannte neue Kerzen an; falls er einschlief und der alte schreckliche Alptraum wieder uber ihn kommen sollte, wollte er nicht in einem dunklen Zimmer aufwachen. Plotzlich klopfte es an der Tur. Dov sprang auf, nahm seine Pistole und stellte sich dicht neben die verschlossene Tur.
»Gut Freund«, sagte die Stimme von drau?en. Dov erkannte die Stimme des Mannes, der in der Dunkelheit mit ihm gesprochen hatte. Er machte die Tur auf. Niemand war zu sehen. »Dreh dich um und stell dich mit dem Gesicht zur Wand«, befahl die Stimme des Unsichtbaren. Dov gehorchte. Hinter sich spurte er die Anwesenheit von zwei Mannern. Die Augen wurden ihm verbunden, und zwei Handepaare fuhrten ihn die Treppe zu einem wartenden Wagen hinunter. Dov mu?te sich hinten auf den Boden legen, eine staubige Decke wurde uber ihm ausgebreitet; der Wagen fuhr los und entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit aus der Altstadt.
Dov konzentrierte sich darauf, herauszubekommen, wohin sie fuhren. Der Wagen bog mit kreischenden Reifen in die Konig-Salomon-Stra?e und fuhr die Via Dolorosa entlang zum Stephanstor. Das festzustellen war ein Kinderspiel fur Dov Landau, der sich in der Dunkelheit der Kanale unterhalb von Warschau auf hundert verschiedenen Wegen zurechtgefunden hatte. Der Fahrer schaltete einen niedrigeren Gang ein, um eine Steigung zu nehmen. Nach Dovs Schatzung mu?ten sie am Grab der Jungfrau vorbei zum Olberg fahren. Die Stra?e wurde flach, und Dov wu?te, da? sie auf dem Skopusberg waren und an der Hebraischen Universitat und dem Gebaudekomplex der Hadassa vorbeifuhren. Nach weiteren zehn Minuten Fahrt hielt der Wagen an, und Dov berechnete fast bis auf den Hauserblock genau, wo sie waren: im Sanhedriya-Viertel, in unmittelbarer Nahe der Grabmaler der Sanhedrin, der Mitglieder des Altestenrates im alten Israel.
Man fuhrte ihn in den verrauchten Raum des Hauses, wo man ihn aufforderte, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Er spurte die Anwesenheit von wenigstens funf oder sechs Leuten. Zwei Stunden lang wurde Dov ins Verhor genommen. Von allen Seiten wurden in schneller Folge zahllose Fragen an ihn gerichtet, bis er vor Nervositat zu schwitzen anfing. Dabei ging ihm allmahlich ein Licht auf. Durch ihren unfehlbaren Geheimdienst hatten die Makkabaer in Erfahrung gebracht, da? Dov ein ungewohnlich begabter Falscher war. Er wurde bei den Makkabaern dringend gebraucht. Die Leute, die ihn ausfragten, waren offenbar hohe Makkabaer, vielleicht sogar ihre fuhrendsten Gestalten. Schlie?lich schien man sich von Dovs Fahigkeiten und seiner Zuverlassigkeit hinreichend uberzeugt zu haben.
»Da vor dir ist ein Vorhang«, sagte eine Stimme. »Strecke deine Hande durch diesen Vorhang.«
Dov tat es. Eine seiner Hande wurde auf eine Pistole, die andere auf eine Bibel gelegt. Dann mu?te er den Schwur der Makkabaer nachsprechen:
»Ich, Dov Landau, gelobe hiermit, meinen Korper, meine Seele und mein ganzes Sein vorbehaltlos und uneingeschrankt dem Kampf der Makkabaer fur die Freiheit zu weihen. Jedem Befehl werde ich bedingungslos Gehorsam leisten. Ich werde mich der Autoritat unterwerfen, die uber mich zu bestimmen hat. Selbst wenn man mich zu Tode foltern sollte, werde ich niemals den Namen eines anderen Makkabaers oder die mir anvertrauten Geheimnisse verraten. Ich werde bis zum letzten Atemzug gegen die Feinde des judischen Volkes kampfen. Ich werde in diesem heiligen Kampfe nicht nachlassen bis zur Verwirklichung eines judischen Staates beiderseits des Jordans, auf den mein Volk ein geschichtliches Anrecht hat. Mein Wahlspruch soll sein: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Brandmal um Brandmal. Das alles schwore ich im Namen Abrahams, Isaaks und Jakobs, im Namen von Sara, Rebekka, Rachel und Lea, im Namen der Propheten und all der Juden, die man umgebracht hat, und aller meiner tapferen Bruder und Schwestern, die fur die Freiheit gestorben sind.«
Dov Landau wurde die Binde von den Augen genommen; die Kerzen der Menora, die vor ihm standen, wurden