»Akko ist eine rein arabische Stadt«, sagte Ari. »Das Gefangnis ist die starkste Festung, die die Englander in Palastina haben. Zeigen Sie mir Ihre Plane.«
Ben Mosche machte seinen Schreibtisch auf und holte ein Bundel Blaupausen heraus. Das ganze Gebiet von Akko war bis in alle Einzelheiten genau aufgezeichnet: Der Stadtgrundri?, die Zufahrtsstra?en und die Fluchtwege. Der Grundri? des Gefangnisses war, soweit Ari es beurteilen konnte, genau. Er mu?te von Leuten gemacht worden sein, die selbst langere Zeit in diesem Gefangnis gesessen hatten. Die Wachtturme, die Waffenkammer, die TelefonVermittlung, alles war exakt eingezeichnet.
Ari studierte den Angriffsplan, auf dem der genaue Zeitpunkt jeder einzelnen Phase angegeben war. Es war ein Meisterwerk.
»Nun, Ari, was halten Sie davon?«
»Alles ist einwandfrei — bis auf eins. Ich zweifle nicht daran, da? es Ihnen auf diese Weise gelingen wird, in das Gefangnis hineinzukommen und die Gefangenen herauszuholen. Doch die Flucht« — Ari schuttelte den Kopf —, »das haut nicht hin.«
»Wir sind uns daruber klar, da? die Chancen fur ein endgultiges Gelingen der Flucht sehr gering sind«, sagte Ben Mosche.
»Sie sind nicht gering«, sagte Ari, »sie sind gleich Null.«
»Ich wei? schon, was er vorschlagen wird«, sagte Nachum. »Er wird vorschlagen, da? wir mit der Hagana und den Kibbuzim zusammenarbeiten.«
»Genau das. Und wenn ihr das nicht tut, dann werdet ihr einen Haufen neuer Martyrer schaffen. Horen Sie, Ben Mosche, Sie sind ein mutiger Mann, aber Sie sind schlie?lich kein Idiot, der unbedingt den Heldentod sterben will. So, wie Sie die Sache da geplant haben, besteht eine Chance von bestenfalls zwei Prozent. Wenn Sie mir erlauben, bessere Fluchtplane auszuarbeiten, dann erhohen sich Ihre Chancen auf fifty-fifty.«
»Vorsicht«, sagte Nachum. »Die Rede geht ihm bedenklich glatt vom Munde.«
»Reden Sie weiter, Ari.«
Ari breitete den Angriffsplan auf dem Schreibtisch aus. »Ich schlage vor, da? Sie die fur den Aufenthalt im Gefangnis vorgesehene Zeit um funfzehn Minuten verlangern und diese zusatzliche Zeit dazu benutzen, um samtliche Gefangenen, die sich dort befinden, zu befreien. Die befreiten Haftlinge werden in zwanzig verschiedene Richtungen davonlaufen, und die Englander, die ihnen in ebenso viele Richtungen nachlaufen mussen, werden dadurch aufgesplittert und geschwacht.«
Ben Mosche nickte zustimmend.
»Unsere eigenen Leute sollten sich gleichfalls in kleine Gruppen aufteilen, und jede dieser Gruppen sollte sich in einer anderen Richtung von Akko entfernen. Ich werde Akiba mitnehmen, und ihr nehmt den Jungen mit.«
»Weiter«, sagte Nachum ben Ami, dem beim Zuhoren klargeworden war, da? Aris Vorschlage Hand und Fu? hatten.
»Was mich betrifft, so werde ich versuchen, nach Kfar Masaryk durchzukommen. Dort werde ich in einen anderen Wagen umsteigen, um die Verfolger abzuschutteln und um auf Umwegen zum Karmelberg sudlich von Haifa zu fahren. Ich habe zuverlassige Freunde in dem Drusendorf Daliyat el Karmil. Die Englander werden gar nicht auf den Gedanken kommen, dort oben Nachforschungen anzustellen.«
»Das klingt nicht schlecht«, sagte Nachum. »Auf die Drusen kann man sich verlassen — besser als auf gewisse Juden, die ich kenne.« Ari uberhorte die Beleidigung. »Die zweite Gruppe, die mit Dov Landau flieht, fahrt an der Kuste entlang nach Nahariya und teilt sich dort. Ich kann in einem halben Dutzend Kibbuzim in der Umgebung von Nahariya dafur sorgen, da? man die Fluchtlinge aufnimmt und verbirgt. Was Landau angeht, so mochte ich vorschlagen, da? er zum Kibbuz Hamischmar an der libanesischen Grenze gebracht wird. Ich war dabei, als Hamischmar gegrundet wurde; es gibt dort viele Hohlen. Dein Bruder David war im zweiten Weltkrieg mit mir dort. Wir haben Hamischmar jahrelang als Unterschlupf fur unsere fuhrenden Manner verwendet. Landau wird dort absolut sicher sein.« Ben Mosche sa? unbeweglich wie eine Statue und sah auf seine Plane. Er war sich klar, da? das geplante Unternehmen ohne diese Verstecke nicht mehr als ein dramatisches Himmelfahrtskommando war. Mit Aris Hilfe bestand immerhin eine gewisse Moglichkeit, davonzukommen. Sollte er es riskieren, mit der Hagana zusammenzuarbeiten?
»Also gut, Ari, machen Sie weiter. Zeichnen Sie die Fluchtplane auf, die Sie entwickelt haben. Ich traue Ihnen nur, weil Sie den Namen Ben Kanaan tragen.«
Noch vier Tage bis zum Tage X.
Vier Tage trennten Akiba und Dov Landau noch von dem Strick des Henkers. Der Untersuchungsausschu? der UNO flog von Lydda nach Genf ab. Uber Palastina senkte sich die bedrohliche Stille vor dem Sturm. Die Demonstrationen der Araber horten auf. Die Aktivitat der Makkabaer horte gleichfalls auf. Jerusalem war ein Feldlager, in dem es von britischen Polizisten wimmelte.
Noch drei Tage bis zum Tage X.
Der englische Premierminister richtete an die beiden zum Tode durch den Strang Verurteilten einen letzten, verzweifelten Appell, das Gnadengesuch zu unterschreiben. Akiba und der Kleine Giora lehnten ab.
Der Tag X.
Markttag in Akko. Bei Tagesanbruch stromten aus zwanzig Dorfern in Galilaa Massen von Arabern in die Stadt. Der Marktplatz fullt sich mit Eselskarren und fahrenden Handlern. Auf den Stra?en drangen sich die Passanten.
Orientalische und afrikanische Juden, die Mitglieder der Makkabaer waren, mischen sich, als Araber verkleidet, unter die Menge, die zum Markt nach Akko stromt. Alle, ob Frau oder Mann, tragen unter ihren langen Gewandern Sprengstoff, Sprengkapseln, Drahte, Zunder, Handgranaten oder leichte Waffen.
Elf Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Zeitpunkt X. Zweihundertfunfzig Makkabaer und funfzig Makkabaerinnen, alle als Araber verkleidet, befinden sich jetzt unter der Menge, die sich in der Nahe des Gefangnisses um die Stande des Marktplatzes drangt. Elf Uhr funfzehn. Noch eine Stunde und funfundvierzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Wachablosung im Gefangnis von Akko. Vier Angehorige der Wachmannschaft, die mit den Makkabaern zusammenarbeiten, stehen auf dem Sprung.
Elf Uhr drei?ig. Noch eine Stunde und drei?ig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Au?erhalb von Akko, auf dem Napoleonsberg, versammelt sich eine zweite Gruppe von Makkabaern. Drei Lastwagen mit Leuten in englischen Uniformen fahren nach Akko hinein und parken auf der Mole in der Nahe des Gefangnisses. Die »Soldaten« bilden rasch kleine Gruppen von jeweils vier Mann und gehen durch die Stra?en, als ob sie sich auf einem Streifengang befanden. Es sind ohnehin so viele Soldaten unterwegs, da? diese zusatzlichen hundert Soldaten uberhaupt nicht auffallen.
Zwolf Uhr mittags. Noch eine Stunde bis zum Zeitpunkt X.
Ari ben Kanaan, in der Uniform eines britischen Majors, kam in einem englischen Dienstwagen angefahren. Sein Fahrer parkte den Wagen am westlichen Ende des Gefangnisses auf der Mole. Ari ging zu Fu? zu der Schanze am nordlichen Ende der Mole und lehnte sich gegen eine verrostete Kanone aus turkischer Zeit. Er steckte sich eine Zigarette an und sah zu, wie das Wasser vor ihm gegen die bemoosten Steine der Mole schlug.
Funf nach zwolf. Noch funfundfunfzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Die Laden schlie?en einer nach dem andern fur die Mittagspause. Die Araber, die in den Cafes sitzen, dosen vor sich hin, und die englischen Soldaten schleichen ermattet durch die stickige Hitze. Zwolf Uhr und zehn Minuten. Noch funfzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Ein Muselmann klettert die vielen Stufen der Wendeltreppe des Minaretts hinauf. Seine Stimme klingt durch die mittagliche Stille, und die Mohammedaner versammeln sich in der gro?en Moschee mit der wei?en Kuppel und in dem Hof davor und knien, das Gesicht nach Mekka gewandt, nieder zum Gebet.
Zwolf Uhr und zwolf Minuten. Noch achtundvierzig Minuten bis zum Zeitpunkt X.
Die Hitze lahmt die Araber und auch die englischen Soldaten. Die Makkabaer begeben sich zu den verschiedenen Treffpunkten. Zu zweit oder zu dritt gehen sie scheinbar ziellos durch die engen, schmutzigen Stra?en.
Die erste Gruppe versammelt sich beim Abu-Christos-Cafe.
Eine zweite, gro?ere Gruppe versammelt sich bei der Moschee. Ihre Mitglieder lassen sich am Rande des riesigen Hofes zwischen den betenden Arabern gleichfalls wie zum Gebet auf die Knie nieder.
Eine dritte Gruppe versammelt sich auf dem Khan, einem gro?en offenen Platz, der seit mehr als hundert Jahren als Rastort fur die Karawanen dient. Hier mischen sich die Makkabaer unter die Kamele, die Esel und die Hunderte von Arabern, die zum Markt nach Akko gekommen sind und jetzt auf der Erde hocken und ausruhen.