Kitty verlie? das Buro und ging den Korridor entlang. Sie war in Gedanken mit den Ereignissen beschaftigt, die eine ungeheure Aufregung in der Welt ausgelost hatten. Von den Makkabaern waren zwanzig getotet und weitere funfzehn gefangengenommen worden.
Niemand wu?te, wieviel Verwundete sich irgendwo verborgen hielten. Ben Mosche hatte den Tod gefunden. Es schien ein hoher Preis zu sein fur zwei Menschenleben. Andererseits ging es eben nicht nur um irgendwelche Menschenleben. Der Uberfall auf das Gefangnis hatte auf die Moral der Englander und ihr Bestreben, in Palastina zu bleiben, eine verheerende Wirkung ausgeubt.
Kitty blieb vor der Tur zu Jordanas Buro stehen. Der Gedanke, ihr gegenubertreten zu mussen, war ihr sehr unangenehm. Doch dann klopfte sie an und trat ein. Jordana hob den Kopf und sah sie mit kalten Augen an.
»Ich hatte Sie gern gefragt, Jordana — wissen Sie zufallig, ob es Dov Landau gestern gelungen ist, zu entkommen? Sie verstehen, da Karen so sehr an dem Jungen hangt, ware es fur sie eine sehr gro?e Beruhigung —.«
»Ich wei? nichts daruber.«
Kitty wollte bereits gehen, doch dann drehte sie sich noch einmal um. »War Ari eigentlich an der Sache beteiligt?«
»Ari gibt mir keine Liste der Aktionen, an denen er teilnimmt.«
»Ich dachte, Sie wu?ten es vielleicht.«
»Woher sollte ich es wissen? Es war eine Aktion der Makkabaer.«
»Nun, es ist mir bekannt, da? euch immer Mittel und Wege zur Verfugung stehen, um Dinge zu erfahren, die ihr zu wissen wunscht.«
»Selbst wenn ich es wu?te, wurde ich es Ihnen nicht erzahlen, Mrs. Fremont. Sehen Sie, ich mochte nicht, da? Sie irgend etwas daran hindern soll, rechtzeitig auf dem Flugplatz zu sein und sich an Bord der Maschine zu begeben, mit der Sie Palastina verlassen wollen.«
»Ich fande es sehr viel netter, wenn wir uns in Freundschaft getrennt hatten, aber ich habe nicht den Eindruck, als ob Sie mir dafur auch nur die geringste Chance geben wollten.«
Kitty wandte sich rasch ab, verlie? Jordanas Buro und ging durch den Haupteingang nach drau?en. Vom Sportplatz her, auf dem ein Fu?ballspiel stattfand, konnte sie die Kinder larmen horen. Drau?en auf der Grunflache vor den Verwaltungsgebauden spielten einige der jungeren Kinder, einige der alteren lagen auf dem Rasen, in ihre Bucher vertieft.
Das ganze Jahr uber bluhten in Gan Dafna die Blumen, mu?te Kitty denken, und immer war die Luft von ihrem Duft erfullt.
Kitty ging die Stufen der Treppe vor dem Verwaltungsgebaude hinunter und uberquerte den Rasen. Sie war sehr bedruckt, als sie auf die Krankenabteilung zuging. Es fiel ihr schwerer, von Gan Dafna fortzugehen, als sie gedacht hatte.
In ihrem Buro machte sie sich daran, die Karten der von ihr angelegten Krankenkartei durchzusehen.
Eigentlich sonderbar, dachte sie; als sie ihre Tatigkeit im Waisenheim von Saloniki beendet hatte, war dieses Gefuhl in ihr nicht so stark gewesen. Auch in Gan Dafna hatte sie nie wirklich versucht, ein »Freund« zu werden. Warum drang jetzt alles auf einmal so auf sie ein?
Vielleicht lag es daran, da? dieser Abschied das Ende eines Abenteuers war. Sie wurde Ari ben Kanaan vermissen, und sie wurde noch lange an ihn denken, vielleicht ihr ganzes Leben lang. Aber mit der Zeit mu?te doch wieder alles normal und vernunftig werden, und eines Tages wurde sie Karen all das geben konnen, was sie sich fur das Madchen wunschte. Karen sollte auch wieder mit ihrem Tanzunterricht anfangen, den sie damals so plotzlich abbrechen mu?te. Das Bild Ari ben Kanaans wurde mit der Zeit verblassen, genau wie die Erinnerung an Palastina.
Kitty horte, wie die Tur ihres Buros geoffnet wurde. Sie drehte sich um — und es verschlug ihr den Atem. Ein Araber stand in der Tur. Sein Aufzug war sonderbar. Er trug einen schlechtsitzenden westlichen Kammgarnanzug, dazu auf dem Kopf einen roten Fez, der mit einem wei?en Tuch umwickelt war. Sein schwarzer Schnurrbart war lang und an den Enden zu scharfen Spitzen gezwirbelt.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte der Mann. »Darf ich hereinkommen? «
»Bitte«, sagte Kitty, die uberrascht war, ihn englisch sprechen zu horen. Sie nahm an, da? er von einem Dorf in der Nahe kam. Wahrscheinlich wollte er melden, da? irgend jemand krank war.
Der Araber kam herein und machte die Tur hinter sich zu. »Sie sind Mrs. Fremont?«
»Ja.«
»Mein Name ist Mussa. Ich bin ein Druse. Wissen Sie Bescheid uber die Drusen?«
Kitty erinnerte sich dunkel daran, gehort zu haben, da? die Drusen eine mohammedanische Sekte waren, deren Angehorige in Dorfern sudlich von Haifa auf dem Karmelberg lebten und da? sie den Juden gegenuber loyal waren.
»Sind Sie nicht reichlich weit von zu Hause fort?« fragte sie.
»Ich bin Angehoriger der Hagana.«
Kitty sprang vom Stuhl hoch. »Sie kommen wegen Ari!« sagte sie. »Ja, er ist in Daliyat el Karmil untergetaucht, dem Dorf, in dem ich wohne. Er hatte die Fuhrung des Uberfalls auf das Gefangnis in Akko. Er bittet sie, zu ihm zu kommen.«
Kittys Herz schlug wild.
»Er ist schwer verwundet«, sagte Mussa. »Werden Sie kommen?« »Ja«, sagte sie.
»Nehmen Sie keine Arzttasche mit. Wir mussen vorsichtig sein. Uberall sind englische Stra?enkontrollen, und wenn man Arzneien findet, wird man Verdacht schopfen. Ari sagt, Sie sollen den Wagen mit Kindern volladen. Morgen ist bei uns im Dorf eine Hochzeit. Wir sagen den Englandern, da? die Kinder zu dem Fest fahren. Ich habe einen Lastwagen. Holen Sie moglichst rasch funfzehn Kinder zusammen und veranlassen Sie sie, Wolldecken und Zeltplanen mitzunehmen.«
»Wir konnen in zehn Minuten fahren«, sagte Kitty und begab sich eilig in das Buro von Dr. Liebermann.
Die Entfernung von Gan Dafna bis zu Mussas Dorf betrug achtzig Kilometer. Die Strecke bestand gro?tenteils aus schmalen Gebirgsstra?en, und Mussas alter Kasten kam nur langsam voran.
Die Kinder, die hinten sa?en, waren entzuckt uber den unerwarteten Ausflug und sangen laut, wahrend der Wagen durch die Berge ratterte. Nur Karen, die mit Kitty vorne sa?, wu?te Bescheid, um was es sich bei diesem Ausflug handelte.
Kitty versuchte, nahere Einzelheiten aus Mussa herauszuholen. Alles, was sie erfahren konnte, war, da? Ari vor vierundzwanzig Stunden am Bein verwundet worden war, nicht laufen konnte und gro?e Schmerzen hatte. Was mit Dov Landau war, wu?te Mussa nicht, und da? Akiba tot war, verschwieg er.
Entgegen Mussas Rat, nichts mitzunehmen, hatte Kitty einen kleinen Kasten fur Erste Hilfe gepackt mit Sulfonamid, Jod und Mullbinden, der im Handschuhfach unter dem Armaturenbrett belanglos genug wirken wurde.
Sie hatte in ihrem Leben bisher nur zweimal wirklich tiefe Angst empfunden. Das erstemal in Chikago, als sie wahrend der dreitagigen Krise ihrer kleinen Tochter Sandra Tag und Nacht im Wartezimmer der Polioabteilung des Kinderkrankenhauses gesessen und fast einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Das zweitemal, als sie im Dom-Hotel auf neue Nachrichten uber den Hungerstreik auf der Exodus gewartet hatte.
Und jetzt empfand sie wieder Angst. Sie horte nicht, wie die Kinder hinten auf dem Wagen sangen, und bemerkte auch nicht, wie Karen sich bemuhte, ruhig zu bleiben. Sie war wie betaubt vor Angst.
Eine Stunde verging, eine zweite und eine dritte. Die Nervenanspannung hatte Kitty an den Rand ihrer Krafte gebracht. Sie legte den Kopf auf Karens Schulter und schlo? die Augen.
Auf den Stra?en war viel britisches Militar unterwegs. Kurz hinter Kfar Masaryk wurde ihr Wagen von einer Stra?enkontrolle angehalten.
»Das sind Kinder aus Gan Dafna«, sagte Mussa. »Sie fahren zu einer Hochzeit, die morgen bei uns in Daliyat gefeiert wird.«
»Alle aussteigen«, befahlen die Englander.
Der Wagen wurde grundlich durchsucht. Samtliche Schlafrollen der Kinder wurden aufgemacht, zwei davon mit Messern aufgeschlitzt. Die Unterseite des Wagens wurde inspiziert und der Mantel des Ersatzreifens abmontiert. Die Englander sahen unter die Motorhaube und machten bei den Kindern Leibesvisitation. Die Kontrolle dauerte fast eine Stunde.
Am Fu?e des Karmelberges wurden sie ein zweites Mal kontrolliert. Kitty war vollig erschopft, als Mussa