»Geben Sie mir einen Jeep und eine Nacht Zeit, um die Strecke abzufahren.«
Avidan machte sich Sorgen. In der ersten Zeit der Hagana war es fur ihn jedesmal schmerzlich, wenn er einen Verlust gehabt hatte. Es war ihm nahegegangen wie der Verlust eines Sohnes oder einer Tochter. Jetzt, im Krieg, gingen die Verluste der Juden in die Tausende, und fur ein kleines Land war das eine verheerende Zahl. Die meisten dieser Todesopfer, Manner wie Frauen, gehorten zur Elite der jungen Generation. Keine Nation, gleichgultig, wie gro? oder wie klein, konnte es sich leisten, das Leben von Leuten wie David ben Ami leichtfertig aufs Spiel zu setzen, mu?te Avidan denken. Vielleicht bildete David sich nur ein, Kenntnis von einer Stra?e nach Jerusalem zu haben, weil er wollte, da? sie existierte. »Einen Jeep und vierundzwanzig Stunden«, bat David.
Avidan sah Ben Zion an. Altermann schuttelte den Kopf. Was David vorhatte, schien undurchfuhrbar. Der Gedanke an Jerusalem bedruckte jedes Herz. Jerusalem war das eigentliche Zentrum, der lebendige Kern des Judentums. Dennoch — Ben Zion fragte sich, ob es nicht von Anfang an Wahnsinn gewesen sei, die Stadt halten zu wollen.
David sah mit brennenden Augen von Avidan zu Ben Zion. »Ihr mu?t mir eine Chance geben!« rief er heftig.
Es klopfte. Altermann ging an die Tur und nahm eine Meldung entgegen, die er Ben Zion reichte. Das Blut wich aus dem Gesicht des Generalstabschefs. Er reichte die Meldung an Avidan weiter.
Keiner der Anwesenden hatte Avidan jemals fassungslos gesehen; doch jetzt begann seine Hand zu zittern, Tranen stiegen ihm in die Augen.
»Soeben hat die Altstadt kapituliert«, sagte er. Seine Stimme war kaum zu horen.
»Nein!« rief Altmann.
Ben Zion ballte die Hande zur Faust. »Ohne Jerusalem gibt es keine judische Nation!« stie? er zwischen den Zahnen hervor. Er wandte sich um. »Fahren Sie, David — finden Sie einen Weg nach Jerusalem!«
Als Moses mit den Kindern Israels an das Ufer des Roten Meeres kam, da fragte er nach einem Mann, dessen Glaube an die Allmacht Gottes so fest war, da? er bereit sein werde, als erster ins Meer zu gehen. Der Mann, der damals vortrat, hie? Nachschon.
Und »Nachschon« wurde jetzt der Deckname fur das gewagte Unternehmen Ben Amis.
Bei Einbruch der Dunkelheit startete David in der sudlich von Tel Aviv gelegenen Stadt Rechovot und fuhr nach Judaa. Am Fu? der Berge, kurz vor Latrun, bog er von der Stra?e in die Wildnis der steilen, steinigen Schluchten und Wadis ab. David ben Ami wurde auf seinem Weg von einer leidenschaftlichen Besessenheit vorangetrieben, doch seine Leidenschaft wurde durch das Bewu?tsein von der Schwierigkeit und Wichtigkeit seiner Aufgabe gezugelt und von seiner genauen Kenntnis des Landes kontrolliert.
David fuhr mit gedrosseltem Motor und im ersten Gang langsam und vorsichtig, als er in die Nahe von Latrun kam. Die Gefahr, einer Patrouille der Legion zu begegnen, war gro?.
Seine Aufmerksamkeit verscharfte sich noch, als er in der Ferne das Fort sah. Langsam steuerte er das Fahrzeug einen steilen Hang hinunter. Er war auf der Suche nach der vom Schutt der Jahrtausende bedeckten Romerstra?e. An einer Stelle, wo zwei Wadis aufeinanderstie?en, hielt er an, stieg aus und kratzte mehrere Steine hervor. Ihre Struktur gab ihm die Bestatigung, da? sich die Stra?e hier befand. Nachdem er erst einmal die allgemeine Richtung des Marschweges der romischen Legionen festgestellt hatte, war es ihm moglich, sich auf diesem Weg mit gro?erer Geschwindigkeit vorwartszubewegen.
David ben Ami fuhr im Bogen um Latrun herum, sich und seinem Fahrzeug das Au?erste abverlangend. Immer wieder stellte er den Motor ab und sa? unbeweglich, um auf ein feindliches Gerausch zu lauschen, das er gehort zu haben meinte. Oftmals kroch er auf Handen und Knien uber den Boden, um in der Dunkelheit die Richtung des Weges durch die trockenen, felsigen Wadis zu ertasten. Die sechzehn Kilometer schienen endlos. Die Nacht verging zu schnell, und die Gefahr, auf eine arabische Patrouille zu sto?en, wurde immer gro?er.
Ben Zion und Avidan, die die ganze Nacht uber gewartet hatten, waren bei Morgengrauen mude und voller Sorge. Davids Wagnis hielten sie fur einen sinnlosen Versuch, und in ihrem Innern waren sie davon uberzeugt, da? sie ihn nie wieder sehen wurden.
Das Telefon klingelte. Avidan hob den Horer ab, und sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an.
»Die Funkstelle ruft an«, sagte er zu Ben Zion. »Sie haben eben einen Funkspruch aus Jerusalem bekommen.«
»Inhalt?«
»J—35—8.«
Ben Zion schlug eine Bibel auf und begann ungeduldig darin zu blattern. Dann stie? er einen langen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Stelle fand. »Jesia, Kapitel funfunddrei?ig, Vers acht: Und es wird daselbst eine Bahn sein und ein Weg. Es wird da kein Lowe sein, und wird kein rei?end Tier drauftreten noch daselbst gefunden werden, sondern man wird frei sicher daselbst gehen.«
Der erste Schritt auf dem Weg des Unternehmens »Nachschon« war getan: David ben Ami hatte den Weg gefunden, auf dem Latrun umgangen werden konnte! Es bestand wieder Hoffnung fur Jerusalem.
Tausende von Freiwilligen wurden in Jerusalem zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Heimlich brachen sie auf und stromten aus der Stadt, um mit ihren Handen einen Weg durch die Wildnis zu bahnen, langs der Route, die David gefunden hatte. David kehrte nach Tel Aviv zuruck, von wo sich eine zweite Gruppe freiwilliger Arbeiter aufmachte, die auf der anderen Seite zu bauen anfing. Die beiden Arbeitskommandos hielten sich bei Tage verborgen und arbeiteten nachts, direkt vor den Wachen der Arabischen Legion in Latrun. Sie arbeiteten fieberhaft und schweigend. Das gesamte Erdreich mu?te Sack fur Sack auf dem Rucken weggeschleppt werden. Durch die Wadis und Schluchten arbeiteten sich die beiden Gruppen Schritt fur Schritt die alte Romerstra?e entlang aufeinander zu. David ben Ami erbat seine Versetzung nach Jerusalem; sie wurde ihm gewahrt.
Jordana hatte sich die ganze Zeit, seit sie in Tel Aviv Abschied von David genommen hatte, in einem Zustand hochgradiger Nervositat befunden. Sie kehrte nach Gan Dafna zuruck, wo ungeheure Arbeit zu leisten war, um die zerstorte Siedlung wiederaufzubauen. Die meisten Gebaude lagen in Trummern. Die jungeren Kinder, die man damals evakuiert hatte, waren inzwischen zuruckgekommen. Kittys Bungalow hatte nur geringfugigen Schaden erlitten. Jordana war mit Kitty und Karen dort eingezogen. Zwischen den beiden Frauen hatte sich eine herzliche Freundschaft entwickelt.
Kitty konnte nicht ubersehen, in welchem Zustand sich Jordana befand, als sie von Tel Aviv zuruckkam, obwohl Jordana versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Eines Abends, zwei Wochen nach dem Abschied von David, sa? sie mit Kitty im Speiseraum, um noch eine Kleinigkeit zu essen und einen Tee zu trinken. Wahrend Kitty sprach, wurde Jordana plotzlich bla?, stand auf und rannte hinaus. Kitty lief ihr nach und erreichte sie gerade noch, ehe sie zu Boden sank. Kitty fing sie auf und brachte sie mit Muhe in ihr Buro, legte sie auf das Feldbett und flo?te ihr mit Gewalt einen Schluck Cognak ein. Es dauerte zehn Minuten, bis Jordana wieder zu sich kam. Sie richtete sich benommen auf.
»Was war los?« fragte Kitty.
»Ich wei? nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ich horte Ihnen zu, aber plotzlich konnte ich Ihre Stimme nicht mehr horen und auch Ihr Gesicht nicht mehr sehen. Mir wurde schwarz vor den Augen, und es durchfuhr mich kalt.«
»Erzahlen Sie weiter.«
»Ich — ich horte David schreien — es war entsetzlich.«
»Also, jetzt horen Sie mal zu, meine Dame. Ihre Nerven sind kurz vorm Zerrei?en. Ich mochte, da? Sie ein paar Tage ausspannen. Gehen Sie nach Yad El zu Ihrer Mutter —«
Jordana sprang auf. »Nein!« sagte sie.
»Setzen Sie sich!« fuhr Kitty sie an.
»Das ist ja alles Unsinn. Ich benehme mich einfach unmoglich.« »Das ist eine ganz normale Reaktion. Sie waren nicht in einem solchen Zustand, wenn Sie sich ab und zu ein wenig Luft gemacht und ein wenig geheult hatten, statt zu versuchen, alles krampfhaft zu unterdrucken.«
»David ware entsetzt, wenn er wu?te, wie ich mich benehme.« »Horen Sie doch auf damit, Jordana. Zum Teufel mit Ihrem SabreStolz. Ich gebe Ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel, und dann bringen wir Sie ins Bett.«
»Nein!« sagte Jordana und lief hinaus.
Kitty seufzte resigniert. Was sollte man mit einem Madchen anfangen, das der Meinung war, jede Au?erung einer Gefuhlsregung werde von den anderen als Schwache ausgelegt?
Drei Tage nach diesem Zwischenfall kam Kitty eines Abends, nachdem sie Karen zu Dov geschickt hatte, in ihren Bungalow. Jordana arbeitete an Berichten und schien ihr Eintreten gar nicht bemerkt zu haben. Kitty nahm auf