FUNFTES BUCH
MIT FLUGELN WIE ADLER
Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, da? sie auffahren mit Flugeln wie Adler, da? sie laufen und nicht matt werden, da? sie wandeln und nicht mude werden.
JESAJA
I.
Der gesamte Maschinenpark der Arctic Circle Airways in Nome, Alaska, bestand aus drei ausrangierten Transportmaschinen der U.S. Army, die Stretch Thompson auf Kredit gekauft hatte.
Stretch war wahrend des Krieges als Soldat in Alaska gewesen. Er galt als ein junger Mann, dessen Phantasie unerschopflich war, wenn es sich darum handelte, Mittel und Wege zu finden, um sich vor ehrlicher Arbeit zu drucken. Die Nachte in Alaska waren lang, und Stretch Thompson hatte viel Zeit, nachzudenken. Die meiste Zeit dachte er daruber nach, wie man den ungenutzten Reichtum von Alaska ausbeuten konne, ohne zu arbeiten. Je langer die Nachte wurden, desto eifriger dachte Stretch nach. Eines Nachts hatte er es: Krebse.
An der ganzen Kuste von Alaska wimmelte es von Konigskrebsen, die bisher noch niemand in ihrer Ruhe gestort hatte. Es waren Tiere, die teilweise einen Durchmesser von drei?ig bis vierzig Zentimetern erreichten. Es mu?te doch mit dem Teufel zugehen, wenn man das amerikanische Publikum mit ein bi?chen Unternehmungsgeist nicht dazu bringen konnte, sich nach diesen Krebsen die Finger zu lecken. Innerhalb eines Jahres wurde er daraus eine ebenso begehrte Delikatesse machen wie Hummer, Schildkroten oder Muscheln. Man konnte die riesigen Schalentiere in Eis verpackt per Flugzeug in die Vereinigten Staaten bringen. Eifrige Einzelhandler wurden ihm die Ware aus den Handen rei?en. Er wurde reich werden, reich und beruhmt: Stretch Thompson, der Konigskrebsekonig.
Die Sache klappte nicht ganz so, wie Stretch sie sich gedacht hatte. Offenbar war die menschliche Rasse noch nicht genugend entwickelt, um den richtigen Sinn fur seine Krebse zu haben. Die Kosten fur ein Flugzeug, das Benzin und den Piloten schienen immer etwas mehr auszumachen als das, was er an den Krebsen verdiente. Aber Stretch war kein Mann, der die Flinte ins Korn warf. Mit geschickter Buchfuhrung und kesser Schnauze verstand er es, sich seine Glaubiger vom Halse zu halten. Er war nun einmal Inhaber einer Airline, und er blieb es auch. Irgendwie gelang es ihm, die drei Maschinen der Arctic Circle in Gang zu halten. Jedesmal, wenn ihm das Wasser bis an den Hals stieg, kam irgendeine gutbezahlte Fracht, die ihn uber die Runden brachte.
Der einzige dauerhafte Aktivposten in Stretch Thompsons Rechnung war sein erster und gelegentlich einziger Pilot, Fester J. MacWilliams, genannt »Tex« — weil er aus Texas war. Foster J. war, wie Stretch es ausdruckte, »der verdammt beste Chefpilot, den irgendeine verdammte Fluglinie jemals gehabt hatte«. Der Ruf, der Foster J. MacWilliams vorausging, war ungewohnlich. Niemand in Nome hatte Lust, mit ihm daruber zu wetten, da? er mit einer C-47 im dicksten Schneesturm auf dem schmalen Ende eines Eisberges nicht landen konne, dazu in betrunkenem Zustand. Tatsachlich hatte Stretch mehrmals versucht, genugend Leute zusammenzubekommen, die dagegen hielten, damit sich die Sache auch lohne; aber irgendwie kam immer irgend etwas dazwischen — entweder lie? der Schneesturm nach, oder es gelang Foster nicht, richtig besoffen zu werden.
MacWilliams war ein Vagabund. Und er war ein begeisterter Flieger. Er hatte nichts fur zahme Sachen ubrig, etwa mit erstklassigen Maschinen nach festem Fahrplan bestimmte Strecken abzufliegen. Viel zu langweilig. Ihm machte es nur Spa?, wenn ein Risiko dabei war, und in diesem Punkt kam er bei der Arctic Circle auf seine Kosten.
Eines Tages kam er in die Bretterbude am Ende der Rollbahn, die gleichzeitig das Buro, die Flugleitung und die Wohnung von Stretch Thompson darstellte.
»Tag, Stretch«, sagte er. »Eine Saukalte heute mal wieder.«
Stretch sa? da und machte ein Gesicht wie eine Katze, die eben den Kanarienvogel der Familie gefressen hat. »Hattest du nicht Lust, Foster«, sagte er, »deine Tatigkeit in ein warmeres Klima zu verlegen und deine gesamte Lohnung auf einmal ausgezahlt zu bekommen?«
»La? deine unangebrachten Witze.«
»Nein, Tex, ganz im Ernst. Du ahnst es nicht —.«
»Was denn?«
»Rate mal.«
Foster zuckte die Schultern. »Du hast den Laden verkauft.«
»So ist es.«
Bester blieb der Mund offenstehen. »Und wem hast du die Klamotten angedreht?«
»Ich habe die Leute nicht nach ihrem Lebenslauf gefragt. Ich stellte fest, ihr Geld war gut — und das genugte mir, sagte das Madchen.« »Ich werd' verruckt. Aber das ist prima, Stretch, denn die Sache hier oben wurde mir allmahlich sowieso langweilig. Was meinst du denn, wieviel du mir schuldest?«
»Mit der Zulage, die ich dir gebe, ungefahr viertausend.«
Fester J. MacWilliams stie? einen leisen Pfiff aus. »Das reicht fur eine Menge Schnaps, genug, um auf der ganzen Reise bis nach Sudamerika nicht einmal nuchtern zu werden. Das ist namlich meine nachste Station, Stretch. Ich will bei einer von diesen sudamerikanischen Firmen anheuern. Wie ich hore, bezahlen die einem schweres bares Geld, wenn man Dynamit uber die Anden schaukelt.«
»Die Sache hat allerdings einen Haken«, sagte Stretch.
»Hatte ich mir beinah schon gedacht.«
»Wir mussen die drei Maschinen bei dem neuen Eigentumer abliefern. Ich habe zwei Jungens angeheuert, die die Nummer Eins und die Nummer Zwei hinfliegen—und jetzt finde ich keinen Dritten.«
»Du meinst wohl, da? es au?er mir niemanden gibt, der idiotisch genug ist, die Nummer Drei zu fliegen. Geht in Ordnung. Und wo soll ich die Kiste abliefern?«
»In Israel.«
»Wo?«
»Israel.«
»Nie gehort.«
»Ich suchte auch gerade auf der Karte danach, als du 'reinkamst.«
Stretch Thompson und Fester J. MacWilliams suchten kreuz und quer auf der Weltkarte. Als sie es nach einer halben Stunde noch immer nicht gefunden hatten, schuttelte Tex den Kopf und sagte: »Du, Stretch, mir scheint, da hat dir einer einen Baren aufgebunden.« Beide begaben sich nach Nome und fragten in den verschiedenen Kneipen, wo dieses Israel wohl sein konnte. Der eine oder andere hatte irgend etwas daruber gehort, aber Genaues wu?te niemand. Stretch begann trotz der Kalte allmahlich der Schwei? auszubrechen, bis schlie?lich jemand vorschlug, sie sollten doch mal den Bibliothekar wecken.
»Das ist Palastina!« sagte der Bibliothekar wutend. »Und Mitternacht ist keine Zeit, mich herauszutrommeln.«
Sie suchten erneut auf der Karte, und schlie?lich fanden sie es. »Teufel auch, Stretch«, sagte Fester und schuttelte bedenklich den Kopf. »Das ist ja kleiner als ein mittlerer Eisberg. Wenn man da nicht verdammt genau aufpa?t, fliegt man glatt daruber weg.«
Drei Wochen spater landete Fester J. MacWilliams mit der Maschine Nummer Drei der Arctic Circle Airways auf dem Flugplatz Lydda. Stretch Thompson, der eine Woche fruher geflogen war, nahm ihn in Empfang und fuhrte ihn in ein Buro, an dessen Tur ein Schild mit der Aufschrift hing: PALESTINE CENTRAL AIRWAYS, S. S. THOMPSON, GENERAL MANAGER.
»Freu' mich riesig, dich zu sehen, alter Junge! Na, und wie war der Flug?«
»Oh, prima. Ja, Alter, wenn du mir jetzt vielleicht meinen ruckstandigen Lohn auszahlen konntest — ich will mit der nachsten Gelegenheit weiter nach Paris. Ich hab' da eine ganz kesse Sache aufgetan und noch einen Monat Zeit, bevor ich nach Rio gehe.« »Aber sicher«, sagte Stretch. »Dein Geld liegt hier im Safe bereit.« Foster McWilliams machte gro?e Augen, als er die Scheine zahlte. »Mann — vier Tausender und funf Hunderter!«
»Die funfhundert habe ich zugelegt, um dir zu zeigen, da? Stretch Thompson kein Knicker ist«, sagte Stretch.
»Bist ein prima Kerl — hab' ich schon immer gesagt.«