»Hor auf, zionistische Propaganda herzubeten«, sagte Ari. »Geh in dein Zelt und warte dort. Du bekommst in zehn Minuten Antwort von uns.«

Dov schlo? die Tur auf und rannte hinaus.

»Dieses kleine Biest!« sagte David.

Ari gab David einen Wink, und David ging hinaus. Kaum hatte sich die Tur hinter ihm geschlossen, als Kitty wie von Sinnen auf Ari lossturzte und rief: »Karen geht nicht auf dieses Schiff! Das haben Sie mir fest zugesagt! Sie geht nicht auf die Exodus!«

Ari packte sie bei den Handgelenken. »Ich rede kein Wort mit Ihnen, wenn Sie sich jetzt nicht zusammennehmen. Wir haben genug auf dem Hals, auch ohne eine hysterische Frau.«

Kitty ri? sich heftig los.

»Horen Sie zu«, sagte Ari. »Mit dieser Moglichkeit hatte ich wirklich nicht gerechnet. In weniger als vier Tagen ist es soweit. Dieser Bursche hat uns in der Hand, und er wei? es. Wenn er die Papiere nicht fertigmacht, sind wir aufgeschmissen.«

»Reden Sie mit ihm — versprechen Sie ihm alles, was er will, aber lassen Sie Karen hier!«

»Ich wurde mit ihm reden, bis ich heiser bin, wenn ich meinte, da? damit irgend etwas zu erreichen ware.«

»Ben Kanaan, bitte — er wird nachgeben. Er wird nicht darauf bestehen, da? Karen mitkommt.«

Ari schuttelte den Kopf. »Ich habe Jungens wie ihn zu Hunderten gesehen. Es ist nicht viel in ihnen heil geblieben. Karen ist fur Dov das einzige, was ihn noch mit der Welt der anderen verbindet. Sie wissen genausogut wie ich, da? er zu diesem Madchen halten wird.« Kitty lehnte sich mit dem Rucken gegen die Wandtafel, ihr Kleid streifte uber die Kreide, mit der dort angeschrieben war: DIE BALFOUR-DEKLARATION VON 1917 ENTHALT DAS VERSPRECHEN ENGLANDS ...

Ben Kanaan hatte recht, und sie wu?te es. Und Mark hatte auch recht gehabt.

»Es gibt nur einen Weg«, sagte Ari. »Gehen Sie zu diesem Madchen und sagen Sie ihm, wie es in Ihnen aussieht. Erklaren Sie Karen, weshalb Sie mochten, da? sie hierbleibt.«

»Das kann ich nicht«, sagte Kitty mit leiser Stimme. »Ich kann nicht.« Sie hob den Blick und sah Ben Kanaan verzweifelt und hilflos an.

»Mit so was hatte ich wirklich nicht gerechnet«, sagte er. »Tut mir leid, Kitty.« Es war das erstemal, da? er sie Kitty nannte.

»Bringen Sie mich zu Mark zuruck«, sagte sie.

Sie gingen hinaus. Drau?en stand David. »Geh zu Dov«, sagte Ari, »und sag ihm, da? wir mit seinen Bedingungen einverstanden sind.« Dov rannte los, als er es erfahren hatte. Atemlos und aufgeregt kam er in Karens Zelt gesturzt. »Wir fahren nach Palastina!« rief er.

»O Gott«, sagte Karen. »O Gott!«

»Wir durfen nicht daruber reden. Die anderen wissen nichts davon, nur du und ich.«

»Und wann?«

»In den allernachsten Tagen. Ben Kanaan und seine Leute werden mit Lastwagen und in englischen Uniformen kommen. Angeblich, um uns in das neue Lager bei Larnaca zu bringen.«

»O mein Gott.«

Hand in Hand verlie?en sie das Zelt. Langsam gingen sie durch die langen Reihen der Zelte unter den Akazien zu dem Spielplatz, wo Seew mit einer Schulklasse Messerfechten ubte.

Dov Landau ging weiter, allein, an der Wand aus Stacheldraht entlang. Er sah drau?en die englischen Wachtposten auf und ab gehen. Am Ende der langen Wand aus Stacheldraht stand ein Wachtturm, ausgerustet mit Maschinengewehr und Scheinwerfer. Stacheldraht — Maschinengewehre — Wachtposten —.

Wann in seinem Leben war er einmal nicht hinter Stacheldraht gewesen? Gab es das wirklich, ein Leben ohne Stacheldraht, Maschinengewehre und Wachtposten? Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Es lag so weit zuruck, zu weit. ..

XXII.

WARSCHAU, SOMMER 1939

Mendel Landau war ein kleiner Warschauer Backer. Verglichen mit Professor Johann Clement lebte er am anderen Ende der Welt. Mendel Landau und Johann Clement hatten in der Tat absolut nichts gemeinsam. Aber beide waren Juden.

Deswegen mu?te jeder von ihnen auf die Frage nach der Einstellung zu seiner Umwelt seine eigene Antwort finden. Professor Clement hatte sich bis zuletzt an die Idee der Assimilation geklammert. Mendel Landau war zwar ein schlichter, einfacher Mann, hatte aber gleichfalls uber dieses Problem nachgedacht. Er war allerdings zu einem vollig anderen Ergebnis gelangt.

Im Gegensatz zu Clement hatte Mendel Landau in einer Umgebung gelebt, die ihm das Bewu?tsein eingepragt hatte, ein Fremder zu sein, ein Eindringling. Siebenhundert Jahre lang waren die Juden in Polen allen moglichen Formen der Verfolgung ausgesetzt gewesen, angefangen von Mi?handlungen bis zum Massenmord. Sie hatten im Ghetto gelebt, hinter hohen Mauern, die sie von der Umwelt trennten.

In diesem Ghetto aber war etwas Sonderbares geschehen. Dort hatte sich das religiose und kulturelle Eigenleben der Juden vertieft, statt zu erloschen, und ihre Zahl war standig gro?er geworden. Da sie gewaltsam von der Au?enwelt isoliert waren, hielten sich die Juden immer strenger an die mosaischen Gesetze, und diese Gesetze waren zu einem machtigen Band geworden, das sie untereinander fest zusammenhielt. In den judischen Gemeinden, die im Ghetto ganz auf sich selbst gestellt waren, entwickelte sich ein besonders fester familiarer und kommunaler Zusammenhalt, der auch nach der Abschaffung des Ghettos bestehenblieb.

Die jahrhundertelangen Verfolgungen hatten ihren grausigen Hohepunkt im Jahre 1648 erreicht, als bei einem Kosakenaufstand eine halbe Million Juden umgebracht wurde. Das finstere Mittelalter, das im westlichen Europa sein Ende gefunden hatte, schien im polnischen Ghetto weiterzuleben.

Zu allen Zeiten der judischen Geschichte hatte es immer dann, wenn es besonders bedrohlich und hoffnungslos aussah, Manner unter den Juden gegeben, die mit dem Anspruch auftraten, der neue »Messias« zu sein. Gleichzeitig entwickelte sich die judische Mystik, die sich bemuhte, biblische Erklarungen fur die jahrhundertelangen Leidenszeiten zu finden. Mit ihrer verwickelten Geheimlehre, der Kabbala, versuchten die judischen Mystiker, den heiligen Schriften einen verborgenen Sinn entrei?en und einen Weg zu finden, auf dem Gott sie aus der Wustenei des Todes erretten konne.

Wahrend die »Erloser« ihre messianische Botschaft verkundeten und die Mystiker die Schriften erforschten, erwuchs im Ghetto noch eine weitere Glaubensbewegung:    Die    Chassidim, die die unertragliche Wirklichkeit durch religiose Inbrunst zu uberwinden suchten.

Die Kabbala, der Chassidismus — Mendel Landau waren sie bekannt, diese Ausgeburten der Verzweiflung. Er wu?te auch, da? es aufgeklartere Zeiten gegeben hatte, in denen das Los der Juden leichter gewesen war. Und er wu?te von den vielen Freiheitskriegen der Polen, bei denen die Juden zu den Waffen gegriffen und an der Seite der Polen gekampft hatten.

Vieles von dem, was Mendel Landau wu?te, war alte Geschichte, langst versunkene Vergangenheit. Jetzt aber schrieb man das Jahr 1939, und Polen war eine Republik. Er und seine Familie lebten nicht mehr in einem Ghetto. Es gab in Polen uber drei Millionen Juden, und die Juden spielten eine wichtige Rolle im Leben der Nation. Freilich war ihre Unterdruckung mit dem Entstehen der Republik nicht beendet, nur der Grad war ein anderer geworden. Noch immer gab es fur die Juden Sondersteuern und wirtschaftliche Beschrankungen. Und noch immer gaben die meisten Polen fur eine Uberschwemmung oder eine Durre den Juden die Schuld.

Gewi?, das Ghetto war verschwunden, doch fur Mendel Landau war ganz Polen ein Ghetto, ganz gleich, wo er wohnte. Gewi?, Polen war eine Republik, doch Mendel Landau hatte auch in den Jahren nach 1936 Pogrome erlebt. Es hatte antisemitische Ausschreitungen gegeben, in Brzesc, Czenstochau, Brzytyk, Minsk Mazowiecki; und er hatte die hohnischen Stimmen des Gesindels im Ohr, das sich einen Spa? daraus gemacht hatte, judische Laden zu demolieren und den Juden die Barte abzuschneiden.

Deshalb war Mendel Landau zu einer anderen Schlu?folgerung gekommen als Johann Clement. Nach siebenhundert Jahren judischer Ansassigkeit war Mendel Landau in Polen noch immer ein Fremder, ein Eindringling, und er war sich daruber klar.

Er war ein einfacher und sehr bescheidener Mann. Seine Frau Lea war ein treues, biederes Weib, eine gute Mutter und eine schwer arbeitende Hausfrau.

Mendel Landau hatte den Wunsch, seinen Kindern irgend etwas mitzugeben. Doch die glaubige Inbrunst der

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