nach dem anderen, der auf einem Rangiergleis in der Nahe des Judenviertels hielt. Immer mehr Menschen drangten sich auf dem engen Raum. Jan und seine Familie zogen um in das Zimmer, in dem die Landaus wohnten. Es waren jetzt neun Menschen in einem Raum. Die heimliche Liebe zwischen Ruth und Jan wurde zum offenen Geheimnis.

Die Deutschen veranla?ten die Juden, zur Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten eine Gemeindeverwaltung einzurichten. Dieser »Judenrat« war ein Werkzeug fur den Vollzug deutscher Anordnungen. Es gab auch eine ganze Reihe von Juden, die meinten, es sei besser, gemeinsame Sache mit den Deutschen zu machen, und die daher einer von den Deutschen aufgestellten judischen Polizei beitraten. Die Zahl der Menschen, die zusammengedrangt auf dem engen Raum des judischen Viertels lebte, stieg auf mehr als eine halbe Million an.

Gegen Ende des Jahres 1940, ein Jahr nach der Eroberung Polens, steckten die Deutschen viele Tausende von Juden in Arbeitsbataillone. Rund um das judische Viertel von Warschau mu?ten sie eine drei Meter hohe Mauer bauen. Auf der Mauer wurde Stacheldraht gespannt. Die Mauer hatte funfzehn Tore, die von polnischen »Blauen« und litauischen Posten bewacht wurden. Das Ghetto in Polen war wieder erstanden! Der Verkehr mit der Welt au?erhalb des Ghettos horte fast vollstandig auf. Mundek, der bisher au?erhalb des Ghettos gearbeitet hatte, wurde arbeitslos. Die Lebensmittelrationen innerhalb des Ghettos wurden sosehr gesenkt, da? kaum die Halfte der Insassen davon leben konnte. Die einzigen Familien, bei denen eine gewisse Chance bestand, da? sie sich einigerma?en ernahren konnten, waren die, deren Mitglieder im Besitz von »Arbeitskarten« waren. Sie arbeiteten in irgendeinem der Zwangsarbeitsbataillone oder in Fabriken.

Unter den Bewohnern des Ghettos brach eine Panik aus. Einzelne Juden gaben ihr ganzes Vermogen, um Nahrungsmittel dafur einzutauschen. Andere versuchten zu fliehen und sich in den Hausern von Christen zu verbergen; doch die meisten dieser Versuche endeten entweder mit dem Tod oder damit, da? die Juden von den Menschen au?erhalb des Ghettos betrogen und verraten wurden. Innerhalb des Ghettos entwickelte sich das Leben mit jedem Tag mehr und mehr zu einem Kampf um die nackte Existenz.

Die Zwangslage wies Mundek Landau eine Fuhrerrolle zu. Durch seinen Einflu? bei den Bauleuten erhielt er vom »Judenrat« die Konzession zum Betrieb einer der wenigen Backereien des Ghettos. So konnte seine Gruppe einigerma?en verpflegt werden und am Leben bleiben.

Doch auch im Ghetto gab es vereinzelte Lichtblicke. Ein sehr gutes Sinfonieorchester veranstaltete wochentlich Konzerte, es gab Schulen mit regelma?igem Stundenplan, kleine Theatergruppen bildeten sich. Es gab Vortrage und Diskussionen uber alle moglichen Themen, eine Ghetto-Zeitung wurde gedruckt, und das Ghetto-Geld wurde legales Zahlungsmittel. Heimlich wurden Gottesdienste abgehalten. Es waren vorwiegend die Bauleute, die diese vielseitige Aktivitat in Gang setzten. Der kleine Dov hatte am liebsten von fruh bis spat bei den Bauleuten gesessen, doch die Familie drang darauf, da? er zur Schule ging und moglichst viel lernte.

Im Fruhjahr 1941 beschlo? Adolf Hitler, das judische Problem endgultig zu losen. In einer Geheimsitzung am Gro?en Wannsee verkundete Heydrich den fuhrenden Mannern des SD, der SS und anderen Nazi-Gro?en den Geheimbefehl des Fuhrers. Die Endlosung hie?: Ausrottung! Mit dieser Aufgabe wurde der Siedlungsexperte SS- Obersturmbannfuhrer Eichmann betraut.

Innerhalb weniger Monate wurden aus den »Einsatzkommandos« — den Liquidationskommandos des SD — »Sondereinsatzgruppen« formiert und nach Polen, in das Baltikum und das besetzte russische Gebiet in Marsch gesetzt, um dort den Fuhrerbefehl zu vollziehen und die Massenliquidierung zu organisieren. Zunachst gingen die Einsatzgruppen nach einem feststehenden Schema vor. Sie trieben die Juden zusammen und brachten sie in irgendein abgelegenes, unbeobachtetes Gebiet. Dort wurden die Juden gezwungen, ihr eigenes Grab zu graben, sich auszuziehen und nackt an ihrem Grab hinzuknien. Sie bekamen den Genickschu?.

Einen besonderen Hohepunkt erreichte die Aktivitat der Einsatzgruppen in Kiew, vor allem in einem Vorort namens Babi Yar, wo innerhalb von zwei Tagen am Rande riesiger Massengraber dreiunddrei?igtausend Juden erschossen wurden.

Da? die Einsatzgruppen so »erfolgreich« arbeiten konnten, lag zum Teil auch daran, da? sie auf keinerlei Widerstand seitens der Bevolkerung stie?en, die annahernd ebenso judenfeindlich war wie die Deutschen. Das Massaker von Babi Yar fand vor den Augen zahlreicher Ukrainer statt, die laut ihre Zustimmung bekundeten. Doch es zeigte sich bald, da? die Methoden der Einsatzgruppen fur den gro?en Plan der Ausrottung samtlicher Juden unzureichend waren. Das Erschie?en war umstandlich und ging zu langsam. Au?erdem taten die Juden den Nazis nicht den Gefallen, in ausreichenden Mengen zu verhungern.

Daher arbeiteten die Nazis einen grandiosen Plan aus. Er erforderte die sorgfaltigste Auswahl unauffalliger, abgelegener Platze mit Eisenbahnanschlu? und in der Nahe gro?erer Orte. Hochqualifizierte Fachleute wurden beauftragt, Vernichtungslager zu entwerfen, die an geeigneten Punkten errichtet werden sollten, um die Massenliquidierungen mit moglichst geringen Unkosten durchzufuhren. Aus dem Personal der schon seit langem bestehenden Konzentrationslager innerhalb von Deutschland wahlte man die besten Leute aus, die die neu zu errichtenden Lager ubernehmen sollten.

Es wurde Winter. Im Warschauer Ghetto hielt der Tod eine Ernte, die sogar die Zahl der Toten uberstieg, die in den Gruben von Babi Yar lagen. Hunderte und Tausende von Menschen verhungerten oder erfroren. Es starben Kinder, die zu schwach waren, um zu weinen, und alte Menschen, die keine Kraft mehr hatten, um zu beten. Jede Nacht starben Hunderte; die Stra?en waren morgens mit Toten besat. Sanitatskommandos zogen durch die Stra?en und schaufelten die Leichen auf Karren. Sauglinge, Kinder, Frauen, Manner wurden aufgeladen und zu den Krematorien gefahren, wo man die Leichen verbrannte.

Dov war inzwischen elf Jahre alt. Als Mundeks Backerei geschlossen wurde, ging Dov nicht mehr in die Schule, sondern lungerte auf der Suche nach Nahrung herum. Selbst Gruppen wie die Bauleute, die fest zusammenhielten, waren in schwerer Bedrangnis. Dov lernte es, sich mit List und Schlaue im Ghetto am Leben zu erhalten. Er hielt Augen und Ohren offen und entwickelte die scharfe Witterung und den Instinkt, mit der sich ein Tier im Kampf ums Dasein behauptet. Es gab viele Tage, an denen der Kochtopf der Familie Landau leer war. Wenn es keinem der Familie oder der Bauleute gelungen war, eine Mahlzeit zusammenzubekommen, trennte sich Lea von einem ihrer letzten Schmuckstucke, um es gegen Nahrung einzutauschen.

Es war ein langer, harter Winter. Einmal, als sie funf Tage lang nichts zu essen gehabt hatten, gab es bei den Landaus endlich wieder eine Mahlzeit; doch Leas Hand war ohne Ehering. Dann ging es ihnen wieder besser, denn die Bauleute hatten ein Pferd organisiert. Es war ein alter, magerer Klepper, und der Genu? von Pferdefleisch war den Juden verboten; doch es schmeckte wunderbar.

Ruth war jetzt neunzehn. Als sie in diesem Winter Jan heiratete, war sie so mager, da? man sie eigentlich nicht hubsch nennen konnte. Sie verlebten ihre Flitterwochen in dem einen Zimmer, das sie mit den vier anderen Landaus und den drei Mitgliedern von Jans Familie teilten. Offenbar aber hatte das junge Paar es doch fertiggebracht, irgendwann und irgendwo allein zu sein, denn im Fruhling erwartete Ruth ein Kind.

Als Fuhrer der Bauleute war es eine der wichtigsten Aufgaben Mundeks, den Kontakt mit der Welt au?erhalb des Ghettos aufrechtzuerhalten. Das konnte man machen, indem man die polnischen und die litauischen Posten an den Toren bestach. Mundek war jedoch der Ansicht, das Geld musse fur wichtigere Dinge gespart werden. Daher erkundete man die Moglichkeiten, »unter der Mauer hindurch« aus dem Ghetto hinaus und ins Ghetto hereinzukommen: durch die Abwasserkanale.

Es war hochst gefahrlich, die Stadt zu betreten. Es gab ganze Banden polnischer Strolche, die bestandig nach Juden Ausschau hielten, die sich aus dem Ghetto herausgeschlichen hatten, um sie zu erpressen oder der Polizei zu ubergeben und die dafur ausgesetzte Belohnung einzustreichen. Die Bauleute hatten auf diese Weise schon funf ihrer Mitglieder verloren. Der letzte, der von polnischen Gangstern dem SD ausgeliefert und gehangt worden war, war Jan gewesen, Ruths Mann.

Der kleine Dov war schlau und kannte die Schliche, die man kennen mu?te, um sich am Leben zu erhalten. Er ging zu seinem Bruder Mundek und bat ihn, man moge doch ihn mit der Aufgabe betreuen, als Kurier durch den Kanal zu gehen. Mundek wollte zunachst nichts davon horen, doch Dov lie? nicht locker. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen sah er von ihnen allen am wenigsten wie ein Jude aus. Er war noch so jung, da? man bei ihm kaum Verdacht schopfen wurde. Mundek wu?te, da? Dov das Zeug dazu hatte, doch er brachte es nicht ubers Herz, seinen kleinen Bruder einer solchen Gefahr auszusetzen. Als Mundek dann aber innerhalb weniger Tage auch noch den sechsten und siebenten Kurier einbu?te, beschlo? er, es mit Dov zu versuchen. Mundek sagte sich au?erdem, da? sie alle miteinander ohnehin Tag fur Tag in Lebensgefahr waren. Lea verstand ihn. Dov erwies sich als der beste Kurier des ganzen Ghettos. Er erkundete ein Dutzend verschiedener Wege, um »unter der Mauer« in die Stadt und von der Stadt ins Ghetto zu gelangen. Er wurde heimisch in den unterirdischen Gangen und in dem schlammigen, stinkenden, fauligen Wasser, das unterhalb von Warschau flo?. Jede Woche machte Dov den Weg

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