»Mutter und Ruth«, rief sie weinend. »Man hat sie aus der Fabrik herausgeholt. Ihre Arbeitskarten wurden ungultig gemacht, und man hat sie zum Umschlagplatz geschafft.«
Dov fuhr herum und wollte zur Tur. Mundek hielt ihn fest. Dov schrie und stie? mit den Fu?en um sich.
»Dov — Dov! Wir konnen doch nichts dagegen tun!«
»Mama! Ich will zu Mama!«
»Dov! Dov! Wir konnen doch nicht zusehen, wie man sie wegbringt!«
Ruth, die im achten Monat war, machte den Gaskammern von Treblinka einen Strich durch die Rechnung. Sie starb bei der Geburt, und ihr Baby starb mit ihr, in einem Viehwagen, in den so viele Menschen gepre?t waren, da? es der Gebarenden nicht moglich war, sich hinzulegen.
Der Kommandant von Treblinka tobte vor Wut. Wieder einmal hatte es bei den Gaskammern eine technische Storung gegeben, und dabei war bereits ein neuer Guterzug mit Juden aus dem Warschauer Ghetto im Anrollen. Der Kommandierende SS-Brigadefuhrer war stolz darauf gewesen, da? Treblinka bisher gegenuber allen anderen Vernichtungslagern in Polen den Rekord gehalten hatte. Und jetzt meldeten ihm seine Techniker, da? es unmoglich war, die Anlage bis zur Ankunft des Zuges aus Warschau wieder betriebsfahig zu machen. Und was die Sache noch schlimmer machte: Himmler personlich hatte sich zu einer Besichtigung angesagt.
So blieb ihm nichts anderes ubrig, als samtliche altmodischen, ausrangierten Gaswagen, die er in der Gegend auftreiben konnte, zu dem Nebengleis zu schicken, wo der Zug ankommen sollte. Normalerweise gingen in diese Gaswagen jeweils nur zwanzig Leute, doch das wurde diesmal nicht reichen. Schlie?lich herrschte ja Notstand. Wenn man die Opfer aber zwang, die Hande uber den Kopfen zu halten, gingen in jeden Wagen sechs bis acht Juden mehr hinein. Au?erdem blieb dann zwischen den Kopfen und der Decke noch ein schmaler Zwischenraum, in dem man zusatzlich acht bis zehn Kinder unterbringen konnte.
Lea Landau war betaubt vom Schmerz um Ruths Tod, als der Zug in der Nahe von Treblinka hielt. Sie und drei?ig andere wurden aus dem Viehwagen herausgeholt und von Wachmannschaften, die mit Peitschen und Knuppeln ausgerustet waren und Hunde bei sich hatten, gezwungen, in einen der wartenden Gaswagen zu steigen und die Hande uber die Kopfe zu halten. Als der Wagen so vollgestopft war, da? nichts mehr hineinging, wurden die eisernen Turen geschlossen. Der Wagen fuhr los, und innerhalb von Sekunden fullte sich der eiserne Kafig mit Kohlenstoffmonoxyd. Von den Insassen war keiner mehr am Leben, als die Wagen das Lager Treblinka erreichten und vor den Massengrabern hielten, wo die Leichen ausgeladen und den Toten die Goldzahne gezogen wurden. Um diesen Gewinn jedoch hatte Lea Landau die Deutschen betrogen; denn sie hatte sich ihre Goldzahne schon langst ziehen lassen, um Nahrungsmittel dafur einzutauschen.
Das Jahr 1942 naherte sich seinem Ende. Wieder einmal wurde es Winter, und die Razzien der Gestapo wurden immer haufiger. Samtliche Bewohner des Ghettos zogen in die Keller um und nahmen alles mit, was wertvoll war. Die Keller wurden erweitert und verwandelten sich teilweise, wie bei den Bauleuten, in regelrechte Bunker. Es entstanden Dutzende und schlie?lich Hunderte solcher Bunker, und man trieb unterirdische Gange durch die Erde, die die verschiedenen Bunker untereinander verbanden.
Die Razzien der Deutschen und der mit ihnen arbeitenden polnischen und litauischen Kommandos ergaben eine immer geringere Ausbeute fur Treblinka. Die Deutschen wurden bose. Die Bunker waren so gut getarnt, da? es fast unmoglich war, sie zu finden. Schlie?lich begab sich der Kommandant von Warschau personlich in das Ghetto, um mit dem Vorstand des Judenrates zu reden. Er war sehr bose und verlangte, da? die judische Gemeindeverwaltung die Deutschen bei der raschen Abwicklung des Umsiedlungsprogramms unterstutzen sollte, indem sie die Feiglinge ermittelte, die sich vor »ehrlicher Arbeit« druckten. Seit mehr als drei Jahren hatte der Judenrat in einer ublen Klemme gesessen, hin-und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, Anordnungen der Deutschen auszufuhren, und dem Versuch, die eigenen Leute zu retten. Kurz nach dem Besuch des Kommandanten und der Aufforderung zur Mitarbeit beging der Leiter des Judenrates Selbstmord.
Mundek und die Bauleute hatten die Aufgabe, die Verteidigung eines Abschnitts des Besenbinderviertels vorzubereiten. Dov verbrachte seine Zeit entweder im Kanal oder im Bunker, wo er Ausweise und Passe falschte. Er machte jetzt wochentlich zweimal den Weg »unterhalb der Mauer« nach Warschau, und das bedeutete fur ihn immerhin die Moglichkeit, sich zweimal in der Woche bei Wanda satt zu essen. Bei seinen Gangen aus dem Ghetto nach Warschau nahm er jetzt Leute mit, die zu alt oder aus anderen Grunden nicht imstande waren, zu kampfen. Wenn er zuruckkam, brachte er Waffen und Radioeinzelteile mit.
Im Lauf des Winters 1942/43 erreichte die Anzahl der Todesopfer ein erschreckendes Ma?. Von den ursprunglich funfhunderttausend Juden, die man in das Ghetto gebracht hatte, waren um die Jahreswende nur noch funfzigtausend am Leben.
Eines Tages, um die Mitte des Januar, als es gerade wieder soweit war, da? Dov in den Kanal hinuntersteigen sollte, nahmen ihn Mundek und Rebekka beiseite.
»Man kommt in diesen Tagen gar nicht so recht dazu, einmal in Ruhe dazusitzen und miteinander zu reden«, sagte Mundek einleitend.
»Hor mal, Dov«, sagte Rebekka. »Wir haben uns alle daruber unterhalten, wahrend du das letztemal in Warschau warst, und haben dann abgestimmt. Wir haben beschlossen, da? du auf der anderen Seite der Mauer bleiben sollst.«
»Habt ihr irgendeinen Sonderauftrag fur mich?« fragte Dov.
»Nein — du verstehst uns nicht.«
»Was meint ihr denn?«
»Wir haben beschlossen«, sagte Rebekka, »da? ein paar von uns drau?en bleiben sollen.«
Dov verstand noch immer nicht. Er wu?te, da? ihn die Bauleute brauchten. Beim ganzen ZOB war keiner, der die verschiedenen Wege durch den Kanal so genau kannte wie er. Wenn der ZOB sich jetzt ernstlich auf die Verteidigung einrichten wollte, dann hatte er ihn doch noch notiger als bisher. Au?erdem war es durch die Ausweise und Reisepasse, die er gefalscht hatte, moglich gewesen, mehr als hundert Leute aus Polen herauszubekommen. Er sah seine Schwester und seinen Bruder fragend an.
Rebekka druckte ihm einen Briefumschlag in die Hand. »Da hast du Geld und Ausweise. Bleib so lange bei Wanda, bis sie eine Familie gefunden hat, die dich aufnimmt.« »Ihr habt gar nicht daruber abgestimmt. Das habt ihr beiden euch nur ausgedacht. Ich gehe nicht.«
»Du gehst«, sagte Mundek. »Das ist ein Befehl.«
»Das ist kein Befehl«, sagte Dov.
»Doch — ich befehle es dir als Oberhaupt der Familie Landau!« Sie standen zu dritt in einer Ecke des Bunkers. Es war sehr still in dem unterirdischen Raum. »Es ist ein Befehl«, wiederholte Mundek. Rebekka nahm Dov am Arm und strich ihm uber das blonde Haar. »Du bist ein gro?er Junge geworden, Dov«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Gelegenheit gehabt, dich zu verwohnen, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie du hundertmal in den Kanal hinunter gestiegen bist, und ich habe erlebt, wie du uns etwas zu essen gebracht hast, was du irgendwo gestohlen hattest. Du hast eigentlich kaum eine richtige Kindheit gehabt.«
»Das ist doch nicht eure Schuld.«
»Hor zu, Dov«, sagte Mundek. »Du darfst Rebekka und mir diesen einen Wunsch nicht abschlagen. Wir haben dir nicht viel geben konnen. Du mu?t uns den Versuch erlauben, dir wenigstens dein Leben zu geben.«
»Mir liegt aber gar nichts an meinem Leben, wenn ich nicht bei euch sein darf.«
»Bitte, Dov — bitte verstehe uns doch. Einer von der Familie Landau soll am Leben bleiben. Wir mochten, da? wenigstens du am Leben bleibst — fur uns alle.«
Dov sah seinen Bruder an, den er liebte und verehrte.
»Ich verstehe«, sagte er mit leiser Stimme. »Ja — ich werde leben.« Er sah auf das Packchen und schlug es in ein Stuck Segeltuch ein, damit es im Kanal nicht na? werden sollte. Rebekka druckte seinen Kopf an ihre Brust.
»In Erez Israel werden wir uns wiedersehen«, sagte sie.
»Ja, im Lande Israel.«
»Du warst ein guter Soldat«, erganzte Mundek. »Ich bin stolz auf dich. Schalom Lehitraoth.«
»Schalom Lehitraoth«, wiederholte Dov.
Seinen dreizehnten Geburtstag verbrachte Dov Landau in den Kanalen unterhalb der Stadt Warschau, durch die er zu Wandas Wohnung watete, mit so schwerem Herzen, da? es beinahe brechen wollte. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Welt hatte er heute seine Bar Mizwah gefeiert und damit das Mitspracherecht des Mannes in der judischen Gemeinschaft erhalten.
XXIII.