Am 18. Januar 1943, drei Tage nachdem Dov das Ghetto verlassen und sich zu Wanda begeben hatte, wo er zunachst einmal sicher war, kamen die Deutschen, die polnischen Blauen und die litauischen Buttel in Massen in das Ghetto gestromt. Jetzt, da nur noch funfzigtausend Juden ubrig waren, sollte die »Endlosung« beschleunigt und mit Gewalt vollzogen werden. Doch die Deutschen und ihre Polen und Litauer liefen in einen Gescho?hagel, der ihnen aus den Verteidigungsstellungen des ZOB entgegenschlug. Sie erlitten schwere Verluste und mu?ten fliehen.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Warschau! Die Juden machten einen Aufstand!
Am Abend dieses Tages lauschte in Warschau alles gespannt auf die Stimme des Geheimsenders des ZOB, der immer von neuem diesen Appell wiederholte: »Kameraden, Landsleute! Wir haben heute einen Schlag gegen die Tyrannei gefuhrt. Wir fordern alle unsere polnischen Bruder au?erhalb des Ghettos auf, sich zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu erheben! Vereinigt euch mit uns!«
Dieser Appell stie? auf taube Ohren. Doch am Hauptquartier des ZOB auf der Mila-Stra?e wurde die Flagge mit dem Davidstern gehi?t, und daneben flatterte die polnische Fahne. Die Juden des Ghettos hatten beschlossen, unter dem Banner zu kampfen und zu sterben, unter dem zu leben man ihnen verwehrt hatte.
Die Manner des ZOB ubernahmen die Macht im Ghetto. Sie setzten den Judenrat ab, machten mit allen, die als Kollaborateure bekannt waren, kurzen Proze?, und bezogen dann die vorbereiteten Verteidigungsstellungen.
Generalgouverneur Frank beschlo?, lieber keinen Angriff auf das Ghetto zu machen, um dem ZOB nicht die Trumpfe zuzuspielen. Die Deutschen beschrankten sich darauf, die Sache zu bagatellisieren. Sie eroffneten einen Propagandakrieg, indem sie mit Lautsprecherwagen die Insassen des Ghettos aufforderten, herauszukommen und sich freiwillig zur Umsiedlung zu melden, wobei sie ihnen als Lohn fur »ehrliche Arbeit« gute Behandlung zusicherten. Der ZOB erlie? einen Tagesbefehl, durch den die noch im Ghetto befindlichen Juden daruber unterrichtet wurden, da? jeder, der die Aufforderung der Deutschen befolgte, von ihnen nicht evakuiert, sondern sofort erschossen werden wurde.
Nach zwei Wochen, in denen es ruhig geblieben war, schickten die Deutschen erneut Patrouillen ins Ghetto, um Juden herauszuholen. Diesmal kamen sie schwerbewaffnet und bewegten sich mit au?erster Vorsicht. Die Manner vom ZOB lie?en die Deutschen herankommen und eroffneten dann aus sorgfaltig vorbereiteten Verteidigungsstellungen das Feuer. Wieder mu?ten die Deutschen aus dem Ghetto fliehen.
Wahrend die Deutschen in der Presse und im Radio die judischen Bolschewisten beschimpften, die an allem schuld seien, bauten die Manner vom ZOB ihre Abwehrstellungen weiter aus, und ihr Geheimsender richtete an die polnische Widerstandsbewegung immer wieder die verzweifelte Bitte, den Juden im Ghetto zu Hilfe zu kommen. Doch es kamen keine Waffen, es kam keine Hilfe der Widerstandsbewegung, und nur ein paar Dutzend Freiwillige wagten den Weg durch den Kanal, um im Ghetto zu kampfen.
Die Deutschen fa?ten den Plan, jeglichen Widerstand im Ghetto durch einen vernichtenden Schlag zu beseitigen. Sie wahlten einen besonderen Tag fur den Angriff: den Vortag des Pessach-Festes, das die Juden zur Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Agypten begehen und das im Jahre 1943 auf den 20. April fiel. Die SS hatte den Vorabend des Pessach-Festes gewahlt, weil sie hoffte, den vernichtenden Schlag innerhalb eines Tages fuhren und Hitler am 20. April als Geburtstagsgeschenk die Ausradierung des Warschauer Ghettos melden zu konnen.
Gegen drei Uhr morgens bildeten dreitausend SS-Leute, ausgesuchte Elitetruppen, verstarkt durch Polen und Litauer, einen dichten Ring um das gesamte Ghetto. Dutzende von Scheinwerfern suchten im Ghetto nach Zielen fur die Granatwerfer und die leichte Artillerie der Deutschen. Das vorbereitende Artilleriefeuer dauerte an, bis es hell wurde. Dann begann die SS ihren Angriff uber die Mauer. Von mehreren Seiten aus vorruckend, drangen die Deutschen tief in das Innere des Ghettos ein, ohne Widerstand zu finden. Plotzlich aber eroffneten die Kampfer des ZOB, Manner und Frauen, von den Dachern der Hauser, aus den Fenstern und aus getarnten Feuerstellungen auf kurze Distanz das Feuer auf die uberraschten und umzingelten Deutschen. Zum drittenmal mu?ten die Deutschen aus dem Ghetto fliehen.
Rasend vor Wut kamen sie zuruck mit Tanks, doch die Tanks wurden empfangen mit einem Hagel von Flaschen, die mit Benzin gefullt waren und die die eisernen Ungeheuer in brennende Sarge verwandelten. Als die Tanks manovrierunfahig liegenblieben, mu?te die SS erneut fliehen, diesmal unter Hinterlassung Hunderter von Toten, die die Stra?en des Ghettos bedeckten.
Die Kampfer des ZOB kamen aus ihren getarnten Stellungen herausgesturzt, um die Waffen und die Uniformen der Deutschen an sich zu nehmen.
Konrad, der fur die Sicherheit im Ghetto verantwortliche Mann, wurde seines Postens enthoben, und SS- General Stroop bekam den Befehl, das Ghetto so grundlich zu vernichten, da? nie wieder irgend jemand es wagen wurde, sich der Macht der Nazis zu widersetzen. Stroop unternahm einen Angriff nach dem andern. Jeder neue Angriff erfolgte nach einem anderen Plan und aus einer anderen Richtung. Doch jeder Angriff und jede Patrouille erlitten das gleiche Schicksal. Sie wurden vom ZOB abgeschlagen, dessen Angehorige wie die Rasenden kampften und jedes Haus, jeden Raum und jeden Fu?breit erbittert verteidigten. Nicht einer dieser Kampfer fiel lebend in die Hand des Feindes. Sooft die Deutschen in das Ghetto eindrangen, jedesmal wurden sie von den Juden durch selbstgebaute Landminen, durch Fallen, durch wutende Gegenangriffe und mit dem Mut der Verzweiflung wieder hinausgeworfen.
Zehn Tage waren vergangen, und noch immer hatten die Deutschen keinen Erfolg erzielt. Daraufhin unternahmen sie einen konzentrischen Angriff auf das Ghetto-Krankenhaus, wo sie keinen Widerstand vorfanden, erschossen alle Patienten, sprengten das Gebaude in die Luft und gaben dann lautstark bekannt, da? es ihnen gelungen sei, das Hauptquartier des ZOB zu zerstoren.
Doch die Deutschen setzten ihre Angriffe fort, und bald machte sich ihre zahlenma?ige und materialma?ige Uberlegenheit bemerkbar. Der ZOB konnte einen gefallenen Kampfer nicht ersetzen; war eine Stellung zerstort, so blieb nichts weiter ubrig, als die Front zuruckzunehmen; es war nicht moglich, die Munition so rasch zu ersetzen, wie sie verschossen wurde. Und doch gelang es den Deutschen trotz aller Uberlegenheit nicht, festen Fu? innerhalb des Ghettos zu fassen. Der ZOB richtete an viele Juden, die nicht den Kampfgruppen angehorten, die Aufforderung, durch den Kanal nach Warschau zu entweichen, da die Gewehre nicht mehr ausreichten, um alle zu bewaffnen.
Aus den drei Tagen, die Konrad fur die Niederwerfung des GhettoAufstandes geringschatzig veranschlagt hatte, waren bereits zwei Wochen geworden. Am funfzehnten Tag kampfte Rebekka Landau in einem Gebaude im Besenbinderviertel, kaum ein paar Stra?en vom Hauptquartier der Bauleute entfernt. Eine Granate, die in das Haus einschlug, totete alle Kampfer bis auf Rebekka, die durch die einsturzenden Wande gezwungen wurde, auf die Stra?e zu fliehen. Die Deutschen versuchten, ihr den Ruckweg abzuschneiden. Als Rebekka erkannte, da? sie nicht entkommen konnte, griff sie in ihr Kleid, holte eine Handgranate hervor, lief auf drei deutsche Soldaten zu, zog die Granate ab und totete sich und ihre drei Feinde.
Nach drei Wochen war Stroop gezwungen, seine Taktik zu andern. Seine Leute hatten schwere Verluste erlitten, und die Nazis waren nicht mehr in der Lage, den heldenhaften Kampf der Juden durch Propaganda zu vertuschen. Stroop zog seine Leute zuruck, verstarkte den Ring um das Ghetto und erklarte den Belagerungszustand. Er holte schwere Artillerie heran, die aus nachster Nahe das Feuer eroffnete, um alle Gebaude, deren sich die Juden so erfolgreich als Abwehrstellungen bedient hatten, dem Erdboden gleichzumachen. Nachts kamen Heinkel-Bomber, die das Ghetto mit einem Regen von Brandbomben belegten.
Mundek, der zu einer Besprechung der Gruppenfuhrer im ZOB-Hauptquartier gewesen war, kam in den Bunker der Bauleute zuruck. Er selbst und seine Leute waren halbtot vor Erschopfung, Hunger und Durst. Viele hatten schlimme Brandwunden. Sie sammelten sich um ihn.
»Die deutsche Artillerie hat so gut wie alle Hauser zusammengeschossen«, sagte er. »Was noch steht, brennt.«
»Ist es gelungen, Verbindung mit dem polnischen Widerstand aufzunehmen?«
»Doch, wir haben Verbindung mit ihnen aufgenommen, aber sie werden uns nicht helfen. Wir konnen keinerlei Nahrung, Munition oder irgendwelchen sonstigen Nachschub von ihnen erwarten. Wir mussen mit dem auskommen, was wir haben. Unser Meldewesen ist so gut wie ruiniert. Das, Freunde, aber bedeutet, da? wir nicht mehr nach einem gemeinsamen Plan vorgehen konnen. Jeder Bunker ist auf sich selbst gestellt. Wir werden versuchen, die Verbindung zum ZOB durch Melder aufrechtzuerhalten. Doch wenn die Deutschen das nachstemal kommen, wird jede Gruppe auf eigene Faust handeln mussen.«
»Wie lange konnen wir uns auf diese Weise noch halten, Mundek? Wir haben nur noch drei?ig Leute, zehn Pistolen und sechs Gewehre.«