Krematorium gedacht war. Weitere Entwurfe befa?ten sich damit, die Kapazitat von Birkenau auf vierzigtausend Vergasungen pro Tag zu steigern. Der Zug, in dem sich Dov Landau befand, fuhr durch Auschwitz hindurch und hielt auf dem Abstellgleis von Birkenau.
XXV.
Dov war halb verhungert und blau vor Kalte. Doch die Jahre des bestandigen Umgangs mit der Gefahr und dem Tod hatten seinen Instinkt so gescharft, da? er selbst in diesem Zustand hellwach und auf der Hut war. Er wu?te, die nachste Stunde wurde uber Leben und Tod entscheiden.
Die Turen der Viehwagen wurden aufgerissen, und alle, die wie er auf offenem Guterwagen standen, wurden mit rauhen Kommandos angewiesen, herunterzuspringen. Muhsam kletterten die armen Opfer aus dem Wagen heraus. Auf einem langen Bahnsteig sahen sie sich einer Kette von SS-Leuten gegenuber, die mit Knuppeln, Peitschen und Pistolen und mit Hunden, die bosartig knurrend an ihren Leinen zerrten, bereitstanden. Die Peitschen pfiffen durch die kalte Luft, und wo sie trafen, schrien Menschen vor Schmerz auf. Gummiknuppel schlugen mit dumpfem Knall auf Kopfe, und Pistolenschusse streckten diejenigen nieder, die zu schwach zum Gehen waren.
Die Opfer mu?ten in Viererreihen antreten, und die endlose Menschenschlange bewegte sich langsam und gleichma?ig auf ein gro?es Gebaude am Ende des Bahnsteiges zu.
Dov sah sich um. Links standen die Zuge. Hinter den Zugen sah er auf der Stra?e vor dem Bahnhof eine Reihe wartender Lastwagen stehen. Es waren keine geschlossenen Wagen, konnten daher, so folgerte Dov, keine Gaswagen sein. Rechts, hinter der Sperrkette der Wachmannschaften sah Dov die gepflegten Grunanlagen und die Baume, die die Ziegelbauten von Birkenau umgaben. Er musterte die Form der Gebaude mit ihren hohen Schornsteinen und ihm war klar, da? sich dort rechts Gaskammern und Verbrennungsofen befinden mu?ten.
Dov wurde ubel vor Angst. Er glaubte, sich erbrechen zu mussen. Doch er unterdruckte es und bemuhte sich krampfhaft, Haltung zu bewahren.
Die Viererreihe, in der sich Dov befand, war am Ende des Bahnsteigs angelangt und betrat den Raum. Sie teilte sich in vier Einzelreihen, und jede Reihe bewegte sich auf einen Tisch zu, der am Ende des Raumes stand. An jedem dieser Tische sa? ein SS-Arzt, und hinter jedem dieser Arzte stand ein Dutzend SS-Leute. Dov konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Tisch vor sich und versuchte, dahinterzukommen, was hier vorging. Der Arzt musterte jeden, der bei seinem Tisch ankam, mit einem fluchtigen Blick und schickte ihn dann in eine von drei Richtungen.
Der erste dieser drei Wege fuhrte durch eine Tur rechts. Dov begann zu zahlen: auf je zehn Menschen kamen sieben, die durch diese Tur rechts geschickt wurden. Das waren alte Leute, Kinder oder Kranke. Da Dov vermutete, da? die Gebaude auf der rechten Seite die Gaskammern enthielten, folgerte er, da? diejenigen, die durch die rechte Tur geschickt wurden, sofort vergast werden sollten.
Der zweite Weg fuhrte durch eine Tur links. Durch diese Tur ging es nach drau?en auf die Stra?e, wo die Wagenkolonnen warteten. Auf jeweils zehn kamen etwa zwei, die dort hinausgeschickt wurden, und das waren alles Leute, die noch einigerma?en bei Kraften zu sein schienen. Dov schlo? daraus, da? diese Leute in ein Arbeitslager kamen.
Die Tur rechts bedeutete also Tod, die Tur links das Leben! Es gab auch noch eine dritte Gruppe. Diese Leute, auf jeweils zehn oder auch zwanzig kam hochstens einer, waren meistens schone junge Frauen und Madchen. Auch einige hubsche Jungens, so um die funfzehn, wurden dieser Gruppe zugeteilt.
Dov holte ein paarmal tief Luft, wahrend die Reihe, in der er stand, sich langsam vorwartsbewegte. Er war nur noch Haut und Knochen, und es war ihm klar, da? er kaum Aussicht hatte, durch den Ausgang links in ein Arbeitslager geschickt zu werden.
Der Arzt besah sich ein Opfer nach dem anderen und wiederholte monoton: »Rechts — rechts — rechts — rechts.«
Dov Landau kam an den Tisch und blieb davor stehen. Der Arzt sah Dov fluchtig an und sagte: »Rechts!«
Dov lachelte und sagte seelenruhig: »Ich glaube, Herr Doktor, Sie irren sich. Ich bin namlich Spezialarbeiter — Fachmann fur Falschungen. Schreiben Sie Ihren Namen da auf das Stuck Papier, dann werde ich es Ihnen beweisen.«
Der Arzt lehnte sich verblufft in seinem Stuhl zuruck. Dovs Kaltblutigkeit imponierte ihm. Der Knabe wu?te offensichtlich genau, was ihm bevorstand. Der monotone Todesmarsch stockte plotzlich. Dann fa?te sich der Arzt und lachelte hohnisch. Zwei SS-Manner ergriffen Dov und schleppten ihn fort.
»Halt!« rief der Arzt. Er sah Dov noch einmal an und befahl ihm, wieder an den Tisch zu kommen. Sicher versuchte der Junge nur zu bluffen. Der Arzt war schon entschlossen, Dov durch die Tur nach rechts zu schicken, doch dann gewann seine Neugier die Oberhand. Er nahm einen Block und kritzelte seinen Namen darauf.
Dov schrieb sechs Wiederholungen des Namenszuges auf den Block und gab ihn zuruck. »Konnen Sie mir sagen, welche davon Ihre Unterschrift ist?« fragte er.
Ein halbes Dutzend SS-Leute sah dem Arzt uber die Schulter und machte erstaunte Augen. Der Arzt warf nochmals einen Blick auf Dov und sagte dann leise etwas zu einem der SS-Leute, der sich daraufhin entfernte.
»Bleib da an der Seite stehen«, sagte der Arzt.
Dov blieb neben dem Tisch stehen und sah die Reihe der Menschen herankommen, von denen pro Minute vier zum Tode verurteilt wurden.
Funf Minuten vergingen. Zehn Minuten vergingen. Die Schlange, die sich vom Bahnsteig hereinwand, schien ohne Ende.
Der SS-Mann kam mit einem anderen zuruck, der ein hohes Tier zu sein schien, denn seine Brust war bedeckt mit Orden und Ehrenzeichen. Der Arzt ubergab dem Offizier den Block mit den Unterschriften, die dieser sich fast eine Minute lang aufmerksam ansah.
»Wo hast du das gelernt?« fragte er.
»Im Warschauer Ghetto.«
»Was kannst du?«
»Ich kann Passe falschen, Ausweise, Formulare, Banknoten — alle Arten von Dokumenten.«
»Komm mit.«
Dov ging durch die linke Tur hinaus. Als er in dem Lastwagen sa?, der zum Lager Auschwitz fuhr, erinnerte er sich daran, was sein Bruder Mundek gesagt hatte. »Wenigstens einer von der Familie Landau mu? mit dem Leben davonkommen.« Kurz darauf fuhr der Lastwagen durch den Haupteingang des Lagers Auschwitz. Uber dem Eingang hing ein Schild: ARBEIT MACHT FREI.
Meilenweit erstreckten sich die holzernen Baracken des Hauptlagers durch das schlammige Gelande, Block neben Block, voneinander getrennt durch hohe Wande aus elektrisch geladenem Stacheldraht. In diesen Baracken hausten die Arbeitskrafte, mit denen an die drei?ig zusatzliche Zwangsarbeitslager versorgt wurden. Alle Lagerinsassen trugen einen blau-wei? gestreiften Straflingsanzug und auf der linken Brustseite und am rechten Hosenbein ein farbiges Dreieck: bei den Homosexuellen war das Dreieck rosa, bei den »Asozialen« war es schwarz, bei den Kriminellen grun, bei den Bibelforschern violett, bei allen »Politischen« rot, und bei den Juden war es der traditionelle Davidstern. Au?erdem bekam Dov, genau wie alle anderen in Auschwitz, noch ein weiteres Erkennungszeichen: eine Nummer, die auf seinen linken Unterarm tatowiert wurde. Dov Landau war jetzt ein blau-wei? gestreifter Jude mit der Nummer 359195.
ARBEIT MACHT FREI.
Dov Landau beging in Auschwitz seinen vierzehnten Geburtstag, und sein Geburtstagsgeschenk war die Tatsache, da? er noch lebte. Verglichen mit den vielen Tausenden der anderen Haftlinge war sein Los nicht einmal das schlechteste, denn er und die paar anderen Falscher gehorten sozusagen zur Elite. Seine Arbeit bestand darin, Ein- und Funf-Dollar-Noten zu falschen, die fur Agenten der deutschen Spionage im Westen gebraucht wurden. Und doch fragte sich Dov nach einiger Zeit, ob es nicht besser gewesen ware, in Birkenau zu sterben.
Hier in Auschwitz war die Ernahrung vollig unzureichend. Die zu Skeletten abgemagerten Haftlinge wurden unbarmherzig an die Arbeit getrieben. Funf Stunden Schlaf, die man ihnen zugestand, mu?ten sie eng zusammengepfercht auf Brettern verbringen. Epidemien brachen aus. Die Lagerinsassen wurden gequalt, geschlagen, gefoltert, in den Wahnsinn getrieben, erniedrigt. Sie waren allen uberhaupt nur denkbaren Grausamkeiten ausgesetzt. Jeden Morgen fand man Dutzende, die sich erhangt oder ihrer Qual ein Ende gemacht hatten, indem sie in den elektrisch geladenen Stacheldraht gerannt waren. Die Strafkompanie lebte in dunklen Einzelzellen und wurde mit versalzenem Gemuse uberfuttert, das einen unstillbaren Durst hervorrief.
Hier in Block X benutzte Dr. Wirth Frauen als Versuchskaninchen und Dr. Schumann sterilisierte sie durch